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3.2.1904 - Vor 100 Jahren

In den Orchestervariationen von Luigi Dallapiccola, der heute hundert Jahre alt geworden wäre, kommt das Motiv B-A-C-H vor, das Johann Sebastian Bach gelegentlich als musikalische Signatur verwendete und mit dem ihm später viele Komponisten ihre Reverenz erwiesen. Es ist gewissermaßen Goethes Urpflanze der Musik, nämlich der minimale Kern einer chromatischen Zwölftonreihe. Nicht zufällig hat es Arnold Schönberg im Opus 31 verwendet, und Dallapiccola, ein Zwölftonkomponist der zweiten Generation, auch nicht. Noch dazu gerade in seinem für die Tochter Annalibera geschriebenen Quaderno, das an das Notenbüchlein der Anna Magdalena Bach erinnert. Die Orchesterfassung von 1954 wird hier von der Petersburger Philharmonie gespielt, dirigiert von Mario Ruffini - der genaueste Dallapiccola-Kenner und Autor des vollständigen Werkverzeichnisses.

    Dallapiccola, Sohn eines Lehrers aus dem istrischen Pisino, das damals noch österreichisch war, kam als Kind mit der Familie 1916 für zwei Jahre nach Graz, weil der Vater als italienischer Nationalist galt. Zwar weckte der Zwangsaufenthalt ein lebenslängliches Freiheitsbedürfnis, aber auch die Berufung zum Komponisten. Dallapiccola studierte in Triest. Erst spät, mit zwanzig in Florenz beim Musikalischen Mai, lernte er die Dodekaphonie kennen und Schönberg bewundern. Unter den Faschisten hatte er große Probleme: 1938 heiratete er in Florenz Laura Coen Luzzato, kurz bevor Mussolini die Rassegesetze Hitlers übernahm. Außerdem gehörte er zu den "entarteten Künstlern" - 1942 verbot die Reichsmusikkammer seine Musik in Deutschland. Laura verlor ihre Arbeit, war gefährdet. Dallapiccola reagierte mit der Komposition der "Canti di prigionia".

    Die "Gesänge aus der Gefangenschaft" sind die Vorstufe zur fünf Jahre später begonnenen Arbeit an seiner wohl bedeutendsten Oper "Il Prigioniero", der Gefangene, 1950 in Florenz uraufgeführt. Seine Diktaturerfahrungen spiegeln sich noch später in zwei anderen Bühnenwerken über göttliche Dulder: im "Hiob" von 1950 und im "Ulisse", dem homerischen Odysseus, 1968 von Lorin Maazel in Berlin uraufgeführt.

    Italiens Diktatur bis 1945 war gemildert durch Schlamperei. Dallapiccola, geistig in der inneren Emigration, kam in groteske und paradoxe Situationen: Während sich Laura verstecken musste, um nicht in einem Vernichtungslager zu enden, erhielt ihr Mann zu repräsentativen Anlässen, selbst nationalsozialistischen Staatsbesuchen in Florenz, Einladungen für zwei Personen - auch für sie. Vom Kultur- und Erziehungsminister Bottai wird Dallapiccola sogar zum Professor ernannt.

    Nach der Katastrophe des Krieges, als Europas Kulturleben wieder von vorne begann, war Dallapiccolas große Zeit. Zwar warf man seinem "Ulisse" mangelnde Bühnenwirksamkeit vor, seinen "Canti di liberazione", den Gesängen der Befreiung nach jenen der Gefangenschaft, mangelnde Unmittelbarkeit.

    Aber sein vergleichsweise nicht sehr umfangreiches Werk - vier Bühnenwerke, zwei Dutzend weitere Chor- und Vokalwerke und ein Dutzend Instrumentalkompositionen - ist so streng, so reich und vielschichtig wie nur eines. Selbst noch seine ganz späten Werke zeigen eine nicht nachlassende Schöpferkraft, so der bewegende "Commiato", der Abschied, für Sopran und Kammerensemble, 1972 für das Grazer Musikprotokoll komponiert, drei Jahre vor seinem Tod. So schloss sich der Kreis: In Graz wurde der kleine, reservierte und noble Mann für sein Gesamtwerk geehrt wie nie zuvor, in der Stadt, in der er als Kind so gelitten hatte.