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1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland
„Eine einseitige Liebeserklärung“

Aus dem Jahr 321 stammt der erste Beleg für eine jüdische Gemeinde im heutigen Deutschland. Für Jüdinnen und Juden ist das ein Anlass zum Feiern und zum Erinnern. Ein Grund zum Jubeln sei das Jubiläum aber nicht: zu traurig sei die jüdisch-deutsche Geschichte – und oft auch die Gegenwart.

Von Christian Röther | 06.01.2021
Europas größter Chanukka-Leuchter ist am 12.12.2017 in Berlin vor dem Brandenburger Tor zu sehen.
Gemischte jüdische Gefühle angesichts eines Jubiläums: „Ein Wunder, über das wir uns freuen sollten“ oder "traurige Bilanz"? (Gregor Fischer/dpa)
Ben Salomo, ein jüdischer Rapper aus Berlin, singt das Schma Jisrael, einen wichtigen Text aus der Thora. Darin heißt es: "Höre Israel! Der Ewige, unser Gott, der Ewige ist eins." Es ist eine moderne Variante des jüdischen Bekenntnisses zum einen Gott. Dieses Bekenntnis sprechen Jüdinnen und Juden hier, wo heute Deutschland ist, schon seit sehr langer Zeit: seit 1700 Jahren - mindestens.
"Ja, es ist schon beeindruckend, dass wir es verbrieft haben, dass es seit dem Jahr 321 jüdisches Leben in Deutschland gibt. 700 Jahre, bevor es Deutschland als solches als Begrifflichkeit überhaupt gibt", sagt Julian-Chaim Soussan, orthodoxer Rabbiner in Frankfurt am Main.
7-armiger Leuchter, 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland

"Ganz viele Anlässe, traurig zu sein"

Für das Jahr 321 belegt ein Edikt des römischen Kaisers Konstantin, dass damals Juden in der römischen Stadt lebten, die heute Köln heißt. Doch Julian-Chaim Soussan blickt mit gemischten Gefühlen auf das Jubiläum "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland":
"Bei ‚Jubiläum‘ denkt man ja eigentlich an Jubeln. Und so ein bisschen ist natürlich immer auch ein komisches Erinnern. Wenn wir an 1700 Jahre jüdische Geschichte denken, dann gab es eben einfach ganz viele Anlässe, auch traurig zu sein, oder auch schlimme Dinge in der Geschichte zu erleben: Pogrome, Juden hatten keine gleichen Rechte. Das Mittelalter ist geprägt von Verleumdung, Vertreibung, Ermordungen. Und dann schließlich bis hin in die Shoah. Das heißt, es gibt immer auch diese negative Seite."
Der Rabbiner Julian Chaim Soussan steht an einer Wand gelehnt in der Mainzer Synagoge im November 2012. 
Der Rabbiner Julian-Chaim Soussan (imago images / epd)
"Wir merken immer wieder, wenn wir versuchen, zum Beispiel ganz schlicht und ergreifend unsere Internetseite mit Fotos zu bestücken, dass man dann immer wieder bei Grabsteinen landet", sagt auch Susanne Talabardon. Sie ist Professorin für Judaistik an der Universität Bamberg:
"Wir sind auf der einen Seite große Fans der jüdischen Grabsteine, aber auf der anderen Seite: Wenn man immer wieder Grabsteine als lebendige Zeugen – und das sind sie ja – des Judentums vor 1933 abbilden muss, dann ist das auf der einen Seite eine total traurige Sache und auf der anderen Seite eine total wichtige Sache. Also wir leben da eigentlich in einem Paradox, was einen manchmal so ein bisschen zerreißt."

"Ein Wunder"

Für Susanne Talabardon ist das Jubiläum ein schwieriger Spagat: zum einen die Schrecken der deutsch-jüdischen Geschichte nicht zu übergehen, zum anderen das Judentum aber auch als lebendigen Teil der deutschen Geschichte zu würdigen.
"Die erste Falle ist, dass man das als ständige Verfolgungs- und Leidensgeschichte darstellt. Über die meiste Zeit gab es eben ein relativ friedfertiges Nebeneinanderher der verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Und das zweite Problem ist, dass sehr häufig pauschalisiert dargestellt wird. Und die Lebensverhältnisse und auch die Verfolgungsgeschichte waren eben regional und lokal total unterschiedlich. Dass man also die Verhältnisse meinetwegen von Würzburg auf Bamberg überträgt oder die Verhältnisse von Köln auf Trier überträgt oder von Mainz auf Speyer. Das funktioniert nicht."
Judentum in Köln: Die älteste jüdische Gemeinde nördlich der Alpen lebt
Mit den Römern kamen vor fast 2000 Jahren die ersten Juden in die Stadt am Rhein: als deren Sklaven und als freie römische Bürger, Gewerbetreibende und Lehrer. Die jüdische Gemeinde in Köln gilt als die älteste nördlich der Alpen. Das Museumsprojekt Miqua erinnert an die lange Geschichte.
Susanne Talabardon wünscht sich für das Jubiläumsjahr einen differenzierten Blick auf das jüdische Leben in Deutschland früher und heute.
Dass es hier und heute trotz allem noch und wieder ein lebendiges Judentum gibt, das nennt Julian-Chaim Soussan ein Wunder: "Ein Wunder, über das wir uns auch freuen sollten, und das dann gebührend auch tatsächlich würdigen."

