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25 Jahre friedliche Revolution
Geschichte aus Geschichten rekonstruieren

Das Durcheinander in den 90er-Jahren nach dem Fall der Mauer habe viele jüngere Ostdeutsche in besonderer Weise geprägt, sagte Johannes Staemmler, Mitbegründer der Initiative "3. Generation Ostdeutschland", im Deutschlandfunk. Damals sei kein Stein auf dem anderen geblieben. Aber erst jetzt beginne die Aneignung der eigenen Geschichte.

Johannes Staemmler im Gespräch mit Gerd Breker | 10.10.2014
    Lichtfest auf dem Leipziger Augustusplatz im Jahr 2010. Leipziger und Gäste der Stadt gestalten eine große 89 aus Kerzen. Mit dem Lichtfest erinnert die Stadt an die historische Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989. Diese Demonstration gilt als der Durchbruch für die Friedliche Revolution in der DDR.
    In Leipzig haben die Menschen mit einem Lichtfest an die friedliche Revolution von 1989 erinnert. (picture alliance / dpa / Hendrik Schmidt)
    Dirk-Oliver Heckmann: Sie galt als Wendepunkt beim Sturz des DDR-Regimes, die riesige Montagsdemonstration in Leipzig, die sich gestern zum 25. Mal jährte. Mit einem großen Festakt hat man sich gestern an den Tag erinnert. Am Abend gingen die Feierlichkeiten dann weiter.
    Johannes Staemmler hat vor fünf Jahren ein Netzwerk gegründet namens „Dritte Generation Ostdeutschland“, das sich dagegen wehrt, dass das Ende der DDR nur von älteren Männern wie Gregor Gysi oder Wolfgang Thierse interpretiert wird. Mein Kollege Gerd Breker hatte die Gelegenheit, gestern mit Johannes Staemmler zu sprechen.
    Gerd Breker: Herr Staemmler, nun sind wir fünf Jahre weiter. Wird der Osten seine Geschichte und seine Zukunft immer noch von Männern im fortgeschrittenen Alter vertreten?
    Johannes Staemmler: Es ist in den letzten fünf Jahren viel passiert. Es sind viele junge Leute an die Öffentlichkeit gegangen und ganz unverkrampft mit der Selbstbeschreibung Ostdeutsch umgegangen, und ich denke, man sieht es auch jetzt in den Podien und Foren, die zu den jetzigen Gedenktagen zusammengestellt werden, dass viele junge Stimmen zu hören sind. Ich denke, dass viel passiert.
    Breker: Ist denn die Geschichte, Herr Staemmler, aus Sicht der jungen, der dritten Generation Ostdeutschland nun eine andere?
    Staemmler: Die Geschichte ist natürlich aus unserer Sicht erst mal ein Prozess der Aneignung unserer eigenen Geschichte. Das hängt damit zusammen, dass wir vielleicht jetzt erst in dem Alter sind, wo wir Zeit genug und auch Geist genug haben, uns damit auseinanderzusetzen, wo kommen wir eigentlich her, und diese Frage, wo kommen wir eigentlich her, bezieht die DDR mit ein und bezieht auch Personen mit ein, die bis jetzt gar nicht so viel über ihr Leben in der DDR berichtet haben. Das sind unsere Eltern, das sind aber auch Lehrer und ganz vielfältige Geschichten aus der Vergangenheit, aus der wir ein Stück weit Geschichte rekonstruieren.
    Breker: Nehmen wir jetzt mal konkret den 9. Oktober in Leipzig. Damals die Angst vor einer chinesischen Lösung. Sagt das der dritten Generation Ostdeutschland heute noch was?
    Staemmler: Sehr viel! Beim Lichterfest in Leipzig ist, auch wenn das ein großes Event ist, was ein Stück weit auch künstlich ist, …
    Breker: Inwieweit künstlich?
    Staemmler: Ja, es ist ein großes Event, was eine Art Reenactment der Geschichte ist, alle gehen mit Lichtern auf die Straße. Das erlaubt es jungen Leuten aber doch, ein Stück weit von dem Geist von damals zu spüren und auch noch mal daran teilzuhaben.
    Breker: Gibt es denn in Ihrer Generation so etwas wie Dankbarkeit gegenüber denen, die damals die Wende herbeigeführt haben?
    Staemmler: Sehr, wenn ich am 3. Oktober durch meinen Facebook-Account scrolle, wie viele eigentlich sagen, ohne den Mauerfall wäre mein Leben, so wie es jetzt ist, niemals passiert. Da ist schon eine große Dankbarkeit da.
    Breker: Sie sind selber Jahrgang 1982. Sie waren bei der Wende gerade mal sieben Jahre alt. Ist für die dritte Generation Ostdeutschland nicht eher die Nachwendezeit, das was Willy Brandt das Zusammenwachsen genannt hat, das eigentliche Thema?
    Staemmler: Das ist auf jeden Fall ein sehr großes Thema für uns, denn unsere Jugend, unsere politische Bewusstwerdung, die liegt ganz eindeutig in den 90ern und reicht bis in die 2000er hinein. Und das Interessante aus heutiger Sicht ist, wenn wir Ostdeutsch sagen oder in der Debatte lesen, dann wird dieser Begriff häufig uneindeutig verwendet und beschreibt mal die DDR-Zeit und die Menschen damals, die Ostdeutschen, aber auch die Leute heute, die in den neuen Bundesländern leben. Das heißt, auch begrifflich gibt es da eine Uneindeutigkeit. Aber für uns als dritte Generation sind die 90er mit ihrem Durcheinander die prägende Zeit gewesen.
    Breker: Und wie fühlen Sie sich? Fühlen Sie sich als Ostdeutscher, oder als Deutscher?
    Staemmler: Ja das kommt immer ganz darauf an, wo ich bin. Wenn ich in der Uckermark bin, dann fühle ich mich manchmal sehr als Berliner. Wenn ich in Essen bin, dann fühle ich mich manchmal ein bisschen ostdeutsch. Und wenn ich das sage, dann freue ich mich auch, wie es den einen oder anderen irritiert, das so einfach aufs Tableau zu bringen. Und wenn ich im Ausland bin, dann spielt es manchmal gar keine Rolle, außer wenn direkt danach gefragt wird, Mensch, Du kommst aus dem Land, was es nicht mehr gibt, der DDR. Dann ist es natürlich auch auf eine ganz neue Weise spannend.
    Breker: Was unterscheidet Sie denn von westdeutschen Altersgenossen? Unterscheidet Sie was?
    Staemmler: Vordergründig unterscheidet mich nicht viel, aber in der Prägung doch einiges, denn immerhin war ich sieben Jahre lang in einem Land, was durch viel Unfreiheit geprägt worden ist. Ich bin damals nicht Pionier geworden in der ersten Klasse und wäre der Mauerfall nicht gewesen, wäre alles anders gekommen. Und die 90er in Dresden, genauso wie in Leipzig und in Potsdam, die waren anders als in Hessen oder in Nordrhein-Westfalen. Da ist quasi kein Stein auf dem anderen geblieben und diese Phase des Aufbruchs bei gleichzeitigem Niedergang der Wirtschaft, die ist doch sehr speziell und hat zumindest bei mir und ich nehme an, auch bei anderen in dieser Alterskohorte eine eigene Prägung hinterlassen.
    Heckmann: Johannes Staemmler war das, Mitbegründer des Netzwerks „Dritte Generation Ostdeutschland“. Das Interview mit Johannes Staemmler führte mein Kollege Gerd Breker.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.