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2. Literaturfestival Odessa
An den Wunden arbeiten

Die ukrainische Hafenstadt Odessa veranstaltet ihr zweites Literaturfestival mit über 20 Autoren aus aller Welt. Das Land befindet sich in einer schwierigen Lage. Umso mehr sehen die Organisatoren und Unterstützer die Notwendigkeit, hier eine Gesprächsplattform zu etablieren - in einer Stadt, in der historisch, kulturell und auch ganz aktuell Wunden sichtbar sind.

Von Katrin Hillgruber | 02.10.2016
    Blick auf die Inschrift Odessa am Denkmal des Herzog de Richelieu am Primorsky Boulevard, aufgenommen 2011
    Inschrift "Odessa": Das 2. Literaturfestival holt über 20 Autoren in die Stadt. (picture alliance / ZB / Daniel Gammert)
    "Am Anfang war das Meer", heißt es in Ilya Kaminskys Gedichtband "Dancing in Odessa": "Wir hatten die Brandung in unserem Atem und waren uns sicher, dass in unseren Adern Meerwasser floss." 1993 emigrierte der damals 16-Jährige mit seinen Eltern nach Kalifornien. Als einer von rund 50 Gästen des zweiten Internationalen Literaturfestivals Odessa kehrte er nun in seine Heimatstadt zurück, in der alle Straßen in leichter Neigung zum Meer führen und die sowjetischen Mädchen einst die schönsten Kleider trugen, da ihnen die Seeleute die entsprechenden Stoffe mitbrachten. Die Stadt war auch stets ein Freihafen der Ideen, wie Ivan Kozlenko betont, Schriftsteller und Leiter des ukrainischen Filmarchivs Oleksandr Dovzhenko in Kiew.
    "Eine Zeit lang existierte in Odessa eine Freihandelszone. Aber dieses Territorium war durch eine Mauer und einen Wassergraben eingegrenzt. Deshalb gehörte diese Zone eher zum Meer als zur Stadt, da sie vom Festland abgegrenzt war und mit der Bewegung der Schiffe verbunden war. Wir haben heute noch eine Straße, die direkt zu dieser Grenze führt, nämlich die Porto-Franco-Straße."
    1794 auf Befehl Katharinas der Großen quadratisch angelegt, galt Odessa als die weibliche, mediterrane Antwort auf die erste russische Planstadt St. Petersburg. Festivalleiter Ulrich Schreiber machte nun das von horrenden Bausünden getrübte Erscheinungsbild der Stadt selbst zum Thema.
    Diskussion über das "Leben am Wasser"
    Die Diskussionsreihe "Leben am Wasser" erwies sich als hochaktuell. So beklagte die Indonesierin Laksmi Pamuntjak das Absterben der Meeresfauna und Flora vor der Küste von Jakarta. Die Dramatikerin Meriam Bousselmi aus Tunis reklamierte leidenschaftlich das Engagement der Golfstaaten in der Flüchtlingskrise. Amanda Michalopoulou aus Athen wiederum erinnerte an die Odyssee.
    "Die europäische Literatur beruht seit Jahrhunderten auf einem Epos, das zu unserer europäischen DNA gehört: der Geschichte von Odysseus. Bei ihm handelt es sich um den Archetyp des Flüchtlings. Wenn man ihn von Weitem an der Küste ankommen sieht, in einem schrecklichen Zustand, erinnert das an die Flüchtlinge, die heutzutage an der griechischen Küste stranden. Die Menschen sind geneigt, zu sagen: Was für ein schmutziger Flüchtling. Aber was für Geschichten hat dieser Mensch zu erzählen, was hat er erlebt? Wenn wir ihm keine Aufnahme gewähren, erfahren wir nie etwas über ihn und seine – vielleicht wunderbaren - Abenteuer."
    Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten im Osten
    Hierzulande kaum bekannt ist die Tatsache, dass es in der Ukraine selbst circa 2.000 Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten im Osten gibt. Häufig würden sie als russischsprachige Verräter betrachtet, berichtete der aus Donetsk geflohene Schriftsteller Vladimir Rafeenko.
    Gerade solche Gespräche zeichneten die zweite Ausgabe des Festivals aus und beweisen seine politische Notwendigkeit. Das befand auch Andreas Görgen, Leiter der Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes, das das Literaturfestival Odessa im Rahmen der Östlichen Partnerschaft unterstützt.
    "Ich hoffe, dass mehr und mehr auch in der Ukraine klar wird, dass das eine einmalige Gelegenheit ist, bei der eben Leute zusammenkommen, die sonst in der gegenwärtigen schwierigen Lage überhaupt nicht mehr zusammenkommen können. Es kommen eben auch Leute aus anderen Weltregionen, die auch an den Grenzen, an den Wunden ihrer Gesellschaften arbeiten. Und dafür ist es gut, an einem Ort wie hier in Odessa zu sein, der historisch, kulturell und auch ganz aktuell genau diese Wunden zeigt."