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20 Jahre Doping-Opfer-Hilfeverein
Von Zielen und Zerwürfnissen

Im März 1999 wurde der Doping-Opfer-Hilfeverein gegründet. Der Verein gab den Geschädigten des DDR-Staatsdopings eine Anlaufstelle und setzte Entschädigungen durch. Zuletzt sorgte aber vor allem ein tiefgreifender Streit um die Ausrichtung des Vereins für Schlagzeilen.

Von Jessica Sturmberg | 24.03.2019
Das am häufigsten verwendete Anabolikum im DDR-Leistungssport
Das am häufigsten verwendete Anabolikum im DDR-Leistungssport (imago / Sepp Spiegl)
Die Gräben im Streit um die Ausrichtung des Doping-Opfer-Hilfevereins sind so tief, dass ein Zusammenkommen nicht mehr denkbar scheint. Und die Frage ist warum?
Claudia Lepping: "Wir fordern die Bundesregierung und damit den Gesetzgeber auf, dass das Gesetz evaluiert wird. Wir müssen zurückkommen zu einer ordentlichen, förmlichen Begutachtung und erst dann darüber entscheiden, ob dieser millionenschwere Dopingopfer-Hilfefonds in dieser Form wirklich bestehen bleiben soll. Und bitte es geht um Steuergelder."
Claudia Lepping, ehemalige Spitzensportlerin und Gründerin zweier Antidopinginitiativen
Claudia Lepping, ehemalige Spitzensportlerin und Gründerin zweier Antidopinginitiativen (imago/Jürgen Heinrich)
Ines Geipel: "Wir haben uns als DOH jetzt wochenlang angehört, dass wir mit überhöhten Zahlen operieren. Es tut uns leid, es ist ja auch keine Freude, aber die Zahlen sind nun einmal die Zahlen. Wir haben aktuell 4, 5, 6 Erstkontakte und können es fast nicht leisten."
Ines Geipel bei der Jahresversammlung des DOH am 6.12.2018
Ines Geipel, ehemalige Vorsitzende des Doping-Opfer-Hilfe-Vereins (Deutschlandfunk / Sturmberg)
Claudia Lepping: "Leider sind Medien und Politik einer gewissen Zahlenhochstapelei aufgesessen und somit auch dem Betrug. Denn die gute gesetzgeberische Absicht wurde schlicht ausgebeutet."
Ines Geipel: "Es ist eine Sauerei, diese Kriminalisierung von Menschen, die fast nicht aus der Wohnung kommen, die nicht über den Tag kommen. Unsere gesellschaftliche Energie müsste doch in die Richtung gehen zu sagen, was können wir tun, damit diese Menschen besser ins Leben kommen, stattdessen diskutieren wir hier seit Wochen über Trittbrettfahrer."
Zwei Frauen, die sich dem Anti-Dopingkampf verschrieben haben, stehen sich inzwischen unversöhnlich gegenüber. Die beiden früheren Leichtathletinnen Claudia Lepping, viele Jahre als Journalistin, später als Pressesprecherin tätig, und die Schriftstellerin Ines Geipel, jahrelange Vorsitzende des Doping-Opfer-Hilfevereins DOH.
Riss zwischen Anti-Doping-Kämpfern
Und nicht nur zwischen den beiden ehemaligen Sprinterinnen geht inzwischen der tiefe Riss. Dieser reißt inzwischen nahezu sämtliche hochverdiente Anti-Doping-Kämpfer auseinander, die einst miteinander um die gute Sache stritten.
Die gute Sache – das ist zum einen Aufklärung darüber, wie im Wettkampf der Systeme Doping brutal genutzt wurde, in der DDR systematisch von oben verordnet mit dem Staatsplan 14.25, im Westen systemisch, von oben gefördert, dabei weniger durchstrukturiert. Die gute Sache ist zum anderen, wie Athleten, die gesundheitliche Schäden davontrugen, geholfen werden kann.
Aber wie kam es zu dem Riss, der Beobachtern, die den Anti-Doping-Kampf seit Jahren verfolgen, Rätsel aufgibt?
