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30 Jahre Mauerfall
Die Toten am Eisernen Vorhang

Mauer, Todesstreifen, Schießbefehl: Der Fluchtversuch aus der DDR hat Hunderte das Leben gekostet. Über die exakten Opferzahlen an Mauer und innerdeutscher Grenze wird bis heute gestritten. Viele dieser Einzelschicksale bleiben weiterhin ungeklärt.

Von Peter Leusch |
Gedenkstätte Berliner Mauer an der Bernauer Straße mit Fotos von Maueropfern
Gedenkstätte Berliner Mauer an der Bernauer Straße mit Fotos von Maueropfern (dpa/Wolfram Steinberg)
"Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen, Reiseanlässen und Verwandtschaftsverhältnissen beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD erfolgen."
"Tor auf! Tor auf! Tor auf"
"Ich bin so glücklich. Ich kann meine Eltern heute das erste Mal wiedersehen. Ich wohne wirklich nur zehn Minuten von hier entfernt."
"Wie kommen wir zum Ku‘damm?"
"Ich habe 1961 Frühstück gemacht und gesehen, wie der Stacheldraht gezogen wurde, und jetzt will ich dabei sein, wenn Schluss ist."
Der 9. November 1989 schrieb ein Kapitel Weltgeschichte: den Fall der Berliner Mauer. Die Meldung jagte um den Erdball, als Regierungssprecher Günter Schabowski zum Ende einer Pressekonferenz beiläufig verkündete, ab sofort könnten die DDR-Bürger ungehindert in den Westen reisen. Es war aber keine Maueröffnung, kein Freiheitsgeschenk der Regierung, sondern ein von den Menschen in der DDR erkämpfter Mauerdurchbruch, schrieb der Ostberliner Zeithistoriker Ilko-Sascha Kowalczuk. Heute, 30 Jahre später, ist die Mauer, das verhasste Gesicht der Diktatur, weitgehend aus dem Stadtbild verschwunden. Doch die Bernauer Straße zwischen Stadtmitte und Wedding erinnert an den Terror: Hier hat man zum Gedenken an die Opfer und an das Leid der geteilten Stadt ein Stück Mauer, Todesstreifen und Wachtürme stehen lassen:
"Die Bernauer Straße ist deshalb ein besonderer Ort, weil die Grenze hier einen speziellen Verlauf hat. Hier verlief sie nämlich am Fuß der Gebäude, die zu Ostberlin gehörten. Das heißt, wenn man diese Häuser durch die Haupteingangstür verlassen hat, war man direkt in West-Berlin, bevor die Mauer gebaut wurde."
Flucht in letzter Minute
In den ersten Stunden des 13. August 1961, als der Mauerbau begann, als der Osten Berlins systematisch abgeriegelt wurde, so der Historiker Dr. Gerhard Sälter von der Stiftung Berliner Mauer, spielten sich hier vor den Augen der Westberliner und der Journalisten aus der ganzen Welt dramatische Szenen ab: Menschen, denen buchstäblich in letzter Minute die Flucht in die Freiheit gelang, und andere, die das mit den Leben bezahlen mussten:
"Das erste Maueropfer war an der Bernauer Straße Ida Siekmann, die ein paar Tage nach dem Mauerbau, es war der 22. August - am Tag vorher wurden die Haustüren zugenagelt, dann auch relativ schnell vermauert. Und dann hat sie einfach, wir vermuten, Panik bekommen, und hat dann ein paar Habseligkeiten aus dem dritten Stock aus ihrer Wohnung hinausgeworfen, hat ihr Bettzeug hinausgeworfen - vermutlich in der Hoffnung ihren Sprung abzufedern - ist dann hinterher gesprungen und hat sich so verletzt, dass sie an den Folgen gestorben ist."
