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25 Jahre Mauerfall
"Ich habe gerufen: ab sofort?"

Der Journalist Peter Brinkmann war Teilnehmer der folgenreichen Pressekonferenz, die den Mauerfall vor 25 Jahren einleitete. Er habe dem SED-Funktionär Günter Schabowski damals die entscheidende Frage gestellt, sagte Brinkmann im DLF. Dadurch habe die Pressekonferenz eine ganz andere Richtung genommen - und Schabowski sei zu einer klaren Antwort gedrängt worden.

Peter Brinkmann im Gespräch mit Friedbert Meurer |
    Ein Besucher verfolgt in der Gedenkstätte Deutsche Teilung in Marienborn (Sachsen-Anhalt) die Fernsehaufzeichnung der Pressekonferenz vom 09. November 1989.
    Der SED-Funktionär Schabowski auf der besagten Pressekonferenz. (dpa / Jens Wolf)
    Der Journalist Peter Brinkmann schilderte im Deutschlandfunk die Ereignisse der Pressekonferenz am 9. November 1989. Die Frage, ab wann die neue Reiseverordnung in Kraft trete, hätten viele Journalisten gestellt, sagte Brinkmann im Deutschlandfunk. "Ich habe gerufen: ab sofort?" Dies sei die entscheidende Frage gewesen.
    Bis dato habe Schabowski nichts von "ab sofort" gesagt und habe dies auch nicht im Hinterkopf gehabt. Schabowski sei ins Schlingern geraten. "Er fand das Wort nicht in den Papieren." Die Formulierung "ab sofort" habe ihn so nervös gemacht, dass er ins seinen Unterlagen geblättert habe und diese schließlich irgendwo gefunden habe - allerdings war diese erst auf den Folgetag gemünzt. "Das bezog sich eben auf den Freitag, 10. November, 6 Uhr."
    Der Anfang des Mauerfalls
    Kurz vor Ende der Pressekonferenz teilt der Schabowski damit sozusagen versehentlich mit, dass Reisen ins Ausland ohne besondere Voraussetzungen möglich sind. «Das tritt nach meiner Kenntnis...ist das sofort...unverzüglich», verkündete Schabowski. Wenige Stunden später spielten sich vor den Grenzübergängen in Ost- Berlin tumultartige Szenen ab. Niemand weiß, ob die Grenzöffnung ein Gerücht, ein Versprecher oder tatsächlich eine gültige Entscheidung ist - auch die Genzsoldaten nicht. Als erster Übergang öffnet der Kontrollpunkt Bornholmer Straße noch vor Mitternacht. Die Massen stürmen in den Westen. Nach und nach werden auch die anderen Grenzübergänge geöffnet.

    Das Interview in voller Länge:
    Friedbert Meurer: Ein Satz verändert die Welt. Am 9. November 1989 antwortet Günter Schabowski auf der berühmten Pressekonferenz live im DDR-Fernsehen auf die Fragen der Journalisten nach dem neuen Reisegesetz, wonach Reisen in den Westen aufgehoben werden.
    "Sofort und unverzüglich" sagt Schabowski damals. Pressekonferenzen gibt es viele auf der Welt, aber die von Günter Schabowski vergisst niemand, auch nicht der damalige "Bild"-Zeitungskorrespondent Peter Brinkmann, der mit dabei war und den ich jetzt in Berlin in unserem Studio begrüße. Guten Morgen, Herr Brinkmann.
    Peter Brinkmann: Guten Morgen aus Berlin.
    Meurer: Sie sind als derjenige Journalist in die Annalen eingegangen, der Schabowski die entscheidende Frage gestellt hat, die wir, glaube ich, eben auch in dem O-Ton gehört haben: "Ab wann gilt die neue Reiseverordnung?" Wie war dieser Moment für Sie?
    Brinkmann: "Ab sofort?", rufe ich, und das war das Entscheidende. Das "Ab wann?" haben natürlich viele gerufen, aber das war eigentlich die Frage danach, wann tritt das zeitlich in Kraft. Aber das "Ab sofort!", das hatte er nicht gesagt und das hatte er auch nicht drauf, und dadurch hat die Pressekonferenz überhaupt die ganz andere Richtung bekommen, denn auf einmal musste er sagen, jawohl, es ist sofort, oder es ist erst ab morgen Früh um sechs, oder ab übermorgen, oder überhaupt nicht. Das brachte die Pressekonferenz ins Schlingern für ihn, denn er fand das Wort nicht in seinen Papieren, und dieses "Ab sofort?" hat ihn so nervös gemacht, dass er blätterte und dann irgendwo auf einem dieser Papiere fand, da steht ja "Ab sofort". Aber das bezog sich auf den Freitag, den 10. November, sechs Uhr. Ab dann hätten die DDR-Bürger sofort einen Pass beantragen können. Aber durch meine Frage, "Ab sofort?" und nicht nur "Ab wann?", sondern "Ab sofort?" bekam es diesen Drall.