"Dem Anliegen der Dopingopfer verpflichtet"
Die Arbeit des Doping-Opfer-Hilfevereins begann im März 1999. Nach der Gründung des DOH gab es in den Räumen des Mitteldeutschen Rundfunks eine Pressekonferenz, in der die Ziele des Vereins von der moderierenden mdr-Pressesprecherin Susann Knoll so vorgetragen wurden:
"Zum großen Teil wussten die Athleten ja selbst überhaupt nichts darüber, was sie da an Dopingsubstanzen einnehmen und welche gesundheitlichen Schädigungen damit verbunden sind. Die aktiven Sportler sind entsprechend aufgebracht, denn sie fühlen sich natürlich der Fairness verpflichtet und durch manipulierte Konkurrenten um ihren Erfolg gebracht.
Diesem Gesamtkomplex will der neugegründete Doping-Opfer-Hilfeverein Rechnung tragen. Er will sich dem Anliegen der Dopingopfer verpflichtet fühlen. Der Doping-Opfer-Hilfeverein will Partner sein für geschädigte Athleten, denen er Spezialisten aus Wissenschaft und Medizin empfehlen will, Gutachten und Therapien möchte er aus Spenden finanzieren. Er möchte über Gefährdungen unter politischen, ethischen und medizinischen Aspekten aufklären und er möchte so zur Lobby für aktive Athleten wachsen, die ihren Sport auch künftig sauber und ohne Dopingsubstanzen ausüben wollen."
"Wichtig, um Klarheit zu bekommen"
Eines der Gründungsmitglieder war damals Andreas Krieger, geboren als Heidi Krieger, die als Kugelstoßerin mit 16 Jahren massiv mit Hormonen gedopt wurde und ab 1994 eine Geschlechtsumwandlung vornahm. Aus Heidi wurde Andreas Krieger, der seine persönliche Geschichte öffentlich machte, vor allem um andere zu warnen. Er sagte:
"Es ist wichtig, dass darüber gesprochen wird. Es ist nicht nur wichtig, um eine Aufarbeitung zu bekommen und eine Klarheit zu bekommen, was wurde gemacht. Es ist wichtig für mich ganz persönlich, dass es unter anderem auch die Eltern von Sporttreibenden Kindern oder Jugendlichen regelrecht ins Gesicht gebrüllt wird – Passt auf, was eure Kinder nehmen. Passt auf, was eure Kinder in diesem Sportverein, in was auch immer Einrichtungen Sport treiben, zu sich nehmen."
Andreas Krieger (2011)
Andreas Krieger (2011) (imago)
Sein Appell wachsam zu sein, lag ihm wohl auch deswegen so am Herzen, weil er sich selbst so betrogen sah: "Bei uns war es so, dass sie gesagt haben, das waren unterstützende Mittel. Unterstützende Mittel waren in dem Fall Hormone. Kein Aas hat gefragt, was das ist. Kein Aas wurde darüber aufgeklärt, kein Arzt hat Dir gesagt, was Du da bekommst.
Unterstützende Mittel ist sehr breit, das geht von Vitaminen bis sonst wohin. Aufklärung ist für mich der wichtigste Punkt in dem Fall."
Andreas Krieger stiftete seine Goldmedaille von den Europameisterschaften 1986 in Stuttgart als Preis, den der Doping-Opfer-Hilfeverein später ungefähr im Rhythmus von zwei Jahren an Menschen verlieh, die sich im Anti-Doping-Kampf verdient gemacht haben. 2014 ist die Auszeichnung in Anti-Doping-Preis umbenannt worden.
"Schädigungen der Leibesfrucht"
Eines der Anliegen im März 1999 war auch den Blick zu richten auf geschädigte Kinder von Dopingopfern. Gründungsvorsitzender Klaus Zöllig, Chirurg und Sportmediziner aus Weinheim, machte damals darauf aufmerksam:
"Mir sind 4 oder 5 Fälle bis jetzt bekannt, wo eindeutig nachweisbar ist, dass die Mutter, teilweise auch der Vater unter hohen Androgendosen standen und wo es dann zu Schädigungen der Leibesfrucht gekommen ist. Die Kinder wurden geboren mit Missbildungen. Diese Kinder sind völlig unschuldige Opfer, da kann man auch nicht mehr mit dem Aspekt reinbringen, die haben ja gewusst was sie tun. Und die fallen zwischen alle Stühle. Da ist die Sporthilfe nicht zuständig. Ja wer ist denn eigentlich zuständig? Ich denke das ist ein Ansatzbereich, wo wir in jedem Fall ein Betätigungsfeld kriegen."
