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29.3.1929 - Vor 75 Jahren

Mich haben auch Impulse aus meiner eigenen Jugend zur Sozialgeschichte gebracht. Erzählungen meiner Großmütter über deren Zeit als Dienstmädchen in Berlin oder Erlebnisse wie der Besuch des Dorfes in Pommern, in dem mein Vater vorehelich geboren wurde und wo, wie in seiner Jugend, die Landarbeiter noch immer in Furcht vor dem Gutsherren lebten. Das hat mich stark beschäftigt.

Von Bernd Ulrich | 29.03.2004
    Die frühe Beschäftigung Gerhard A. Ritters sollte in eine fulminante historisch-wissenschaftliche Karriere münden. Als 18jähriger einer der jüngsten Studenten der Universität Tübingen, 1947 noch unter lauter eben heimgekehrten Soldaten, die das Pech hatten, ein oder zwei Jahre älter zu sein. Mit 23 Jahren promoviert, und das nicht nach stromlinienförmigen, ganz auf ein Fach konzentrierten Lehrjahren. Sie waren vielmehr grundiert durch ein studium generale, dessen Verlauf, - wie noch Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre üblich -, Zeit genug ließ, über den Tellerrand der Geschichtswissenschaft hinaus zu blicken.

    Dazu ein Promotionsthema, das 1952 noch gänzlich unüblich war: eine die Tiefen des sozialdemokratischen Milieus auslotende Studie über die Arbeiterbewegung des wilhelminischen Kaiserreiches. Wegweisend in ihren Methoden und Ergebnissen schon sie - und man ist fast versucht hinzuzufügen: wie könnte es auch anders sein? Nach seiner Doppelhabilitation für Neuere Geschichte und Politikwissenschaften erfolgte schon kurz vor seinem 33sten Geburtstag der erste Ruf auf eine Professur an der Freien Universität Berlin; davon kann das Heer der heutigen, zumeist arbeitslosen oder sich in anderen Berufen versuchenden Privatdozenten nur träumen. Doch bleibt dem so früh Erfolgreichen immerhin bewusst:

    Wenn ich älter gewesen wäre, nur um ein Jahr, dann wäre ich Soldat gewesen und würde eventuell nicht mehr leben oder wäre viele Jahre in Kriegsgefangenschaft gewesen. Das muss man einfach berücksichtigen.

    Gerhard A. Ritter, produktiver Sozialhistoriker, Mitglied diverser nationaler und internationaler Kommissionen und Akademien, versierter Wissenschaftsmanager und Organisator, unter anderem und nicht zuletzt verantwortlich für den Neuaufbau des Faches Geschichte an der Berliner Humboldt Universität nach der deutschen Einigung. Kurz: eine Art graue Eminenz der deutschen Sozialgeschichte, - die sich indessen nicht scheut, auch zu aktuellen politischen Entwicklungen wie der deutsch-deutschen Vereinigung Stellung zu beziehen.
    Die Koordinaten dieser deutschen Historikerexistenz sind die einer ganzen Generation: der so wissenschaftspolitisch mächtigen wie nun allmählich in den Herbst und Winter ihrer Wirksamkeit eintretenden "Flakhelfer-Generation” der Jahrgänge 1928 bis 1931. Den massiven Riss durch das Leben der Heranwachsenden markierte die "Stunde Null”, die große Zäsur des Jahres 1945. Im Davor der NS-Diktatur verbrachten sie Kindheit und Jugend, im Danach der deutschen "Zusammenbruchsgesellschaft" wurden sie - zumindest potentiell - zur Avantgarde des westdeutschen Wiederaufbaus, zur "Generation der vorsichtigen, aber erfolgreichen jungen Männer”, wie sie der Soziologe Helmut Schelsky genannt hat.

    Soweit es die Historiker unter diesen jungen Männern betraf, war ihr wissenschaftliches Selbstverständnis zwischen politischer Westorientierung und der methodischen Ausrichtung auf soziale Prozesse und Formationen klar konturiert. Ritter selbst hat die daraus resultierenden Erkenntnisziele so zusammengefasst:

    Wir wollten untersuchen, welche Wurzeln demokratische Parteien, der Parlamentarismus, der Rechtsstaat, später auch der Sozialstaat in Deutschland hatten und wie wir diese Traditionen zur Begründung eines neuen demokratischen Staates aktivieren können. Außerdem waren die europäische Einigung, die Sicherung des Friedens, die Überwindung von nationalen Vorurteilen und die Verständigung mit den Nachbarstaaten, die Deutschland zwei Mal in diesem Jahrhundert in den Krieg hineingerissen hatte, Fragen, die uns zunächst und vor allem interessierten. Insofern ist unsere Geschichtsschreibung sehr durch die Erfahrungen der NS-Zeit geprägt worden.

    Nein, dass sie bescheiden ist in ihren Zielen, das kann man wirklich nicht behaupten von dieser Generation. Ein anspruchsvolles Forschungsprogramm, das seinen aus der Erfahrung der NS-Diktatur gewonnenen nationalpädagogischen Impetus nicht leugnet. Und so hat denn auch einer der früheren Laudatoren Ritters zurecht davon gesprochen, dass sich in dessen wissenschaftlichem Werk die beständige, bloß thematisch variierende Arbeit an einer Theorie der Demokratie widerspiegele. Deren anhaltende Gefährdung - hervorgerufen etwa durch die Gleichzeitigkeit sozialer Unterschiede und politisch festgeschriebener Gleichheit - steht weiter auf der Tagesordnung.