Heinlein: Die Delegierten in Essen trugen Sie seinerzeit auf Händen - 96 Prozent, ein Traumergebnis. Was ist denn von dieser Anfangseuphorie jetzt übriggeblieben?
Merkel: Es war ja damals schon klar, dass der Weg über die nächsten Jahre nicht immer ein einfacher sein wird, und ich habe schon damals in meiner Dankesrede für dieses überzeugende Votum gesagt: Ich wünsche mir, dass jeder, der mich heute gewählt hat, dies dann auch in den schweren Stunden durchaus im Kopf behält. Und ich spüre heute aber auch in dem Bundestagswahlkampf wieder, dass es eine sehr große Sympathie gibt, eine sehr große Unterstützung von den Mitgliedern, viel Hoffnung und viel Engagement. Und das ist ja dann auch für die Arbeit sehr beflügelnd.
Heinlein: Was gehörte denn zu den schweren Stunden in den vergangenen 24 Monaten?
Merkel: Ja, sicherlich gehörte dazu das Erlebnis bei der Steuerreform, als wir uns mehr Geschlossenheit vorgenommen hatten. Und insofern war das eine Lehrstunde. Ich bin außerordentlich froh, dass es uns jetzt gelungen ist, in der Zuwanderungsdebatte diese Geschlossenheit hinzubekommen, und das ist ja auch sehr honoriert worden von den Menschen. Aber ich will vielleicht auch sagen, dass es gute Stunden gab - wenn ich an den Dresdner Parteitag denke, den nächsten, den wir dann hatten nach dem Essener Parteitag, dann war das schon eine überragende Veranstaltung, mit der wir uns ja auch wieder in einem Formhoch gezeigt haben.
Heinlein: Zu den persönlichen Tiefpunkten Ihrer bisherigen Zeit an der Parteispitze gehört sicherlich die Niederlage gegen Edmund Stoiber in der K-Frage. Drei Monate nach dieser Entscheidung - wie tief ist noch Ihre persönliche Enttäuschung über diese verpasste Chance?
Merkel: Das stellen Sie falsch dar. Ich habe durchaus gesagt, dass ich mir das vorstellen kann, aber ich habe dann auch sehr deutlich gemacht, dass es der sein soll mit den besseren Siegchancen - und dem Punkt der Geschlossenheit der Partei habe ich einen sehr hohen Stellenwert eingeräumt. Ich arbeite heute mit Edmund Stoiber hervorragend zusammen, wir sind ein gutes Team - er als Kanzlerkandidat, ich als Vorsitzende der großen Volkspartei CDU. Und insofern ist dieses nicht in dem Sinne eine bittere Phase jetzt, wie Sie es dargestellt haben, sondern es ist einfach jetzt eine spannende Zeit, bei der man sehr, sehr gut nach vorne blicken kann und die ich auch gerne miterlebe und gestalte.
Heinlein: 'Kantig - Echt - Erfolgreich' - so wirbt die Union für Edmund Stoiber in diesem Wahlkampf. Mit welchen Adjektiven werden Sie denn geschmückt werden?
Merkel: Das ist jetzt natürlich die Kampagne für den Kanzlerkandidaten, und insofern ist das auch nicht so, dass ich anschließend nochmal eine ähnliche Kampagne machen werde. Ich werde im Wahlkampf meine Rolle darin sehen, aber natürlich genau so die Bundesrepublik Deutschland zu bereisen, auf Veranstaltungen aufzutreten, auch in einer Sommertour mich den Leuten zu präsentieren - und was mein Anliegen ist, das ist für diese Bundestagswahl deutlich zu machen, dass jeder Bürger in diesem Lande wieder eine Stimme bekommen soll. Der Bundeskanzler Schröder hat in erschreckender Weise für einen Sozialdemokraten im Grunde eine Entwicklung eingeleitet, bei der die Großen in dieser Gesellschaft - 'Genosse der Bosse' sagt man dann ja auch - eine besonders wichtige Rolle spielen, vielleicht noch die Gewerkschaften und ihre Funktionäre, aber der Einzelne, der, der Leistung erbringt, der wirklich etwas in diesem Lande voranbringt, der fühlt sich zum Teil doch ziemlich hintenan gestellt. Und das soll sich ändern.
Heinlein: Das Label 'Erfolgreich' bezog sich in puncto Edmund Stoiber ja vor allem auf die Wirtschaftspolitik. Nun hat sein Image durch die Kirchpleite sicherlich einige Lackschäden bekommen. Wie wollen Sie denn verhindern, dass die wirtschaftspolitische Kompetenz von Edmund Stoiber in diesem Wahlkampf weiter in Frage gestellt wird?