Der Mediziner Klaus-Dieter Zöllig in seinem Büro in Weinheim (2011)
Der Mediziner Klaus-Dieter Zöllig in seinem Büro in Weinheim (2011) (Christian Jung/picture alliance / dpa)
In den Folgejahren gab es viele Felder, in denen sich der DOH betätigte: Die Menschen hinter und rund um den Verein trugen die Anliegen der Dopingopfer in die Gesellschaft, machten deutlich, wie es im Leistungssport zuging, warum bei dopenden Athleten gerade in der DDR der Begriff Opfer in den meisten Fällen angebracht war und sie stritten um staatliche Entschädigungszahlungen.
Die DDR hatte nachweislich einen Staatsdopingplan, der über zwei Jahrzehnte etwa bis zu 15.000 Kaderathleten umfasste. Die einen haben gewusst, dass die Pillen und andere Mittel leistungssteigernd waren, oder sie merkten bzw. ahnten es im Laufe der Zeit, andere hatten keine Ahnung, nicht einmal, dass sie überhaupt etwas bekamen – über die gesundheitlichen Risiken wurde nicht aufgeklärt.
Schließlich ging es um Medaillen. Um jeden Preis. Viele ehemalige Athleten der DDR litten in den Jahren nach ihrer aktiven Karriere an Krebs, an Schädigungen der Nieren oder dem Herzen, so wie der Kugelstoßer und Diskuswerfer Gerd Jacobs, der im Alter von 44 Jahren ein Spenderherz bekam und ein paar Jahre später erzählte:
"Angefangen hat es 1998, als ich die ersten Probleme bekam und innerhalb einer kurzen Zeit die Untersuchung kam, dass der Herzmuskel geschädigt wurde und von diesem Zeitpunkt an, also ab 1999/2001 ging es von Jahr zu Jahr immer schlechter und das führte dann dazu, dass ich im Jahre 2003 aus dem Beruf ausscheiden musste und praktisch dann von August 2003 verrentet wurde."
Gerd Jacobs (2009)
Gerd Jacobs (2009) (imago)
Gerd Jacobs starb vor gut drei Jahren. Woraufhin der Heidelberger Molekularbiologe und Doping-Experte Werner Franke zusammen mit dem DOH Strafanzeige stellte wegen Körperverletzung mit Todesfolge u.a. gegen Jacobs früheren Trainer Werner Goldmann. Der hatte bis zur seiner Rente 2013 Diskuswurf-Olympiasieger Robert Harting trainiert.
Der Tod von Gerd Jacobs sei einer dieser Fälle von Spätfolgen, die erst heute deutlich würden, sagt Franke:
"Das Auftreten von Herzkrankheiten, die man so vorher gar nicht kannte, Kardiomyopathien, Herzerkrankungen und irgendwann dann, während des Sports, aber eben auch noch bis zu Jahrzehnte später – das Herz 70 Mal in der Minute schlägt es. Das ist jetzt ein klarer Fall, der belegt ist. Inzwischen gibt es zig, zig, zig solcher Fälle. Späte Herzerkrankungen, die tödlich enden können."
Der Doping-Experte Werner Franke am 18. November 2015 in Berlin.
Der Doping-Experte Werner Franke (dpa / picture-alliance)
Für dieses dokumentierte Staatsdoping sollte die Bundesrepublik als Rechtsnachfolgerin der DDR humanitäre und soziale Hilfe leisten. Im ersten Doping-Opfer-Hilfegesetz 2002 bekamen knapp 200 anerkannte Doping-Opfer eine Einmalzahlung von 10.500 Euro. 2005 gab es nochmal Zahlungen vom DOSB und dem Arzneimittelhersteller Jenapharm, und 2016 – nachdem sich zahlreiche weitere Opfer gemeldet hatten, wurde mit dem Zweiten Doping-Opfer-Hilfegesetz der Topf nochmal gefüllt und die Antragsfrist verlängert. Im Parlament herrschte dazu weitgehend Konsens:
"Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren, die Machenschaften der DDR Diktatur wirken auch nach über 25 Jahren fort. Die Opfer des DDR Unrechtsregimes leiden noch heute. Ich spreche von den Opfern des DDR-Dopings. Einige von ihnen werden jetzt denken, wieso Opfer? Die DDR-Leistungssportler waren doch im Vergleich zu anderen DDR-Bürgern vielleicht eher privilegiert. Eine derartige Betrachtung greift allerdings zu kurz.