Die Stiftung Berliner Mauer hat an der Bernauer Straße eine Gedenkstätte errichtet. Berlin-Besucher erledigen diesen Ort, diese Sehenswürdigkeit nicht im Schnelldurchgang, erklärt Hannah Berger, die Öffentlichkeitsarbeit der Stiftung leitet. Nicht wenige Besucher verweilen vielmehr auf dem Außengelände vor einer besonderen Installation, einer Metallwand mit kleinen Nischen, wo die Opfer des Grauens ihren Namen, ihr Gesicht zurückerhalten:
"Wir haben im Außengelände der Gedenkstätte das sogenannte Fenster des Gedenkens, dort sind Fotos der Todesopfer an der Berliner Mauer - wir gehen derzeit von 140 Todesopfern aus - und dort kann man ihre Fotos sehen, die Namen lesen und die Todesdaten. Es ist aber auch so, dass wir täglich Andachten für die Todesopfer lesen in der Kapelle der Versöhnung, wo immer eine Biografie an einem Werktag gelesen wird, und da ist es natürlich auch das Ziel, diese Geschichten, diese Biografien, diese Menschen nicht zu vergessen."
Berliner Geisterbahnhöfe
In der Nähe liegt der Nordbahnhof, einer der sogenannten Geisterbahnhöfe, wo S- und U-Bahnen in der geteilten Stadt tagtäglich von West nach West, von Kreuzberg zum Wedding, unterirdisch die Mitte Ostberlins passierten, ohne anzuhalten. Die Geisterbahnhöfe wurden mit Barrieren, Rollgittern und Bewegungsmeldern gegen Fluchtversuche immer perfekter gesichert, ja man hat sogar die Grenzbeamten während des Dienstes in ihren Beobachtungsposten eingesperrt:
"Denn die Bevölkerungsgruppe, die am häufigsten abhaut, sind wahrscheinlich DDR-Grenzer gewesen, nicht nur weil sie die beste Gelegenheit hatten, sondern auch, weil sie das größte Problem hatten: Den meisten einfachen Grenzern war nämlich klar, dass das Grenzregime moralisch fragwürdig war und dass es auf keinen Fall vertretbar war, auf unbewaffnete Leute zu schießen - das wussten sie."
Die Mauer, das Grenzregime, der Schießbefehl haben großes Leid über die Stadt gebracht und viele Menschen das Leben gekostet. Das steht außer Frage. Streit gibt es aber bis heute über die exakten Opferzahlen - darüber, wie viele Menschen genau bei Fluchtversuchen an der Berliner Mauer umgekommen sind. Die Arbeitsgemeinschaft 13. August nennt Zahlen, die von Wissenschaftlern als zu hoch kritisiert wurden, zum Beispiel von Dr. Jochen Staadt, der im Forschungsverbund SED-Staat der FU Berlin mit dem Thema DDR-Todesopfer befasst ist:
"Wir haben mit der AG 13. August von Anfang das Problem gehabt, dass die AG 13. August eine sehr hohe Zahl von Todesfällen in ihren Listen hat, inzwischen sind sie bei knapp 2.000 angelangt, und dass sie Fälle zählen, die unserer Meinung nach nicht in diesen Bereich fallen. Sie zählen zum Beispiel alle Suizide, die es in den Grenztruppen gegeben hat, und da gab es viele Fälle, die nicht mit dem Dienst im Zusammenhang standen, sondern Alkoholismus, Eheprobleme, privater Art, und wo wird das geprüft haben, haben wir gesagt, diese Ansicht können wir nicht teilen, dass wir die als Opfer des Grenzregimes zählen."
Forschung zu Maueropfern
Bereits 2005 wurden das Zentrum für zeithistorische Forschung Potsdam und die Stiftung Berliner Mauer beauftragt, die Zahlen und Identitäten der Maueropfer wissenschaftlich zu klären. Dr. Hanno Hochmuth, Historiker am Zentrum für Zeithistorische Forschung:
"Die sehr unterschiedlichen Zahlen, die nicht nur von der Arbeitsgemeinschaft 13. August, sondern zum Teil auch vom Mauermuseum am Checkpoint Charlie vorgestellt worden sind, und das nicht nur jetzt, sondern auch schon vom Jahr 2004, die sind der Anlass gewesen, für dieses Forschungsprojekt, das zu einem Handbuch geführt hat. Weil einfach ganz verschiedene Zahlen im Schwange waren und verschiedene Historiker Skepsis äußerten gegenüber diesen Zahlen, vor allem auf Grundlage der Kriterien, die dafür angelegt worden sind."
