Gerner: Herr Schäuble, welche Bedeutung hat die Geburtsstunde der Montanunion für das Europa von heute? Schäuble: Es war der erste Schritt. Aus den drei Verträgen - erst die Montanunion, Euratom und die Wirtschaftsgemeinschaft - sind dann die Europäischen Gemeinschaften entstanden. Es waren erst die sechs Länder, die mit der wirtschaftlichen Integration vorangegangen sind, und die immer gesagt haben: Es soll eine politische Union werden eines Tages, das war das Ziel, und es soll ein großes Europa werden. Es sollte ganz Europa umfassen, und insofern war schon in der Gründung der Europäischen Gemeinschaften und beim Gründungsvertrag der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl das Ziel, an dem wir heute arbeiten; es stand vor Augen. Insofern hat sich das Ziel nicht geändert. Wir sind ihm allerdings viel näher gekommen.
Gerner: Ein Motiv war ja damals, das deutsche Wirtschaftspotential direkt nach dem Krieg in den Griff zu bekommen. Jetzt bei der Osterweiterung sagen viele, und viele befürchten es: Deutschland geht gestärkt und als klarer Sieger möglicherweise aus der Osterweiterung hervor. Vor allen den Franzosen bereitet das Bauchschmerzen. Was sagen Sie dazu?
Schäuble: Ich glaube, aus der Osterweiterung werden alle gestärkt hervorgehen. Zunächst einmal ist richtig, dass die Osterweiterung sicherlich auch für Deutschland von Vorteil sein wird. Das widerlegt jene Ängste der Mitbürger, die Sorgen haben, dass mit dem Beitritt von Polen, Tschechien und anderen osteuropäischen Ländern wir wirtschaftliche Nachteile erleiden würden. Das glaube ich nicht, dass das auf mittlere Sicht richtig sein wird. Wir werden davon profitieren. Aber alle anderen werden auch profitieren, auch die Franzosen, auch die Belgier, die Niederländer, die Spanier, die Italiener und die Skandinavier. Eine größere Gemeinschaft ist ja nicht ein Nullsummenspiel, wo der eine verliert, was der andere gewinnt, sondern alle werden wohlhabender, weil die Gemeinschaft insgesamt wirtschaftlich und hoffentlich auch politisch stärker wird.
Gerner: Werden wir denn in einem größeren erweiterten Europa auch mehr teilen lernen müssen, etwa wenn die Osteuropäer auf unseren Arbeitsmarkt kommen?
Schäuble: Ach, erstens mal kommen sie ja heute schon auf unseren Arbeitsmarkt. Und manchmal sind wir ganz froh; wenn Sie zum Beispiel daran denken, als wir im Schwarzwald Weihnachten 1999 diesen schrecklichen Sturm hatten: Diese ungeheuren Waldschäden hätten wir gar nicht bewältigen können in kurzer Zeit, wenn wir nicht die Waldarbeiter aus Osteuropa in großer Zahl gehabt hätten, die uns geholfen haben, das zu bewältigen. Es ist ja im übrigen so: Diejenigen, die befürchten, dass nach einem Beitritt weiterer Länder, weiterer Nachbarn im Osten der Ansturm auf den deutschen Arbeitsmarkt größer wird, die sollten sich einmal noch an die Erfahrungen mit Spanien und Portugal erinnern. Der Zustrom von Arbeitskräften aus Spanien und Portugal - die wir damals übrigens angeworben haben - war vor dem Beitritt Spaniens und Portugals größer, als er später gewesen ist. Und das erklärt sich einfach deswegen: Mit Zugang der Europäischen Union wird ja der wirtschaftliche Wohlstand in allen Teilen, insbesondere den heute schwächeren Ländern, wachsen, und das Bedürfnis, die Heimat zu verlassen, wird dann eher geringer werden.
Gerner: Herr Schäuble, viele fragen sich: Wie soll ein Europa der 25 oder der 30 - maximal - überhaupt funktionieren? Es ist doch jetzt schon schwierig genug, die 15 auf einen Nenner zu bekommen.
Schäuble: Ja, deswegen brauchen wir ja die institutionelle Reform, das, was man in Nizza wenigstens als Vorsatz sich jetzt endlich vorgenommen hat. Wir brauchen einen Verfassungsvertrag - wir sagen das seit langem -, in dem klar geregelt wird, wofür Europa zuständig sein soll. Es muss nicht alles in Zukunft in Brüssel entschieden werden, im Gegenteil. Wir müssen überlegen und prüfen, welche Aufgaben wir besser auf nationaler oder auch auf regionaler Ebene erfüllen können. Zum Beispiel machen wir ja jetzt alle seit BSE die Erfahrung, dass wir vermutlich mit einer stärkeren Rückübertragung von Zuständigkeiten in der Agrarpolitik auf die Mitgliedsstaaten manche Probleme besser lösen könnten als wir sie heute in der europäischen Agrarpolitik gelöst haben . . .
