Nutz: Vor 50 Jahren geriet das Deutsche Museum in München zum Parlament der Arbeit. Dort tagte der Gründungskongreß des Deutschen Gewerkschaftsbundes DGB. Mit den Erfahrungen aus der Weimarer Republik, aus der Zeit der Nazi-Diktatur, in der kein geschlossener Widerstand zu Stande kam, gab der erste DGB-Vorsitzende Hans Böckler vor, was ein gemeinsames Gewerkschaftsdach mit dem Neubeginn nach dem Krieg leis-ten soll. Heute, 50 Jahre später, trifft man sich wieder in München zum Festakt, zu dem auch Bun-deskanzler Schröder geladen ist. Ein Festakt, der wahrscheinlich weitaus mehr auf Ge-genwart und Zukunft eingestellt sein wird, als auf die Historie. - Am Telefon begrüße ich Walter Riester, heute Bundesarbeitsminister, doch zuvor lange Jahre Gewerkschafter, zuletzt als stellvertretender Vorsitzender der IG Metall. Guten Morgen!
Riester: Guten Morgen Frau Nutz.
Nutz: Herr Riester, ohne Rücksicht auf parteipolitische Unterschiede, hat Hans Böckler damals gesagt. Hat der DGB an seinem 50. Geburtstag mit dieser Zielvorgabe noch viel gemein?
Riester: Ja, hoffentlich. Das ist nämlich ganz wichtig. Die Einheitsgewerkschaft, die auch Gewerkschafter ganz unterschiedlicher parteipolitischer Zugehörigkeit vereinigt, ist eines der Erfolgsrezepte. Wenn sich eine Gewerkschaft abhängig macht von einer politi-schen Partei, dann verliert sie die Zustimmung der Mitglieder.
Nutz: Aber die Gewerkschaft hat doch gerade vor der Regierungsübernahme von rot/grün ganz massiv Werbung gemacht für ein solches Regierungsbündnis, für einen Politikwechsel, wie Sie es genannt haben?
Riester: Völlig richtig. Sie hat einen Politikwechsel vorangetrieben und hat diese Politik, die sie vertreten sehen will, mit der alten Regierung nicht mehr vertreten sehen. Dann war das konsequent, eine neue Regierung zu fordern. Aber im Kern stand, wie Sie sagen, ein Politikwechsel. Es waren ja Inhalte, die die Gewerkschaften mit ihrer Unter-stützung verbunden haben.
Nutz: War denn die Einheitsgewerkschaft ohne politische Einbindung dennoch eine Illusion? Auch Hans Böckler zum Beispiel war ja Sozialdemokrat.
Riester: Er war Sozialdemokrat, und das zeichnet ihn gerade aus, dass er auch als Sozialdemokrat sagt, eine Gewerkschaft darf sich nicht abhängig machen von einer Par-tei. Sie muss ihre Interessen vertreten, die Interessen ihrer Mitglieder, und darüber hinaus auch die Interessen der arbeitnehmenden Menschen. Aber die Parteien unterstützen na-türlich in ganz unterschiedlicher Form die Position der Gewerkschaften, und dann ist es ganz klar, dass sich eine Gewerkschaft natürlich den Parteien näher fühlt, von denen sie Unterstützung bekommt.
Nutz: Herr Riester, es gibt noch ein Zitat von Hans Böckler von diesem Tag vor 50 Jahren. "Die Gewerkschaft", sagt er, "halte das neo-liberalisierende Spiel, das in West-Deutschland Geltung habe, für mehr als bedenklich. Dagegen müssten die Gewerk-schaften eine aktive Arbeitsmarktpolitik verlangen." Hat sich dort in 50 Jahren nichts ver-ändert?