Merkel: Die Sozialdemokraten versuchen das, aber ich widerspreche dem sehr entschieden, denn Edmund Stoiber hat mit seiner bayerischen Wirtschaftspolitik ja gezeigt, dass Arbeitsplätze immer wieder erhalten geblieben sind, neue entstanden sind. Und auch hier bei der bedauerlichen Entwicklung bei Kirch ist ja doch das Hauptanliegen, dass wir die Arbeitsplätze des Medienstandortes München erhalten. Und da, finde ich, sind recht gute Entwicklungen im Gange; das heißt, man kann überhaupt noch nicht absehen, ob Arbeitsplätze - und welche - verlorengehen. Und das ist unser Hauptanliegen, und insofern ist die wirtschaftspolitische Kompetenz von Edmund Stoiber damit nicht in Frage gestellt.
Heinlein: Aber es gibt ja noch weitere Pleiten in Bayern, zum Beispiel der Flugzeugbauer Fairchild Dornier. Wie wollen Sie denn vermeiden, dass der Glanz bayerischer Wirtschaftspolitik in Zukunft weiter verblasst?
Merkel: Ich glaube, dass die Schwierigkeiten der 30.000 Pleiten, die wir dieses Jahr insgesamt haben werden - und das sind ja nun alle 15 Minuten eine in Deutschland -, dass diese Schwierigkeiten im wesentlichen daraus resultieren, dass die Bundesregierung und der Bundeskanzler eine Politik gemacht haben, die uns wirtschaftlich nicht vorangebracht hat: Mehr Bürokratie, eine schlechte Steuerreform, die vor allen Dingen den Mittelstand benachteiligt - das hat dazu geführt, dass Deutschland insgesamt zurückgefallen ist, und deshalb ist das ein Problem auch der Rahmenbedingungen - wenngleich, das will ich noch dazu sagen, niemals Insolvenzen vollkommen ausgeschlossen werden können. Aber wir hatten noch nie so viele wie jetzt. Der deutsche Einzelhandel hat gesagt, er befindet sich in seiner schwersten Krise seit 50 Jahren. Und das hat etwas mit hohen Steuern, mit hoher Abgabenlast und mit zuviel Bürokratie zu tun.
Heinlein: Bleiben wir noch einen Moment bei der Kirchpleite. Waren denn im Nachhinein alle Milliardenkredite, vor allem der halbstaatlichen Bayerischen Landesbank, gerechtfertigt, oder wurde da versucht, auf 'Teufel komm raus' ein bayerisches Vorzeigeunternehmen voranzubringen?
Merkel: Das glaube ich jetzt nicht. Es zeigt sich ja, dass es eine Auffanggesellschaft der Banken insgesamt gibt. Und das, finde ich, ist ein Zeichen auch der gemeinsamen Verantwortung der Kreditgeber. Dabei ist die Bayerische Landesbank eine unter anderen. Das wird sicherlich jetzt auch nochmal im Einzelfall angeguckt werden. Im Zuge einer solchen Insolvenz werden dann ja auch Bewertungen vorgenommen, aber ich kann nicht finden, dass daraus sich eine besondere Verantwortung ergibt. Es ist die Aufgabe, Arbeitsplätze zu erhalten und trotzdem wirtschaftliche Effizienz natürlich nicht zu vergessen. Also, staatlicher Interventionismus ist nie richtig. Das haben wir bei Holzmann gesehen, das haben die Bayern aber auch nicht gemacht.
Heinlein: Die CSU will eine deutsche Lösung für einen Neuanfang bei Leo Kirch. Warum wäre denn Einstieg von Berlusconi oder Murdoch so schlimm für die deutsche Medienszene?
Merkel: Also, dass wir tendenziell als Bundesrepublik Deutschland sagen, wir würden uns natürlich freuen, wenn Medienbeteiligungen hier auch aus dem deutschen Raum kommen, das ist - glaube ich - emotional verständlich. Da guckt man sich zuerst um. Wir wissen von Bertelsmann, die ein breites Engagement in Amerika haben, dass auch deutsche Häuser nicht mehr allein national agieren. Das heißt, man kann sich und wird sich nun auch nicht sperren - auch Kirch war in Spanien tätig -, dass jede Form von internationaler Beteiligung, wenn sie denn vorliegt, von vornherein abgelehnt wird. Wir leben in einer globalen Welt. Aber emotional haben wir uns halt ein bisschen daran gewöhnt, dass wir auch ganz gerne deutsche Beteiligte dort sehen. Ich würde aber daraus nicht zu früh eine Prestigefrage oder eine Prinzipienfrage machen.