    Meurer: Gibt es eine Rivalität unter den Kollegen, Herr Brinkmann? Wir haben ja den italienischen Kollegen Riccardo Ehrmann, der sagt, ich habe gefragt, wann war es. Jetzt meldet sich Ralph Niemeyer, ein Journalist, der dabei war: "Ich war es gewesen, der Brinkmann war nur lauter." Was sagen Sie?
    Brinkmann: Na ja, ich habe ja was anderes gefragt. Ich habe ja gerufen "Ab sofort?" und das war die entscheidende Fragestellung, nicht "Ab wann?". "Ab wann?" haben wir alle gerufen, habe ich auch vorne gerufen. Aber dieses "Ab sofort?", das hat ihn durcheinandergebracht.
    Meurer: Als Schabowski sagte "Sofort, unverzüglich", was ging da in Ihrem Kopf vor?
    Brinkmann: Na, ich habe gedacht, 'jetzt musst Du raus aus der Pressekonferenz und das mitteilen'. Die Zentralredaktion der „Bild"-Zeitung saß damals in Hamburg und ich hatte in meinem Auto ein großes Funknetz-Telefon, was damals völlig unüblich war, und wollte sofort durchgeben, Schabowski verkündet Reisefreiheit oder so ähnlich. Ich weiß nicht mehr genau, was ich mir da zurechtgelegt hatte. Auf jeden Fall bin ich aus der Pressekonferenz heraus, ...
    Meurer: Sie haben nicht abgewartet bis zum Schluss?
    Brinkmann: Nein. Es war jetzt gesagt, "Sofort, unverzüglich". Mein Zwischenruf "Ab sofort?" war damit beantwortet und jetzt musste die Redaktion benachrichtigt werden. Aber ich habe keine Verbindung bekommen mit dem Funknetz, weil es damals noch keine Funkmasten gab in Ostberlin. Dann bin ich zur Reichspost, um das durchzugeben, die saß im Pressezentrum unten im Erdgeschoss, und es gab keine Verbindung nach Hamburg. Es war also nicht möglich, dieses ganz schnell durchzugeben.
    Meurer: Ein unglaublich spannender Abend, Herr Brinkmann. Wir wissen ja heute, Günter Schabowski ist einem Irrtum aufgesessen. Er hat das ganz falsch interpretiert. Das SED-Politbüro wollte was doch ziemlich anderes, nämlich Ausreisen erlauben, aber nur nach wochenlanger Vorprozedur und mit Stempel und Visum. Wie konnte ihm dieser Irrtum unterlaufen?
    Brinkmann: Na ja, das war schon korrigiert worden. Krenz hatte in der Sitzung seine Vorlage handschriftlich korrigiert und dann die Schabowski in die Hand gedrückt, der nicht an der Sitzung teilgenommen hatte, also gar nicht wusste, wie der ganz kurze Diskussionsprozess im Zentralkomitee verlaufen war.
    Meurer: Wie sah die Korrektur durch Egon Krenz aus?
    Brinkmann: Der hat die Formel "zeitweilig" durchgestrichen und daraus eine wirklich sofort geltende Lösung geschrieben, die keine Vorbedingung mehr enthielt. Und so war in Punkt eins geschrieben: "Wer ausreisen will, kann das sofort machen." Und Punkt zwei enthielt die Formulierung: "Wer reisen will", also raus und wieder rein, mal eben ein Bier trinken in Westberlin, kann das auch machen.
    Meurer: Aber die SED hat ja nicht daran gedacht, dass man sofort losrennen kann, sondern die Vorbedingung: Man muss erst einen Antrag stellen.
    Brinkmann: Ja! Nicht einen Antrag, sondern man muss sich einen Pass holen und dann wird das genehmigt. Der Pass wird genehmigt. Und alle Vorbedingungen, die vorher galten, ist die Oma tot oder sonstige familiären Dinge, die waren alle weggestrichen. Es gab nur noch eine Bedingung: Jeder DDR-Bürger musste einen Pass haben. Den musste er beantragen. Das war das Gespräch auch schon im Oktober mit Schabowski und Momper: Wenn jeder DDR-Bürger einen Pass hat, kann er kommen. Dann muss er nicht mehr sagen, warum er reisen will, sondern er muss nur seinen Pass vorzeigen und dann kann er reisen. Darauf bezog sich dieses "Sofort" in der Formulierung. Die Bürger der DDR hätten ab Freitag, den 10. November, sofort einen Pass beantragen können, Bearbeitungsfrist sechs Wochen, hätte bedeutet: Zu Weihnachten wären alle nach Westberlin gekommen.
    Meurer: Das hat Schabowski dann durcheinandergeworfen.
    Brinkmann: Aber kräftig!
    Meurer: Dieses Treffen des Regierenden Bürgermeisters Walter Momper mit Günter Schabowski Ende Oktober, darüber haben wir unter anderem gestern berichtet. Das war aber, ich sage es mal, so sensationell nicht, weil bei diesem Treffen wurde angekündigt, Schabowski kündigt an, da wird ein Reisegesetz kommen. Aber das war keine Ankündigung, in ein paar Tagen fällt die Mauer, oder?