Riester: Es ist immer noch wichtig. Aktive Arbeitsmarktpolitik ist, wenn Sie so wol-len, ein Stück Unterstützung und Eingriff des Staates in den Arbeitsmarkt. Der Arbeits-markt ist kein Markt wie ein Bananenmarkt, sondern am Arbeitsmarkt treten Menschen mit ganz unterschiedlichen Qualifikationen auf. Schauen Sie, wir setzen heute etwa 45,3 Mil-liarden jährlich ein aus Beitragsmitteln und aus Steuermitteln, um Menschen, die arbeits-los sind, Weiterbildungsmaßnahmen anzubieten, zum Teil auch Arbeitsbeschaffungs-maßnahmen anzubieten, eigene Strukturmaßnahmen zu entwickeln. Das ist heute ein ganz fester Bestandteil. Das ist Arbeitsmarktpolitik. Ohne diese Arbeitsmarktpolitik hätten wir etwa, ich schätze, zwei Millionen Arbeitslose mehr.
Nutz: In anderen Ländern hat man gerade in der Beschäftigungspolitik Erfolg mit Teilzeitmodellen, mit der Lockerung des Kündigungsschutzes, mit individuellen Tarifab-schlüssen. In Deutschland halten die Gewerkschaften am Zentralismus fest, Stichworte: Tarifautonomie, Flächentarifvertrag. Liegt in dieser Erstarrung einer der Gründe, warum sich am deutschen Arbeitsmarkt so wenig tut?
Riester: Ja und nein. Diese Erstarrung, die zum Teil da ist - das kann man nicht wegdiskutieren -, wirkt zum Teil lähmend. Schauen Sie, als ich hauptamtlich Gewerk-schafter war - ich bin natürlich weiterhin Gewerkschafter - war eine meiner Hauptaufga-ben, die Erneuerung des Flächentarifvertrages zu machen. Ich gestehe, dass er nicht so weit vorangetrieben ist, wie ich das eigentlich wollte. Tarifautonomie kann man auch verlieren, wenn die Instrumente, mit denen man die Tarif-politik durchsetzt - der Flächentarifvertrag ist das wichtigste -, zu bröckeln beginnen. In weiten Teilen Ost-Deutschlands haben wir keine Tarifbindung mehr, und die Menschen arbeiten zu den "Bedingungen" des Marktes. Das heißt, sie brechen mit ihren Löhnen ganz gewaltig herunter. Deswegen ist es wichtig, diesen Erneuerungsprozess - und der muss im wesentlichen von den Gewerkschaften laufen - ständig voranzutreiben.
Nutz: Es gibt ja ein zentrales Projekt dieser Regierung, hinter dem auch die Ge-werkschaft steht, um nicht zu sagen, sie ist sogar als IG Metall die Erfinderin. Das ist das "Bündnis für Arbeit". Da gibt es noch eine historische Parallele. Die konzertierte Aktion wurde mit dem Willen der Gewerkschaften damals aufgekündigt. Droht diesem Bündnis für Arbeit, das im Augenblick so dahindümpelt, dasselbe Schicksal?
Riester: Ich hoffe nicht, denn der Kerngedanke des Bündnisses für Arbeit ist ja, dass wir große gesellschaftspolitische Problemstellungen mit den Beiträgen der großen gesellschaftlichen Gruppen, also auch der Gewerkschaften, der Wirtschaft, der Politik, wenn Sie so wollen in einzelnen Fragen auch der Kirchen, gemeinsam lösen, aber durch Beiträge von allen. Das Bündnis leidet etwas darunter, dass einige Teilnehmer des Bünd-nisses immer denken, die Politik muss ihnen zusätzlich ihre Probleme lösen. Nein, wir müssen gemeinsam die gesellschaftlichen Probleme lösen. Einige Dinge hat man auch sehr gut angegangen. Nehmen Sie die Frage der Ausbildungsplätze. Wir ha-ben ein Sofortprogramm aufgelegt als Regierung, finanziert über Steuermittel, wo wir 100.000 Jugendlichen zusätzliche Chancen in diesem Jahr vermitteln wollten. Tatsächlich geschafft haben wir, dass zwischenzeitlich schon 188.000 Jugendliche zusätzliche Wei-terbildungs- oder Arbeitschancen erhalten haben. Das ist eine tolle Sache. Wir haben im Bündnis aber auch vereinbart, dass die Wirtschaft ausreichend Ausbil-dungsplätze bis zum Herbst dieses Jahres zur Verfügung stellt. Das ist noch nicht voll erfüllt, aber wir arbeiten daran und wir haben deutlich mehr als im letzten Jahr. Das ist ein zweiter, ganz wichtiger Punkt. Wir erneuern im Bündnis aber auch Ausbildungsordnungen und Berufsbilder, ein ganz wichtiger Punkt, so dass Qualifikation vorangehen kann. Viel mehr Punkte eigentlich, die öffentlich herüberkommen, sind Ergebnis auch der Gespräche im Bündnis für Arbeit.