Hans-Hermann Hertle und Maria Nooke, die Herausgeber des Handbuchs "Die Todesopfer an der Berliner Mauer 1961–1989" legten ihrem biografischen Handbuch einen wissenschaftlich eng gefassten Opferbegriff zugrunde: Opfer ist, wer bei einem Fluchtversuch ums Leben gekommen ist oder dessen Tod in einem engen kausalen, zeitlichen oder räumlichen Zusammenhang mit dem Grenzregime stand. In der aktuellen dritten Auflage aus diesem Jahr verzeichnet das Handbuch 140 Todesfälle, es ist eine Mindestzahl, also all jene Fälle, die wissenschaftlich aufgeklärt werden konnten. Das Handbuch erschöpft sich aber nicht in Listen und Zahlen, vielmehr gibt es den Opfern in Kurzbiografien ihren Namen, ihr Gesicht und ihre Geschichte zurück. Warum ist diese ganze wissenschaftliche Aufarbeitung eigentlich so schwierig? Die Forschung hat es mit einer problematischen Quellenlage zu tun, erläutert Hanno Hochmuth:
"Eine große methodische Schwierigkeit ist, dass man eigentlich zu einem Gutteil angewiesen ist auf die Hinterlassenschaften des mörderischen Staates selbst. Das heißt, die Aktenhinterlassenschaften, die es gibt dazu, sind eigentlich fast komplett von der Täterseite, es gibt natürlich Verdachtsfälle, die kommuniziert worden sind, zum Beispiel von Westberliner Fluchthelfern, zum Beispiel auch vom Mauermuseum, das es schon vor 1989 gegeben hat, aber die Aktenüberlieferung, auch gerichtsmedizinische Gutachten und so weiter, das stammt fast ausschließlich aus der DDR."
Todesursachen verharmlost
Das Ministerium für Staatssicherheit ließ nicht zu, dass die Fakten eines Fluchtversuchs an die Öffentlichkeit gelangten. Vielmehr verfasste sie sogenannte Legenden, in denen der Tod eines Flüchtlings auch den Angehörigen gegenüber verharmlost, zum Beispiel als Unfall hingestellt wurde. Todesschüsse gab es aber in Berlin bereits lange vor dem Mauerfall. Gerhard Sälter hat dazu jüngst seine Forschungsergebnisse veröffentlicht, zum Beispiel einen von Augenzeugen berichteten Fall kurz nach dem 17. Juni 1953:
"Wo Westberliner Jungs am Spandauer Schifffahrtskanal, weil es heiß ist, schwimmen wollen, und gegenüber sind kasernierte Volkspolizei, die Vorläufer der NVA eingesetzt. Die sagen, sie sollen weggehen, der Spandauer Schifffahrtskanal gehört an dieser Stelle ganz zu Ostberlin - die Jungs sind der Auffassung, dass die Grenze in der Mitte verläuft, sodass sie glauben, das Recht zu haben, ins Wasser zu gehen - und fangen an Steine hinüberzuwerfen. Und dann positioniert sich einer dieser KVP-Soldaten hinter einem Baum, legt seinen Karabiner in die Astgabel und erschießt zielgerichtet und offensichtlich kalten Blutes den 15-jährigen Wolfgang Röhrling."
Eine lange Zeit umstrittene Zahl an Todesopfern gab es auch an der innerdeutschen Grenze. Jochen Staadt vom Forschungsverbund SED-Staat der FU Berlin hat zusammen mit Klaus Schröder ein Handbuch vorgelegt. Es verzeichnet 327 aufgeklärte Fälle Innerdeutsche Grenze:
"Im Prinzip existierte bereits ein Grenzregime zur Gründung der DDR, das war von der sowjetischen Besatzungsmacht errichtet wurden. Sie haben ab 1947 eine deutsche Grenzpolizei aufgebaut, der gehörten Anfang der 50er-Jahre 20.000 Männer an, die dort an der Grenze Dienst taten. Sie patrouillierten, sie hatten schon eine Schusswaffenanordnung, dass sie auf Grenzgänger, die nicht stehen bleiben, schießen: erst Warnschuss, anrufen, dann Zielschuss."