An dieser Stelle zitiere ich den Bundesgerichtshof, der Folgendes festgestellt hat - ich zitiere: Auch wenn die DDR Leistungssportler keine Systemgegner waren, so wurden sie doch Opfer des DDR Regimes. Wörtlich heißt es des DDR-Systems, da ihnen ohne Rücksicht auf ihren Willen und ohne ihr Wissen ihre Gesundheit abverlangt wurde," sagte der damalige Parlamentarische Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Ole Schröder.
Die Bundestagsabgeordnete Michaela Engelmeier ging noch weiter mit ihrer Forderung: "Wir brauchen eine dauerhafte Unterstützung der Dopingopfer in Form einer Rente."
Deutlich häufiger von psychischen und psychosomatischen Krankheiten betroffen
Ines Geipel, die ab 2013 dem Doping-Opfer-Hilfe-Verein in der Nachfolge von Klaus Zöllig vorstand, hatte wesentlichen Anteil daran, dass es zu diesem Zweiten Doping-Opfer-Gesetz gekommen war. Durch ihre Eindringlichkeit und Beharrlichkeit die Belange der Betroffenen immer wieder in der Politik vorzutragen.
Geipel, die als Nebenklägerin bei dem Prozess gegen DDR-Sportchef Manfred Ewald und Sportarzt Manfred Höppner aufgetreten war, dort als Dopingopfer im Urteil registriert ist, ist noch weitergegangen und hat neben der verabreichten Chemie auch die psychologische Komponente aufgegriffen:
"Unterhalb dieser Chemiegeschichte steckt sehr vieles, was Gewalt im Sport, Missbrauch, also all diese Themen, die sind stark verkoppelt. Das mussten wir selber auch erst verstehen. Und auch verstehen, warum Betroffene erst so spät mit diesen harten Geschichten kommen."
Geipel sorgte dafür, dass der vor kurzem überraschend verstorbene Stralsunder Traumaforscher Harald Freyberger und sein Schweriner Kollege, der Facharzt für Psychosomatik Jochen Buhrmann eingebunden wurden, um die Langzeitwirkungen zu erforschen.
Mitte März wurden in Schwerin Teilergebnisse dieser Langzeitstudie der Psychologen und Psychosomatiker vorgestellt, die zu dem Schluss kommen, das die ehemaligen DDR-Sportler, die sich mit Schädigungen an den DOH gewandt und an der Studie teilgenommen hatten, deutlich häufiger von psychischen und psychosomatischen Krankheiten betroffen sind als die Normalbevölkerung.
"Da sollen jetzt so Pille-Palle-Gutachten entstehen?"
Die Forscher haben sich auch zur Aufgaben gemacht zu untersuchen, inwieweit die zweite Generation im Wege der transgenerationalen Traumatransmission ebenfalls psychologisch angeschlagen sein könnte.
Irgendwo an diesem Punkt hat das Zerwürfnis der einst gemeinsam kämpfenden Anti-Doping-Fraktion begonnen oder an Fahrt zugenommen. Die Meinungen über die psychischen Folgen gehen auseinander, vor allem bei Werner Franke. Der Molekularbiologe stellt nicht infrage, dass es vor allem bei den Frauen zahlreiche Opfer gibt, aber vielmehr im internistischen Bereich.
"Wir haben entschieden, dass es sehr wohl höchstwahrscheinlich ist, dass die auffällig hohe Zahl von Kindern bei den Schwimmerinnen mit Klumpfuß daher rührt, dass die als junges Mädchen das schon gekriegt haben, ein männliches Hormon. Dann wächst die Gebärmutter nicht mehr so, dann werden sie irgendwann schwanger, dann wird das ganze zusammengedrückt auch z.B. Teile der Gliedmaße, gibt Klumpfuß. Diese Gutachten gibt es.
Es gibt ganz Wände voll Gutachten und da sollen jetzt so Pille-Palle-Gutachten entstehen? Wo das Geld nachgeworfen wird? Das kann ich als Wissenschaftler nicht gutheißen. Die brauchen dort nicht Psycholeute, die brauchen Internisten, Hormonexperten."