Nutz: Nun haben Sie von verschiedenen Teilnehmern gesprochen, die ihre Be-dürfnisse erfüllt haben wollen. Da gibt es die IG Metall, die den Druck sehr verstärkt hat mit ihrer Forderung nach einer Rente ab 60. Sie werden heute, sozusagen am Tag der Jubiläumsfeier, mit der IG Metall und den Rentenversicherungsträgern darüber sprechen. Was soll denn bei diesem Gespräch heute herauskommen, wenn Sie schon mehrfach gesagt haben, das Modell sei unbezahlbar?
Riester: Das kommt darauf an, wie man das Modell macht. Durchaus bezahlbar - und das war der Ansatz -, wir haben die Frage der Altersteilzeit, dass Menschen mit 55 Jahren auf die Hälfte der Arbeitszeit heruntergehen können und dann früher ausscheiden, mit 60 ganz aus dem Arbeitsprozess. Für diese Menschen soll tarifpolitisch der Renten-abschlag, der vorgesehen ist, ausgeglichen werden. Wir haben als Staat gesagt, die Gel-der, die dafür zur Verfügung gestellt werden, bleiben steuerfrei und beitragsfrei, eine wichtige Voraussetzung. Das haben wir erfüllt, und an der Frage wollen wir weiterarbei-ten. Sie haben gesagt, heute um 10.30 Uhr treffe ich mich mit dem Vorstand der IG Metall und den Rentenversicherungsträgern. Wir wollen auf der Grundlage auch der Daten der Rentenversicherer sprechen, was man in dieser Frage als Unterstützung machen kann.
Nutz: Die IG Metall hat ja auch mit Ausstieg gedroht, wenn man dort zu keiner Lösung kommt. Ist das ein Druck, den Sie sich so gefallen lassen können?
Riester: Nein! Ich empfinde das auch gar nicht als Druck, weil ich das auch nicht ernst nehme. Das muss ich ganz offen sagen. Den Stil finde ich auch nicht in Ordnung, ganz gleich ob das von der IG Metall oder vom BDI kommt. Das Drohpotenzial, aus einem solchen Bündnis auszusteigen, schlägt letztendlich immer gegen die zurück, die es aus-sprechen. Klaus Zwickel hat das auch korrigiert. Er hat am Gewerkschaftstag gesagt, wir werden im Bündnis für Arbeit bleiben, weil es dazu keine bessere Alternative gibt.
Nutz: Herr Riester, es gibt noch ein aktuelles Thema, das jetzt weniger mit dem Geburtstag des DGB zu tun hat. Das ist die Frage der Vermögensabgabe. Da gibt es of-fenbar innerhalb der Regierung, sprich der SPD, kein einhelliges Bild. Finanzminister Ei-chel lehnt es ab, Bundeskanzler Schröder äußert sich nicht klar. Wie stehen Sie zu die-sem Thema?
Riester: Ich denke, dass wir im Moment keine zusätzlichen Steuererhöhungen ma-chen können. Klar ist, dass wir natürlich die hohen Vermögen beteiligen müssen, aber im Moment stehen zwei große Projekte an, und wir können nicht laufend mit anderen Bot-schaften die Projekte sozusagen von unten her unterhöhlen. Das erste große Projekt ist, dass wir die Rentenreform zukunftssicher und armutsfest machen. Das zweite große Pro-jekt ist, dass wir den dick überschuldeten Haushalt der alten Regierung entschulden und damit eine Haushaltskonsolidierung machen. Dann kommen die nächsten Schritte. Ich möchte jetzt im Moment nicht, dass diese wichtigen Projekte mit einer erneuten Debatte über eine Steuererhöhung verbunden werden.
Nutz: Das heißt, Sie lehnen im Augenblick die Vermögensabgabe ab, können sich aber vorstellen, dass es in späterer Zukunft dazu kommt?