Heinlein: Muss ein Einstieg von Berlusconi gesetzlich verhindert werden? Dies wird ja durchaus überlegt.
Merkel: Nein, ich glaube, dazu gibt es auch überhaupt keine Möglichkeiten in der internationalen Wirtschaftsordnung. Wir sind ja Mitglied in der internationalen Handelsorganisation und wir sind in einer globalen Welt - das habe ich schon mal gesagt. Bertelsmann ist in Amerika tätig, Kirch war in Spanien tätig. Im übrigen waren Murdoch und Berlusconi mit Minderheiten ja bis jetzt auch schon beteiligt, das ist ja alles keine neue Entwicklung. Und Gesetze werden da mit Sicherheit nicht voranhelfen, sondern es geht halt darum, welche Anstrengungen können wir gemeinsam auch in Deutschland auf die Beine bringen.
Heinlein: Ein Thema, mit dem sich die Union in den letzten Tagen sehr schwer getan hat, ist die Wehrpflicht. Ihre Partei hat sich trotz kritischer Stimmen in den eigenen Reihen für ein Festhalten am bisherigen Modell entschieden; heute dazu eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes. Wie wird sich denn die Union verhalten, falls die Karlsruher Richter heute der Politik eine Abschaffung der Wehrpflicht nahelegen?
Merkel: Im Gegensatz zur Sozialdemokratie gibt es bei uns ja überhaupt keine Stimmen, die eine Abschaffung der Wehrpflicht gefordert haben in den letzten Tagen, sondern es ging lediglich um die Frage, wie lange soll die Dauer sein. Da haben wir gesagt, wir wollen an dieser Dauer jetzt überhaupt nicht rütteln - 9 Monate und 300.000 Mann für die Bundeswehr - aber insgesamt für die Wehrpflicht. Und jetzt schauen wir mal, was das Bundesverfassungsgericht hier beschließen wird und sagen wird. Das Thema Wehrgerechtigkeit ist ein wichtiges Thema, das hat auch viel mit dem Zivildienst und dem Ersatzdienst zu tun. Und ich rate dazu, dass wir das Urteil erst einmal abwarten.
Heinlein: Parallel zur Wehrpflichtdebatte überlegt die Bundesregierung die Möglichkeit eines internationalen Militäreinsatzes im Nahen Osten unter Beteiligung vielleicht sogar deutscher Soldaten. Unterstützt die Union die Möglichkeit eines solchen Bundeswehreinsatzes?
Merkel: Ich finde wirklich, dass wir nicht den dritten Schritt vor dem ersten tun sollen. Die Situation im Nahen Osten ist so aufgeheizt zur Zeit - bedauerlicherweise; es geht darum, Israels Existenzrecht zu sichern, es geht vor allen Dingen darum, die Friedensbemühungen und die Sicherheit wieder voranzubringen, den Terror einzudämmen. Und deshalb habe ich die Diskussion als doch jetzt nicht den aktuellen Schritt empfunden, sondern als etwas, was eher ein Gedankenspiel ist. Ich glaube, wir wollen jetzt erst einmal den amerikanischen Friedensbemühungen, gekoppelt auch mit europäischen Anstrengungen, Erfolg wünschen. Das ist das, was auf der Tagesordnung liegt. Und hier unterstützen wir das, was die Bundesregierung tut, vor allen Dingen aber auch, was die amerikanische Regierung tut.
Heinlein: Also hat Ihr Verteidigungsexperte Paul Breuer Unrecht, wenn er einen solchen Einsatz durchaus für möglich hält?
Merkel: Nein, Paul Breuer hat nicht Unrecht. Er hat sich zu einem Vorschlag des Bundeskanzlers geäußert, den der gemacht hat. Und dieser Vorschlag - das sage ich jetzt noch einmal - ist eher der dritte Schritt als der erste, der heute auf der Tagesordnung steht. Die brauchen jetzt eine politische Lösung. Und das, was Paul Breuer gesagt hat, unterstütze ich vollkommen.
Heinlein: Frage zum Schluss, Frau Merkel: Sollte es für die Union im September nicht zum Sieg reichen, wo sehen Sie Ihre künftige Rolle in der Union?
Merkel: Meine Rolle ist die einer Parteivorsitzenden, und wir werden gewinnen. Das ist zumindest meine Anstrengung, und wir haben dazu alle guten Chancen, und insofern will ich als Parteivorsitzende dazu einen Beitrag leisten. Und ich bin auch mit Sicherheit nach dem 22. September gerne und hoffentlich auch erfolgreich Parteivorsitzende.
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