Fluchtopfer an Ostblock-Außengrenzen und Ostsee
Ab 1952 wurde die Grenze für Fluchtwillige zu einer immer perfekteren Todesfalle ausgebaut. Minen und Selbstschussanlagen hinterließen grausig entstellte Opfer. Den Angehörigen war es verwehrt, die Toten noch einmal zu sehen. Die Forschung zu den Todesopfern in Berlin und an der innerdeutschen Grenze ist weitgehend abgeschlossen. Aber aktuell ist ein drittes Forschungsfeld hinzugekommen: die Fluchtopfer an den Außengrenzen des Ostblocks und an der Ostsee. Das bis 2022 laufende Forschungsprojekt des Forschungsverbunds SED-Staat, hat bereits 39 Todesfälle ermittelt, weitere 400 Verdachtsfälle müssen untersucht werden. Jochen Staadt schildert einen Fall, den er in diesem Jahr aufklären konnte:
"Das waren zwei 18-Jährige aus Leipzig, die haben 1980 versucht, über Bulgarien nach Griechenland zu flüchten. Die Berichte, die wir kannten, lauteten sowohl von bulgarischer Seite als auch von DDR-Seite, sie seien angerufen worden, seien weggelaufen in Richtung der Grenze, eines Waldes, der dort war, und dann sei nach Warnschüssen gezielt geschossen worden. Beide waren tot. Wir haben jetzt in den Überlieferungen des Ministeriums für Staatssicherheit geheime Obduktionsbefunde, die in Leipzig angefertigt wurden - die Obduzenten sind zum Schweigen verpflichtet worden, aber aus dieser Obduktion geht eindeutig hervor, dass der eine junge Mann von vorne in den Kopf geschossen wurde und der zweite unter der Achsel einen Durchschuss hatte, der ihn getötet hat. Das heißt, er hatte vermutlich schon die Hände gehoben."
Den Eltern hatte man dagegen erzählt, die jungen Leute seien in einem militärischen Sperrgebiet ums Leben gekommen:
"Wenn jemand an der Grenze ums Leben kam, in Berlin, an der innerdeutschen Grenze oder an den Außengrenzen, wurde die gesamte Familie überprüft. Die Angehörigen wurden verhört, ob sie von den Fluchtplänen wussten, ihnen wurde misstraut, und vor allem wurden sie zum Schweigen verpflichtet: Man durfte die Tatsache, dass jemand bei einer Flucht ums Leben gekommen ist, nicht in eine Todesanzeige schreiben, sonst wurde sie nicht veröffentlicht. Sie durften nur schreiben, unser Sohn oder unser Bruder ist bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen. Die Beisetzung wurde von der Stasi überwacht, alle die dorthin kamen, wurden fotografiert, sie waren dann sofort verdächtig, wenn sie an einer solchen Beisetzung teilgenommen hatten."
Das Leid der Opfer und das Unrecht gegenüber ihren Angehörigen und Freunden kann man nicht wirklich wiedergutmachen. Wie viel Recht, wie viel Gerechtigkeit ist möglich? Die Mauerschützen sind in den Prozessen der 90er-Jahre mit Bewährungsstrafen davon gekommen, nur die höheren Befehlsgeber aus Militär und Politik erhielten mehrjährige Haftstrafen. Es ist zu hoffen, dass sich zum 30. Jahrestag in all die Freude über den Mauerfall auch Nachdenklichkeit und Erinnerung an die Opfer mischt, weil sonst die Mauer zu einem rein touristischen Highlight für Berlin, zu einem Spektakel gerät, aber darüber ihr Schrecken und ihr Leid, das sie den Menschen angetan hat, verlorengeht. Hanna Berger von der Stiftung Berliner Mauer:
"Es ist so, dass zu der zentralen Gedenkveranstaltung am 9. November natürlich auch die Angehörigen, mit denen wir im Kontakt stehen, so sie das wünschen, herzlich eingeladen sind, auch teilzunehmen, sodass es nicht nur ein Gedenken ist an die mutigen Oppositionellen von 89, die auf die Straße gegangen sind, sondern auch an einem solchen Tag die Opfer nicht vergessen werden."