Riester: Das kann man in Zukunft nicht ausschließen, und ich denke, kein Politiker kann Ihnen sagen, was er auch dauerhaft ausschließt. Ich sage auch sehr deutlich als Arbeitsminister: Natürlich ist es völlig richtig, dass wir die Leistungsstarken in dieser Re-publik beteiligen müssen an den Aufgaben, die diese Gesellschaft braucht. Das ist ganz, ganz wichtig, auch in der Frage der Verteilungsgerechtigkeit. Nur im Moment halte ich es für absolut schlecht, über eine neue Steuer zu reden, bevor die alten Projekte, die wichtig sind, in trockenen Tüchern sind.
Nutz: Sie haben eben noch einmal vom Rentensystem gesprochen, das reformiert werden müsste. Wird es denn eine Neuauflage Ihrer Idee der sogenannten Zwangsrente geben, also der verordneten Privatvorsorge? Haben Sie dort jetzt mehr Rückenwind?
Riester: Zuerst finde ich den Begriff der Zwangsrente absolut töricht. Wir sprechen doch bei unserem Rentensystem auch nicht von Zwangsrente. Jeder Mensch, der Arbeit-nehmer ist, ist natürlich verpflichtet, für sein Alter Vorsorge zu machen. Das ist eine Selbstverständlichkeit. Mit solchen Begriffen verängstigt man Menschen. Ich nehme etwas amüsiert zur Kenntnis, dass zunehmend mehr Großorganisationen, bei-spielsweise die CSU in Bayern, nun eine verbindliche zusätzliche Eigenvorsorge für das Alter fordern. Oder der Bund der deutschen Arbeitgeber, oder auch Teile meiner Fraktion, Teile der Grünen, also zunehmend mehr verstehen, dass es wichtig ist, dass Eigenvor-sorge ein zusätzlicher Baustein ist für das Alter.
Nutz: Das heißt es gibt eine neue Chance, dieses Thema noch mal gemeinsam anzugehen?
Riester: Natürlich. An der Sache arbeiten wir. Ich habe jetzt auch einen konkreten Vorschlag eingebracht, wie wir gerade die niederen Einkommen zusätzlich staatlich un-terstützen können, dass sie in die Lage versetzt werden - das ist ja die entscheidende Frage -, auch zusätzliche Eigenvorsorge zu bilden.
Nutz: Vielen Dank! - Das war Bundesarbeitsminister Walter Riester zum 50. Gründungstag des Deutschen Gewerkschaftsbundes vor aktuellem Hintergrund.
Riester: Guten Morgen Frau Nutz.
Nutz: Herr Riester, ohne Rücksicht auf parteipolitische Unterschiede, hat Hans Böckler damals gesagt. Hat der DGB an seinem 50. Geburtstag mit dieser Zielvorgabe noch viel gemein?
Riester: Ja, hoffentlich. Das ist nämlich ganz wichtig. Die Einheitsgewerkschaft, die auch Gewerkschafter ganz unterschiedlicher parteipolitischer Zugehörigkeit vereinigt, ist eines der Erfolgsrezepte. Wenn sich eine Gewerkschaft abhängig macht von einer politi-schen Partei, dann verliert sie die Zustimmung der Mitglieder.
Nutz: Aber die Gewerkschaft hat doch gerade vor der Regierungsübernahme von rot/grün ganz massiv Werbung gemacht für ein solches Regierungsbündnis, für einen Politikwechsel, wie Sie es genannt haben?
Riester: Völlig richtig. Sie hat einen Politikwechsel vorangetrieben und hat diese Politik, die sie vertreten sehen will, mit der alten Regierung nicht mehr vertreten sehen. Dann war das konsequent, eine neue Regierung zu fordern. Aber im Kern stand, wie Sie sagen, ein Politikwechsel. Es waren ja Inhalte, die die Gewerkschaften mit ihrer Unter-stützung verbunden haben.
Nutz: War denn die Einheitsgewerkschaft ohne politische Einbindung dennoch eine Illusion? Auch Hans Böckler zum Beispiel war ja Sozialdemokrat.