Dossier: "Zurück zu Wahrheit und belastbaren Grundsätzen"
Werner Franke fordert zusammen mit den drei weiteren Anti-Doping-Kämpfern Claudia Lepping, Gerhard Treutlein und Henner Misersky in einem 48 Seiten umfassenden Dossier "Schluss mit der Opfer-Politik – Zurück zu Wahrheit und belastbaren Grundsätzen". Sie sprechen von einer "Blackbox DOH". Die Kritik bezieht sich vor allem auf die Höhe der Opferzahlen. Die vier finden, Ines Geipel übertreibt, wenn sie von langen Todeslisten und 15.000 möglichen Betroffenen spricht.
Und sie stellen die Frage, was wussten die Athleten und inwieweit kann man von Zwang sprechen? Aussteigen war möglich. Henner Misersky hat als Skilanglauf-Trainer das Doping an seine Trainingsgruppe verweigert und seine Tochter Antje davor bewahrt. Beide haben das mit dem Ausschluss aus dem DDR-Leistungssport bezahlt.
Aber wer kam als stolzer Sportler wann auf die Idee? Und wenn zu welchem Preis? Verlor man nur seine Privilegien, die Möglichkeit abzutrainieren, oder auch mehr?
Wurde die Geschichte der DDR-Athleten viele Jahre hier nicht richtig erzählt? Man muss als Außenstehender genau zuhören, wer was sagt und argumentiert. In einer gemeinsam vorgetragenen Kritik der vier in der Bundespressekonferenz Ende Januar sagte Lepping:
"Und auch das flächendeckendste Zwangsdoping gab es nicht, in dem 15.000 Sportler gegen ihren Willen und gegen ihr Wissen gedopt worden sind. Im Gegenteil: es gab die Möglichkeit selber zu bestimmen, in welchem Umfang, ob überhaupt oder auch mehr als nötig zu nehmen."
"Rückfall von Aufklärung in Mythologie"
Die vier fordern bei den staatlichen Entschädigungszahlungen einen sehr viel engeren Opferbegriff, nur die einst Minderjährigen, die wirklich nichts gewusst hätten und betrogen wurden, sollten eine staatliche Entschädigung erhalten. Und dann auch nur nach genauer, medizinischer Prüfung der Schäden. Dem hält Geipel entgegen:
"Die Forderung lautet heute: wir entschädigen die Kinder im Leistungssport. In meinen Augen ist das ein Rückfall von Aufklärung in Mythologie. Als gäbe es das reine, unschuldige Kind im Sport, als wüssten wir auf einmal nicht mehr, dass ein Kind in einem System sich bewegt aus Abhängigkeit, Manipulation, Ausgeliefertsein, Ohnmacht und oft genug Gewalt. Es wächst dort hinein und es ist dann eine Sportlerkarriere. Das Kind ist mal 8, mal 12, und irgendwann ist es 16, 17 Jahre und es steigt ja aus dieser Manipulation und Abhängigkeit logischerweise nicht aus."
Wer als Doping-Opfer zu sehen ist, wird aber nicht nur im Kontext des Doping-Opfer-Hilfegesetzes und Entschädigungszahlungen hinterfragt. Es geht mittlerweile um sehr grundsätzliche Definitionen und Abgrenzungen von Zwang, von Opfer und Täter.
"Freiwilligkeit, das weise ich zurück, die bestand nicht"
Klaus Zöllig, der DOH-Gründungsvorsitzende und Sportmediziner, hat sich jahrelang mit der Thematik auseinandergesetzt, hat viele Akten gelesen, ehemalige DDR-Sportler selbst untersucht. Für ihn gibt es nicht die eine Erzählung, die die damaligen Athleten klar abgrenzen lässt, in die Kategorie Opfer oder nicht. Was alles eine Rolle spielte: Eigene Einstellung, die des Trainers und Sportmediziners, Alter, Sozialisierung und Ideologisierung im System und auch in welcher zeithistorischen Phase sich das Doping abspielte. Der Staatsplan 14.25 wurde ab 1974 umgesetzt:
"In den ersten Jahren wurde das so hochgradig geheim gehalten, dass die Jugendlichen mit Sicherheit oder die Sportler nicht genau wussten, was da passiert. Dann kamen die ersten Nebenwirkungen auf, die haben auch gemerkt, dass da was schief läuft. Dann wurden Untersuchungen gemacht im breiten Feld, d.h. es traten erste Verdachtsmomente auf. Jugendliche haben wahrscheinlich sich in kleinen Diskussionsrunden schon mal unterhalten.
