Freitag, 19. April 2024

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1871 geboren
Marcel Proust - Hasardeur des Beschreibens

Mit seiner siebenbändigen "Suche nach der verlorenen Zeit" schuf Marcel Proust vom Krankenbett aus, ein detailliertes Abbild seines subjektiven Universums - und einen Gipfel der Weltliteratur des 20. Jahrhunderts. Vor 150 Jahren wurde er geboren.

Von Christian Linder | 10.07.2021
    Der französische Schriftsteller Marcel Proust posiert entspannt auf einem Sofa - Fotografie von Otto-Pirou in einer Reproduktion, circa 1900.
    Marcel Proust um 1900 (picture alliance / Mary Evans Picture Library)
    Wovon Marcel Proust erzählte, hat später sein geistig verwandter Nachfolger Jean-Marie Gustave Le Clézio so zusammengefasst:
    »Die Hölle jener Erinnerung, jener gebleichten, leicht angestärkten Erinnerung, dieses Zurückdenkens an die Zeit der Augen, die sich öffnen. Das Leben von einst, die Ruhe, die auf den karierten Seiten der Schulhefte geschrieben stand, das Zartgefühl, der Egoismus, das Glück."

    Zwei Höllen-Erlebnisse

    Bevor Proust im Schreiben der sieben Bände seines Romans »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« das jubilierende Glück genießen konnte, die Souvenirs d‘enfance, seine Kindheitserinnerungen zu bergen und in Sicherheit zu bringen, musste er mehrere Höllen-Erlebnisse überstehen. Am 10. Juli 1871 im Pariser Stadtteil Auteil in eine wohlhabende Familie hineingeboren, erlitt er als Neunjähriger bei einem Spaziergang einen schweren Asthmaanfall. Das Wissen um seine nicht heilbare Krankheit bedrohte ihn zeitlebens:
    "Das Rasseln meiner Atemzüge übertönt das meiner Feder und das eines Bades, das im Stockwerk über mir eingelassen wird."
    1905 als weiteres Höllen-Erlebnis der Tod, der über alles geliebten Mutter.
    "Und nun ist mein Herz leer, leer mein Zimmer, leer mein Leben."

    Pariser Salonlöwe

    Bis dahin lediglich als Verfasser kleiner feuilletonistischer Medaillons und vor allem als sich in den Pariser Salons dandyhaft inszenierender Flaneur aufgefallen, zog sich Proust fast vollständig vom gesellschaftlichen Treiben zurück und begann, dank des immensen Reichtums seiner Familie finanziell unabhängig, die Arbeit an seiner Suche nach der verlorenen Zeit. Er änderte auch seinen Lebensrhythmus, indem er tagsüber schlief und nachts in seinem zuletzt durch Korkwände gegen fremde Geräusche isolierten Zimmer die Tintenspur seines Lebens entwarf, mit Aufmerksamkeit vor allem für die mémoire involontaire, den unterirdischen Strom der unwillkürlichen Erinnerungen. Berühmtestes Beispiel für seine Kunst der Wahrnehmung ist die Szene, wie er Gebäck, eine Madeleine, in Tee tauchte und deren Geschmack in ihm die Erlebnisse und das Aroma seiner Kindheit wieder hervorzauberte:
    " … ein Geschmack, der mich verzückt, ehe ich ihn noch erkannt und festgestellt habe, dass es derselbe ist, den ich einstmals jeden Morgen geschmeckt hatte. Sofort ersteht mein Leben von damals, und so sind alle Leute und Gärten jener Zeit meines Lebens aus einer Tasse Tee hervorgegangen."

    Gastgeber eines Beschreibungs-Festes

    Jean-Marie Gustave Le Clézio: "Alma" - Üppiges Alterswerk eines literarischen Sonderlings
    Jean-Marie Gustave Le Clézio hat seit dem Literaturnobelpreis 2008 vor allem kurze Texte und Essays veröffentlicht. Sein neuer Roman ist eine Hymne auf die Insel Mauritius: Idyll und finsterer Umschlagplatz des Sklavenhandels. "Alma" ist aber auch die Lebensbilanz eines ewig Reisenden.
    Ein opulentes Beschreibungs-Fest voll von unerschöpflichen Bildern und Assoziationen, das Proust auf den rund 4.500 Seiten seines Romans "A la recherche du temps perdu" veranstaltet hat:
    »Eine Stunde ist nicht bloß eine Stunde, sie ist ein Gefäß, angefüllt mit Düften, Klängen, Plänen und Witterungen … Die Wahrheit beginnt erst in dem Augenblick, in dem man zwei verschiedene Dinge hernimmt, ihre Beziehung zueinander festlegt … und beide dann in einem schönen Satz zusammenfasst."
    Saul Friedländer und sein Buch „Proust lesen“
    Saul Friedländer: "Proust lesen" - Homosexualität und Judentum
    Der französische Romancier Marcel Proust wird allseits geschätzt für sein Romanwerk "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit". Was aber sagt es aus über die Identität Prousts als Jude und als Homosexueller? Der israelische Historiker und Holocaust-Überlebende Saul Friedländer geht dieser Spur nach.
    Die Besonderheit dieses poetischen Verfahrens und Ziels brachte es mit sich, dass alle Handlungen meistens bloß in den Beschreibungen stattfinden, ja die Beschreibungen die Handlungen oft sogar erst hervorbringen. Angesichts der Kühnheit und Maßlosigkeit eines solchen Projekts fühlte sich Walter Benjamin erinnert an Michelangelo, der, auf einem Gerüst stehend, den Kopf im Nacken, an die Decke der Sixtinischen Kapelle in Rom die Schöpfung malte. Der einzige Unterschied: dass der Autor der »Recherche« nicht auf einem Gerüst stand, sondern sein subjektives Universum in einem Krankenbett erschuf.

    Warum wurde der letzte "Recherche"-Band der schwächste?

    Dass Proust vor seinem Tod 1922 sein Werk beenden konnte, hat ihn sicher tief befriedigt. Er hatte sein Leben, alle Ereignisse, Personen und Orte romanhaft verwandelt und vieles auch erfunden. Aber warum war der letzte Band mit dem Titel "Die wiedergefundene Zeit" der schwächste geworden? War die Behauptung, die Zeit wiedergefunden zu haben, bloß Prousts letzte Erfindung, deren Ausführung ihm vielleicht deshalb so große Mühe machte, weil die verlorene Zeit sich niemals vollends wiederfinden lässt? Diese Frage gibt bis heute weltweit allen Proust-Lesern zu denken.