Riester: Er war Sozialdemokrat, und das zeichnet ihn gerade aus, dass er auch als Sozialdemokrat sagt, eine Gewerkschaft darf sich nicht abhängig machen von einer Par-tei. Sie muss ihre Interessen vertreten, die Interessen ihrer Mitglieder, und darüber hinaus auch die Interessen der arbeitnehmenden Menschen. Aber die Parteien unterstützen na-türlich in ganz unterschiedlicher Form die Position der Gewerkschaften, und dann ist es ganz klar, dass sich eine Gewerkschaft natürlich den Parteien näher fühlt, von denen sie Unterstützung bekommt.
Nutz: Herr Riester, es gibt noch ein Zitat von Hans Böckler von diesem Tag vor 50 Jahren. "Die Gewerkschaft", sagt er, "halte das neo-liberalisierende Spiel, das in West-Deutschland Geltung habe, für mehr als bedenklich. Dagegen müssten die Gewerk-schaften eine aktive Arbeitsmarktpolitik verlangen." Hat sich dort in 50 Jahren nichts ver-ändert?
Riester: Es ist immer noch wichtig. Aktive Arbeitsmarktpolitik ist, wenn Sie so wol-len, ein Stück Unterstützung und Eingriff des Staates in den Arbeitsmarkt. Der Arbeits-markt ist kein Markt wie ein Bananenmarkt, sondern am Arbeitsmarkt treten Menschen mit ganz unterschiedlichen Qualifikationen auf. Schauen Sie, wir setzen heute etwa 45,3 Mil-liarden jährlich ein aus Beitragsmitteln und aus Steuermitteln, um Menschen, die arbeits-los sind, Weiterbildungsmaßnahmen anzubieten, zum Teil auch Arbeitsbeschaffungs-maßnahmen anzubieten, eigene Strukturmaßnahmen zu entwickeln. Das ist heute ein ganz fester Bestandteil. Das ist Arbeitsmarktpolitik. Ohne diese Arbeitsmarktpolitik hätten wir etwa, ich schätze, zwei Millionen Arbeitslose mehr.
Nutz: In anderen Ländern hat man gerade in der Beschäftigungspolitik Erfolg mit Teilzeitmodellen, mit der Lockerung des Kündigungsschutzes, mit individuellen Tarifab-schlüssen. In Deutschland halten die Gewerkschaften am Zentralismus fest, Stichworte: Tarifautonomie, Flächentarifvertrag. Liegt in dieser Erstarrung einer der Gründe, warum sich am deutschen Arbeitsmarkt so wenig tut?
Riester: Ja und nein. Diese Erstarrung, die zum Teil da ist - das kann man nicht wegdiskutieren -, wirkt zum Teil lähmend. Schauen Sie, als ich hauptamtlich Gewerk-schafter war - ich bin natürlich weiterhin Gewerkschafter - war eine meiner Hauptaufga-ben, die Erneuerung des Flächentarifvertrages zu machen. Ich gestehe, dass er nicht so weit vorangetrieben ist, wie ich das eigentlich wollte. Tarifautonomie kann man auch verlieren, wenn die Instrumente, mit denen man die Tarif-politik durchsetzt - der Flächentarifvertrag ist das wichtigste -, zu bröckeln beginnen. In weiten Teilen Ost-Deutschlands haben wir keine Tarifbindung mehr, und die Menschen arbeiten zu den "Bedingungen" des Marktes. Das heißt, sie brechen mit ihren Löhnen ganz gewaltig herunter. Deswegen ist es wichtig, diesen Erneuerungsprozess - und der muss im wesentlichen von den Gewerkschaften laufen - ständig voranzutreiben.
Nutz: Es gibt ja ein zentrales Projekt dieser Regierung, hinter dem auch die Ge-werkschaft steht, um nicht zu sagen, sie ist sogar als IG Metall die Erfinderin. Das ist das "Bündnis für Arbeit". Da gibt es noch eine historische Parallele. Die konzertierte Aktion wurde mit dem Willen der Gewerkschaften damals aufgekündigt. Droht diesem Bündnis für Arbeit, das im Augenblick so dahindümpelt, dasselbe Schicksal?