Und dann gab es eben Leute, die gesagt haben, ‚Ich will das nicht‘, dafür haben wir Nachweise, die haben aber dann Repressionen hinnehmen müssen und es gab andere, die gesagt haben – nein, ich stehe hinter dem System, ich will auch Erfolg haben, ich mache weiter, auch wenn das alles nicht alles mit ganz rechten Dingen zugeht. In den späten 80er Jahren, da kann man nachweisen, dass Sportler tatsächlich aufgemupft haben, haben ihren Trainer gefragt, was nehme ich da eigentlich? Ist das gesundheitsschädlich? Und die wurden dann aber auch mit Druck über die Stasi niedergehalten."
Zölligs Schlussfolgerung: "Insofern muss man sagen, es war ein Zwangssystem. Also von Freiwilligkeit, das weise ich zurück, die bestand nicht."
"Wo Entschädigung, da Trittbrettfahrer"
Was der frühere Vorsitzende aber auch äußert sind Bedenken, was die hochgeschnellte Zahl der Opfer angeht. Diese hinterließen bei ihm den Eindruck, den er zum Ende seiner Amtszeit schon hatte, dass "die Tendenz bei einigen Dopingopfern da war, weitere Dopingopfer zu rekrutieren. Und es zeigte sich aber, dass da Leute mit sehr unklarer Anamnese auftauchten, die gehörten haben, dass man da als Dopingopfer eventuell finanzielle Vorteile hat."
Das es Trittbrettfahrer gibt, wird selbst in der Führung des DOH nicht ausgeschlossen, Ex-Volleyballerin Katy Pohl, Vorstandsmitglied, selbst schwer gesundheitlich angeschlagen, sagt dazu:
"Wo Entschädigung, da Trittbrettfahrer, ist immer möglich, Hartz IV, Trittbrettfahrer, überall. Es gibt bestimmt in jedem System Menschen, die sich irgendwo reindrängeln, um was abzufassen."
Die Frage ist in welchem Umfang. Und ob es, worauf die Kritiker hinweisen, im Interesse des DOH ist, auf möglichst hohe Opferzahlen zu kommen? Weil – so die Argumentation – damit mehr Geld erkämpft, und auch eigene Vorteile erwirkt werden könnten.
"Wir prüfen weder wohlwollend, noch lapidar"
Der Gesetzgeber hat vor allem das Leid der Menschen im Blick und in der Abwägung die Entscheidung getroffen, die Hürden nicht so hoch zu setzen, dass zwar kein Trittbrettfahrer ausgeschlossen werden kann, aber eventuell viele Opfer durch das Raster fallen könnten.
Führt das aber dazu, dass es eine Einladung zum Betrug ist? Und dass darüber hinaus die Prüfverfahren – wie es heißt "mindestens fragwürdig" sind? Geprüft werden die Anträge vom Bundesverwaltungsamt. Insgesamt wurden aus dem ersten und zweiten Doping-Opfer-Hilfegesetz knapp 900 Anträge bewilligt und 160 abgelehnt. Was sagt die Behörde zu dem Vorwurf?
Das Bundesverwaltungsamt in Köln
Das Bundesverwaltungsamt in Köln (Dlf/Sturmberg)
"Wir prüfen weder wohlwollend, noch lapidar, wir halten uns an das Gesetz, also es ist immer erforderlich, dass die im Gesetz genannten Anspruchsvoraussetzungen eben durch die Unterlagen vorgelegt werden," erklärt Basak Günay aus dem Sportreferat des Bundesverwaltungsamts.
Dazu gehören ein fachärztliches Gutachten, eine umfassende Erklärung des Antragstellers zum wann und wie der Verabreichung der Dopingsubstanzen und ein Nachweis der Zugehörigkeit zum DDR-Hochleistungssportsystem.
"Die Schicksale sind teilweise sehr bewegend"
Zudem würden die Mitarbeiter oft lange Telefonate mit den Antragstellern führen und auch einen persönlichen Eindruck bekommen, erklärt der stellvertretende Referatsleiter, Michael Lahme:
"Wir haben in dem Bereich auch schon Kollegen rausgezogen, die die Probleme mit in ihren Alltag genommen haben und darum gebeten haben, sie von dieser Aufgabe zu befreien. Die Schicksale sind teilweise sehr bewegend, so dass die Mitarbeiter, die in diesem Bereich eingesetzt sind, schon mit Tränen in den Augen auch aus den Gesprächen rauskommen und merkten, dass sie Schaden erleiden."