    Brinkmann: Nein, nein! Das war nun überhaupt nicht beabsichtigt. Das sagte ja auch Schabowski am Schluss der Pressekonferenz auf die Antwort des englischen Kollegen, was geschieht mit der Mauer. Er sagte, das fällt eigentlich nicht in unsere Verantwortung. Das ist in der Verantwortung der Alliierten. Die Mauer bleibt, wir machen da nur ein paar Löcher rein. Es gab nur elf Grenzübergänge in Berlin und man hätte 10, 20, 30 mehr gemacht. Das war das Hauptthema am 29. Oktober. Aber Schabowski hat gegenüber Momper ganz klar erklärt, wir geben Reisefreiheit. Das heißt, wir fragen nicht mehr, warum, wieso Du irgendwo hinfahren willst, sondern jeder Bürger, wenn er denn einen Pass hat, kann fahren, ohne dass er noch begründen muss, warum er fahren will. Das hat er dem Momper klar gesagt. Deswegen wurde ja auch schon am 30. Oktober in Westberlin vom Senat eine Arbeitsgruppe Reisen eingerichtet, dessen Leiter übrigens der heutige Kollege Werner Kolhoff ist. Der war damals Senatssprecher.
    Meurer: Eine Arbeitsgruppe Reisen in Westberlin, im Westberliner Senat?
    Brinkmann: In Westberlin. Und die haben sofort begonnen damit, zu überlegen, was braucht man, wenn zu Weihnachten 500.000 DDR-Bürger, Ostberliner nach Westberlin kommen.
    Meurer: Dann hatte man also doch mit einer riesigen Menschenmenge gerechnet, aber erst eher Richtung Weihnachten und noch nicht am 9., 10. November.
    Brinkmann: Ja! Das war ganz sachlich begründet. Am 29. saßen die zusammen, Schabowski und Momper sagten, auf beiden Seiten dauert die Passausgabe von Antragstellung bis Ausgabe sechs Wochen, dann sind wir ungefähr bei 10., 12., 15. Dezember, Weihnachten ist zehn Tage später, wie viele werden kommen, Schabowski sagt 300.000, Momper rechnete mit 500.000, dann war die Frage, wie stellt man die BVG um, wie gibt man das Geld aus ...
    Meurer: Die Berliner Verkehrsbetriebe.
    Brinkmann: Die Berliner Verkehrsbetriebe. - Dieses alles war am 9. November fertig und deswegen hat die BVG auch in der Nacht funktioniert. Nun war die Frage - auch die hat Schabowski damals schon am 29. angesprochen -, wer gibt denn den DDR-Bürgern Devisen, und Schabowski stellte sich das ganz einfach vor: Das gibt natürlich die Bundesregierung, die ja das immer will. Und so schrieb Momper nämlich einen Brief an den Bundeskanzler und unterrichtete ihn ...
    Meurer: Über die 100 Mark Begrüßungsgeld?
    Brinkmann: Nein. Die 100 Mark Begrüßungsgeld, die gab es sowieso. Sondern die Frage stellte sich: Stellen Sie sich mal vor, ein DDR-Bürger fährt nach Tegel, hat einen Pass in der Hand, kauft sich ein Ticket, hat aber kein Geld, das zu bezahlen. Also haben die sich gedacht, die Bundesregierung zahlt das mal eben.
    Meurer: Jetzt würde mich noch eines interessieren, Herr Brinkmann. Nach dieser Pressekonferenz, nach Ihren Anrufen, die Sie nach Hamburg in die Redaktion getätigt haben, was hat der "Bild"-Korrespondent dann gemacht?
    Brinkmann: Dann bin ich ins Hotel gefahren, habe mir alles angezogen, was ich noch hatte, zwei Hemden und einen Pullover und eine Jacke, denn es war ein kühler Abend, habe mir ein Taxi besorgen lassen vom Concierge, für 50 Mark West, und habe dem gesagt, wir fahren jetzt alle Grenzübergangsstellen ab, die in der Nähe sind, also Checkpoint Charlie, Heinrich-Heine-Straße, Invalidenstraße, Bornholmer Straße. Das habe ich gemacht die ganze Nacht bis drei Uhr morgens, aber die wichtigste Zeit war die zwischen halb elf und halb eins, denn da wurde die Bornholmer Straße aufgemacht und dann alle Grenzübergangspunkte, und um Mitternacht stand ich weinend, heulend unter den Säulen des Brandenburger Tores.
    Meurer: Eine historische Nacht, der 9. auf den 10. November 1989. Sonntag großes Gedenken in der Hauptstadt. Peter Brinkmann war als "Bild"-Zeitungskorrespondent bei der legendären Schabowski-Pressekonferenz dabei. Herr Brinkmann, danke, auf Wiederhören nach Berlin.
    Brinkmann: Danke auch!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.