Riester: Ich hoffe nicht, denn der Kerngedanke des Bündnisses für Arbeit ist ja, dass wir große gesellschaftspolitische Problemstellungen mit den Beiträgen der großen gesellschaftlichen Gruppen, also auch der Gewerkschaften, der Wirtschaft, der Politik, wenn Sie so wollen in einzelnen Fragen auch der Kirchen, gemeinsam lösen, aber durch Beiträge von allen. Das Bündnis leidet etwas darunter, dass einige Teilnehmer des Bünd-nisses immer denken, die Politik muss ihnen zusätzlich ihre Probleme lösen. Nein, wir müssen gemeinsam die gesellschaftlichen Probleme lösen. Einige Dinge hat man auch sehr gut angegangen. Nehmen Sie die Frage der Ausbildungsplätze. Wir ha-ben ein Sofortprogramm aufgelegt als Regierung, finanziert über Steuermittel, wo wir 100.000 Jugendlichen zusätzliche Chancen in diesem Jahr vermitteln wollten. Tatsächlich geschafft haben wir, dass zwischenzeitlich schon 188.000 Jugendliche zusätzliche Wei-terbildungs- oder Arbeitschancen erhalten haben. Das ist eine tolle Sache. Wir haben im Bündnis aber auch vereinbart, dass die Wirtschaft ausreichend Ausbil-dungsplätze bis zum Herbst dieses Jahres zur Verfügung stellt. Das ist noch nicht voll erfüllt, aber wir arbeiten daran und wir haben deutlich mehr als im letzten Jahr. Das ist ein zweiter, ganz wichtiger Punkt. Wir erneuern im Bündnis aber auch Ausbildungsordnungen und Berufsbilder, ein ganz wichtiger Punkt, so dass Qualifikation vorangehen kann. Viel mehr Punkte eigentlich, die öffentlich herüberkommen, sind Ergebnis auch der Gespräche im Bündnis für Arbeit.
Nutz: Nun haben Sie von verschiedenen Teilnehmern gesprochen, die ihre Be-dürfnisse erfüllt haben wollen. Da gibt es die IG Metall, die den Druck sehr verstärkt hat mit ihrer Forderung nach einer Rente ab 60. Sie werden heute, sozusagen am Tag der Jubiläumsfeier, mit der IG Metall und den Rentenversicherungsträgern darüber sprechen. Was soll denn bei diesem Gespräch heute herauskommen, wenn Sie schon mehrfach gesagt haben, das Modell sei unbezahlbar?
Riester: Das kommt darauf an, wie man das Modell macht. Durchaus bezahlbar - und das war der Ansatz -, wir haben die Frage der Altersteilzeit, dass Menschen mit 55 Jahren auf die Hälfte der Arbeitszeit heruntergehen können und dann früher ausscheiden, mit 60 ganz aus dem Arbeitsprozess. Für diese Menschen soll tarifpolitisch der Renten-abschlag, der vorgesehen ist, ausgeglichen werden. Wir haben als Staat gesagt, die Gel-der, die dafür zur Verfügung gestellt werden, bleiben steuerfrei und beitragsfrei, eine wichtige Voraussetzung. Das haben wir erfüllt, und an der Frage wollen wir weiterarbei-ten. Sie haben gesagt, heute um 10.30 Uhr treffe ich mich mit dem Vorstand der IG Metall und den Rentenversicherungsträgern. Wir wollen auf der Grundlage auch der Daten der Rentenversicherer sprechen, was man in dieser Frage als Unterstützung machen kann.
Nutz: Die IG Metall hat ja auch mit Ausstieg gedroht, wenn man dort zu keiner Lösung kommt. Ist das ein Druck, den Sie sich so gefallen lassen können?
Riester: Nein! Ich empfinde das auch gar nicht als Druck, weil ich das auch nicht ernst nehme. Das muss ich ganz offen sagen. Den Stil finde ich auch nicht in Ordnung, ganz gleich ob das von der IG Metall oder vom BDI kommt. Das Drohpotenzial, aus einem solchen Bündnis auszusteigen, schlägt letztendlich immer gegen die zurück, die es aus-sprechen. Klaus Zwickel hat das auch korrigiert. Er hat am Gewerkschaftstag gesagt, wir werden im Bündnis für Arbeit bleiben, weil es dazu keine bessere Alternative gibt.