Und was die Mitarbeiter feststellten, bei vielen Ex-Athleten, die einen positiven Bescheid bekamen: "Dass es nicht nur um die finanzielle Hilfeleistung geht, sondern dass man mit einem Stück des Lebens auch abschließt und weiß der Staat sieht, dass man zum Opfer eines Systems geworden ist."
Ideologischer Grundsatzstreit mit destruktiver Wirkung
Vielleicht kommt der Streit um den Doping-Opfer-Hilfeverein auch gerade jetzt auf, 30 Jahre nach dem Fall der Mauer, weil die Auseinandersetzung mit dieser Zeit im DDR-Sportsystem mit dem zeitlichen Abstand bei allen Beteiligten zu einer ganz persönlichen Frage geworden ist.
Schädigungen sind da, die einen hatten Glück, dass ihr Körper mehr verkraftete, oder ihr Trainer sie vor Schlimmerem bewahrte. Anderen ist die Energie aus dem Körper gewichen.
Die Auseinandersetzungen sind inzwischen in einen ideologischen Grundsatzstreit mit destruktiver Wirkung ausgeartet. Befindlichkeiten und Eitelkeiten spielen hinein. Einige haben sich abgewandt, wollen nicht mehr reden und man fragt sich staunend: Was ist da wohl intern abgelaufen? Und wird sich das alles wieder auf eine konstruktive Arbeit zurücklenken?
"Anlaufstelle im Sport, die unabhängig von den Verbänden ist"
Im Dezember hat Ines Geipel den Vorsitz abgegeben, der Sportrechtsanwalt Michael Lehner hat übernommen. Inhaltlich will er Geipels Arbeit fortführen, er sieht nicht, dass der Bundestag zu viel Geld bereitgestellt hätte. Die gut 13,5 Millionen Euro reichten gerade aus für die Opfer, die sich mit ihren Schäden in den letzten Jahren gemeldet hätten. Das Gesetz läuft Ende des Jahres aus. 20 Jahre nach seiner Gründung sei nun Zeit, den Doping-Opfer-Hilfeverein neu aufzustellen, ihm auch einen neuen Namen und Ausrichtung zu geben.
Michael Lehner: "Ich habe schon konkrete Vorstellungen, wo der Verein hingehen soll. Aus der jetzigen Enge, die ihre Berechtigung hatte, hin zu einer Anlaufstelle im Sport, die unabhängig von den Verbänden ist und sich dem Problem des Hochleistungssportes, der völligen leistungsorientierten Unterwerfung, manchmal sehr unmenschlich, dort auch wieder Anlaufpunkt sein kann."
Sportrechtler Michael Lehner ist neuer Vorsitzender der Doping-Opfer-Hilfe (DOH). Auf der Mitgliederversammlung in Berlin wurde der 64 Jahre alte Jurist als Nachfolger von Ines Geipel gewählt.
Sportrechtler Michael Lehner ist neuer Vorsitzender der Doping-Opfer-Hilfe (DOH) (Deutschlandfunk / Sturmberg)
Der DOH will stärker mit den aktuellen Athleten zusammenarbeiten, die sich in der unabhängigen Athletenvertretung "Athleten Deutschland" zusammengefunden haben. Deren Sprecher Max Hartung kann sich eine solche Zusammenarbeit gut vorstellen:
"Unser Anknüpfungspunkt zu der Doping-Opfer-Hilfe ergibt sich durch die Themen: Von Medikamentenmissbrauch, Doping, über sexuellen Missbrauch, Gewalt, über das Ausnutzen von Machtstrukturen gegenüber Athleten. Die Themen, die uns heute ganz aktuell beschäftigen."
Düsseldorf, Deutschland, SPOBIS, Sportbusiness Kongress in Düsseldorf am 30.01.2018 Max HARTUNG Athletensprecher DOSB *** Dusseldorf Germany SPOBIS sports business Congress in Düsseldorf, Germany on 30 01 2018 Max HARTUNG athletes spokesman DOSB
Athletensprecher des DOSB Max Hartung während des Sportbusiness Kongress in Düsseldorf . (imago sportfotodienst)
Themen gäbe es genug, die Frage wird sein, welche Kraft der DOH bei seiner Neuausrichtung entwickeln kann, wenn der Riss unter den Anti-Doping-Kämpfern nicht langfristig wieder gekittet wird.