Globaler Einfluss deutscher Juden

In der Geschichte des Judentums in Deutschland gebe es vieles, was im Jubiläum gewürdigt werden sollte, sagt der orthodoxe Rabbiner. Denn deutsche Juden wirkten oft über deutsche Grenzen hinaus, waren weltweit einflussreich.
Soussan: "Überall auf der Welt gibt es Menschen, die große Bibelkommentatoren, die hier in Deutschland gewirkt haben, zitieren – bis heute. Unter anderem Raschi, also ein Rabbiner, der eigentlich aus Frankreich stammte, aber hier in Worms gewirkt hat. Es gibt den Rabbi Gerschom Me'Or Hagolah, der unter anderem das Briefgeheimnis im 11. Jahrhundert verschriftlicht hat und auch die Monogamie für europäisches Judentum eingeführt hat – und ähnliches mehr."
Durch Entwicklungen in Deutschland seien das konservativere und das orthodoxe Judentum wesentlich mitgeprägt worden.
Soussan: "Es gibt Juden in der ganzen Welt, die auch gerne über Frankfurt beispielsweise extra fliegen, damit sie hier die Gräber von berühmten frommen Rabbinern besuchen können. Also, da gibt es zum Beispiel den Baal Shem Tov von Michelstadt. Oder aber auch den Rabbiner Hirsch, der Begründer der Neo-Orthodoxie."
Und auch das liberale Judentum hat wichtige Wurzeln in Deutschland – im Harz, in Hamburg, in Berlin. Diese zunächst deutsche Bewegung hat vieles im Judentum grundlegend reformiert – vom Umgang mit den Geboten über den Gottesdienst bis hin zu den Geschlechterrollen. Heute ist das liberale Judentum in vielen Ländern der Welt verbreitet.
Soussan: "Die Reformbewegung ist ja in Deutschland entstanden, die jüdische Reformbewegung, Anfang des 19. Jahrhunderts. Sie war ja auch der Versuch, zu sagen, wir sind gute Deutsche, aber wir unterscheiden uns nur in der Religion – wir sind aber Teil dieses deutschen Volkes. Und diese Haltung führt dazu, dass über 100.000 Juden im Ersten Weltkrieg kämpfen – 10.000 davon freiwillig. Also dieses Gefühl: Man will deutsch sein, man möchte dazugehören. Ich würde das als eine einseitige Liebeserklärung bezeichnen."

"Synagogen, Museen, wie ausgestopft"

Ich leb schon ne Ewigkeit in diesem Land
das Land, für das sich Deduschka entschieden hat
ich war noch klein, wurde nicht gefragt
von der gemeinsamen Geschichte hab ich nichts geahnt
(Ben Salomo – Deduschka)
Auch der Rapper Ben Salomo hat ein Lied beigesteuert zum Jubiläum. Es heißt "Deduschka", auf Deutsch "Großvater". Ben Salomo heißt mit bürgerlichem Namen Jonathan Kalmanovich. Er wurde in Israel geboren und kam als kleiner Junge mit seinen Eltern nach Deutschland, wo sein Großvater lebte.
Wie viele Mahnmale braucht es noch
Bis uns die letzte Träne aus den Augen tropft?
Jüdisches Leben – genau genommen:
Synagogen, Museen, wie ausgestopft
(Ben Salomo – Deduschka)
Ben Salomo: "Man muss ja ganz klar sagen: Also es gibt in Deutschland mehr Synagogen, die zu Museen umfunktioniert wurden, als Synagogen, wo tatsächlich lebendiges Judentum stattfindet."
"1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland", das ist für Ben Salomo deshalb nicht wirklich ein Grund zur Freude: "Genauso ist es halt auch mit diesen ganzen Stolpersteinen, die wir auf dem Boden finden, oder eben unzählige denkmalgeschützte Friedhöfe. Da ist halt einfach wirklich ein Aspekt dabei, der mich dazu führt, sehr kritisch diese Sache zu betrachten. Wenn man da so hört: ‚Jüdisches Leben ist erblüht.‘ Was ist das denn für ein Erblühen, wenn jüdische Kindergärten und Synagogen eigentlich nicht stattfinden können, ohne dass es Polizeischutz gibt?"
Oder hinter schusssicherem Panzerglas
Bereit für den nächsten, der einen Anschlag plant
Warten auf das nächste Massaker
Als Israelkritik getarnt – das darf man ja
(Ben Salomo – Deduschka)