Nutz: Herr Riester, es gibt noch ein aktuelles Thema, das jetzt weniger mit dem Geburtstag des DGB zu tun hat. Das ist die Frage der Vermögensabgabe. Da gibt es of-fenbar innerhalb der Regierung, sprich der SPD, kein einhelliges Bild. Finanzminister Ei-chel lehnt es ab, Bundeskanzler Schröder äußert sich nicht klar. Wie stehen Sie zu die-sem Thema?
Riester: Ich denke, dass wir im Moment keine zusätzlichen Steuererhöhungen ma-chen können. Klar ist, dass wir natürlich die hohen Vermögen beteiligen müssen, aber im Moment stehen zwei große Projekte an, und wir können nicht laufend mit anderen Bot-schaften die Projekte sozusagen von unten her unterhöhlen. Das erste große Projekt ist, dass wir die Rentenreform zukunftssicher und armutsfest machen. Das zweite große Pro-jekt ist, dass wir den dick überschuldeten Haushalt der alten Regierung entschulden und damit eine Haushaltskonsolidierung machen. Dann kommen die nächsten Schritte. Ich möchte jetzt im Moment nicht, dass diese wichtigen Projekte mit einer erneuten Debatte über eine Steuererhöhung verbunden werden.
Nutz: Das heißt, Sie lehnen im Augenblick die Vermögensabgabe ab, können sich aber vorstellen, dass es in späterer Zukunft dazu kommt?
Riester: Das kann man in Zukunft nicht ausschließen, und ich denke, kein Politiker kann Ihnen sagen, was er auch dauerhaft ausschließt. Ich sage auch sehr deutlich als Arbeitsminister: Natürlich ist es völlig richtig, dass wir die Leistungsstarken in dieser Re-publik beteiligen müssen an den Aufgaben, die diese Gesellschaft braucht. Das ist ganz, ganz wichtig, auch in der Frage der Verteilungsgerechtigkeit. Nur im Moment halte ich es für absolut schlecht, über eine neue Steuer zu reden, bevor die alten Projekte, die wichtig sind, in trockenen Tüchern sind.
Nutz: Sie haben eben noch einmal vom Rentensystem gesprochen, das reformiert werden müsste. Wird es denn eine Neuauflage Ihrer Idee der sogenannten Zwangsrente geben, also der verordneten Privatvorsorge? Haben Sie dort jetzt mehr Rückenwind?
Riester: Zuerst finde ich den Begriff der Zwangsrente absolut töricht. Wir sprechen doch bei unserem Rentensystem auch nicht von Zwangsrente. Jeder Mensch, der Arbeit-nehmer ist, ist natürlich verpflichtet, für sein Alter Vorsorge zu machen. Das ist eine Selbstverständlichkeit. Mit solchen Begriffen verängstigt man Menschen. Ich nehme etwas amüsiert zur Kenntnis, dass zunehmend mehr Großorganisationen, bei-spielsweise die CSU in Bayern, nun eine verbindliche zusätzliche Eigenvorsorge für das Alter fordern. Oder der Bund der deutschen Arbeitgeber, oder auch Teile meiner Fraktion, Teile der Grünen, also zunehmend mehr verstehen, dass es wichtig ist, dass Eigenvor-sorge ein zusätzlicher Baustein ist für das Alter.
Nutz: Das heißt es gibt eine neue Chance, dieses Thema noch mal gemeinsam anzugehen?
Riester: Natürlich. An der Sache arbeiten wir. Ich habe jetzt auch einen konkreten Vorschlag eingebracht, wie wir gerade die niederen Einkommen zusätzlich staatlich un-terstützen können, dass sie in die Lage versetzt werden - das ist ja die entscheidende Frage -, auch zusätzliche Eigenvorsorge zu bilden.
Nutz: Vielen Dank! - Das war Bundesarbeitsminister Walter Riester zum 50. Gründungstag des Deutschen Gewerkschaftsbundes vor aktuellem Hintergrund.