Eine zerrissene Bilanz

Ben Salomo: "Die deutsche Mehrheitsgesellschaft muss einiges noch an sich arbeiten, damit wirklich echt jüdisches Leben hier eine Chance hat - auch außerhalb dieser Ghettomauern und Zäune zu existieren. Und das ist natürlich eine traurige Bilanz, die man ziehen muss, wenn man auch noch diese Geschichte hat, die Deutschland hat."
Deduschka, Du hast ihnen vertraut,
doch Dein Vertrauen wurde jäh missbraucht
Deshalb warst Du niemals hier zuhaus
Seit siebzehnhundert Jahren nicht, ist das zu glauben
und wenn mich einmal meine Enkel fragen
Sabale, wie war es in Deinen Kindertagen?
Dann werde ich meinen Enkeln sagen:
Nie wieder lassen wir uns verjagen.
(Ben Salomo – Deduschka)
Seit 1700 Jahren hier zuhause - und zugleich auch nicht zuhause, singt Ben Salomo. Es ist eine zerrissene Bilanz zu 1700 Jahren Judentum in dem Gebiet, das heute Deutschland heißt.
"Es wäre für mich ein Erfolg, wenn wir sagen könnten eines Tages, dass es normal ist, als Jude in Deutschland zu leben. Dass man ein normales Leben führen kann", sagt Andrei Kovacs. Er ist leitender Geschäftsführer des Vereins "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland". Der Verein organisiert das Jubiläum mit hunderten Veranstaltungen. Ein Erfolg des Jubiläumsjahres wäre es für Andrei Kovacs:
"Dass jüdisches Leben einfach respektiert wird. Dass man weiß, was sind jüdische Feiertage. Und dass man eine gewisse Empathie entwickelt oder hat füreinander. Einfach Normalität im Zusammenleben. Wenn wir dazu beitragen könnten, das wäre schon ein Riesenerfolg des Festjahres."
Galina Tchechnitskaia macht mit bei "Meet a Jew"
Initiative Meet a Jew: "Wir sind Menschen wie alle anderen auch"
Sie gehen in Schulen, Sportvereine, Kirchengemeinden: Mehr als 300 Jüdinnen und Juden wollen dazu beitragen, das verzerrte oder falsche Bild von "den Juden" aufzubrechen. Im persönlichen Gespräch wollen sie vermitteln: "Die Gesellschaft ist bunt, und wir sind ein Teil in diesem Spektrum."
Deshalb wollen Andrei Kovacs und sein Team auch viele Veranstaltungen organisieren, bei denen sich jüdische und nicht-jüdische Menschen begegnen können – etwa an jüdischen Feiertagen.
"Sodass Barrieren abgebaut werden und Ängste abgebaut werden und Mystiken abgebaut werden, die vielleicht Menschen haben, wenn es um jüdische Feiertage geht, wenn es um jüdische Religion geht."

Das weltgrößte Laubhüttenfest

Wegen der Corona-Pandemie sind solche Begegnungen zunächst wohl nur online möglich. Aber Andrei Kovacs und seine Mitstreiter hoffen, dass sie im September ein echtes analoges Fest feiern können: Sie nennen es Sukkot XXL – das größte Laubhüttenfest der Welt.
Kovacs: "Wir erinnern an den Auszug aus Ägypten. Aber auf der anderen Seite ist es auch eine Art Erntedankfest."
"Sukkot, also das Laubhüttenfest, hat ja auch eine Botschaft, die sich nicht nur auf jüdische Befindlichkeiten oder jüdische Erfahrungen beschränkt. Sondern die generelle Gefährdung des menschlichen Lebens, die Abhängigkeit voneinander und von der Natur, die ja also auch in diesem Laubhüttenfest mit drinsteckt, ist ja eine Botschaft, die man über die Grenzen der jüdischen Denomination hinaus ganz gut vermitteln kann", findet auch Susanne Talabardon, Judaistik-Professorin aus Bamberg.

"Die nächsten 1700 Jahre gemeinsam gestalten"

Wenn über hundert jüdische Gemeinden im September Laubhütten bauen und sie öffnen auch für nicht-jüdische Gäste, dann ist das also eine Einladung. Eine Einladung an die Menschen in Deutschland, das Judentum besser kennenzulernen und sich mit einer Religion vertraut zu machen, die es hier seit mittlerweile 1700 Jahren gibt.
"Ein Erfolg wäre aus meiner Sicht das Jubiläum dann, wenn es dazu beiträgt, dass jüdische Werte, jüdisches Verständnis auch der Historie in die Gegenwart und in die Zukunft wirkt", sagt der orthodoxe Rabbiner Julian-Chaim Soussan:
"Und wenn wir das schaffen, wenn wir dieses Jubiläum nutzen, um das als Auftrag zu verstehen des Miteinanders – ja, eine Gesellschaft zu bauen, zu schaffen, in der wir die nächsten 1700 Jahre gemeinsam gestalten können, in ja eben nicht nur Toleranz, sondern Akzeptanz und Freude über das Anderssein, ich glaube, dann hat das Jubiläum was gebracht."