Gerner: . . . aber gerade das Problem BSE - diskutiert von 30 Ländern - ? Da fallen die Mehrheiten ja noch schwieriger, geschweige denn, gemeinsame Außenpolitik, wenn ich an die Türkei und ähnliches denke . . .
Schäuble: Nun ja, wenn wir geklärt haben, wofür Europa zuständig sein soll und was in Zukunft die Nationalstaaten - die Mitgliedsstaaten - machen sollen, dann müssen wir natürlich für die Bereiche und Aufgaben, die Europa entscheiden muss, Entscheidungsverfahren haben, die dann auch zu effizienten Entscheidungen führen. Das heißt, wir müssen weg vom Einstimmigkeitsprinzip, was ja jetzt die Verhandlungen - insbesondere auf europäischen Gipfeln - immer so schwierig macht. Das eine bedingt das andere. Erst muss klar sein, wofür Europa zuständig ist. Und dann muss man natürlich regeln, dass in dem Bereich, in dem Europa zuständig ist, es auch wirklich mit dem Mehrheitsprinzip zu klaren Entscheidungen kommt, wobei es natürlich Mehrheiten sein müssen - nicht nur der Bevölkerung, sondern auch Mehrheiten der Mitgliedsstaaten. Also doppelte Mehrheiten. Aber das ist ja nichts Neues.
Gerner: Was soll Europa am Ende sein? Ein föderales Gebilde, wie es Joschka Fischer vorgeschlagen hat? Es ist ja offenkundig: Einige wollen schneller voran, wollen mehr Integration als andere. Wäre das jetzt ein geeigneter Zeitpunkt, auch vor diesem historischen Hintergrund sich daran zu erinnern?
Schäuble: Wir werden Flexibilität brauchen. Das heißt, der Langsamste darf nicht das Tempo des europäischen Geleitzuges bestimmen. Das war übrigens in der europäischen Geschichte immer so, daran erinnert uns ja auch gerade heute das 50-jährige Jubiläum des Montanunion-Vertrages. Es waren 6 Länder, die vorangegangen sind.
Gerner: Aber wenn Sie sagen, die Langsamsten dürfen nicht das Tempo bestimmen: Ist das dann eine Ist-Zustandsbeschreibung der EU jetzt?
Schäuble: Im Augenblick ist es mit dem Prinzip der Einstimmigkeit teilweise tatsächlich so der Fall. Wir werden Bereiche haben - etwa in der gemeinsamen Außenpolitik; sie haben vorher das mit der Türkei genannt. Da wird es sicherlich noch lange so sein, dass nicht alle Mitgliedsstaaten zu derselben Außenpolitik kommen werden. Einige der Mitgliedsstaaten sind ja heute noch nicht Mitglieder des Atlantischen Bündnisses; es sind sogenannte ‚neutrale Staaten'. Das muss man durch Flexibilität dann umgehen. In der wirtschaftlichen Integration mit einem gemeinsamen Markt müssen alle teilhaben; da kann man nicht unterschiedliche Regelungen haben. Aber in anderen Bereichen wird man mit Flexibilität weiter voranschreiten müssen.
Gerner: Das heißt, Sie nennen es nicht ‚Kerneuropa', aber ein ‚Europa der zwei Geschwindigkeiten'?
Schäuble: Man kann es auch ‚Kerneuropa' nennen. Ich bin immer dagegen, dass man aus Begriffsfragen dann plötzlich Streitfragen macht. Ob man es ‚Kerneuropa' nennt - der Begriff stammt von Karl Lamers und mir -, ob man von ‚differenzierten Geschwindigkeiten' oder von ‚variabler Geometrie' redet, das ist zweitrangig. Entscheidend ist, dass wir Flexibilität brauchen. Niemand soll die Sorge haben, dass er quasi durch die Europäer vergewaltigt wird. Wenn die Dänen eben an bestimmten Integrationsschritten nicht teilhaben wollen, dann sagen wir ‚ok, dann lasst Ihr's'. Großbritannien beispielsweise nimmt ja an der europäischen Währung jetzt auch nicht teil. Dann sagen wir eben: Gut, wenn die Briten jetzt nicht wollen, sollen sie es lassen. Sie werden eines Tage dazustoßen.
Gerner: Warum haben wir es aber noch nicht, dieses Kerneuropa, wenn wir seit über 10 Jahren darüber diskutieren?
Schäuble: Ja, in der Europäischen Währungsunion haben wir es ja de facto, nicht wahr. Es sind ja nicht alles Mitgliedsländer der Europäischen Union, die jetzt an der gemeinsamen Währung teilnehmen, sondern die, die wollen, nehmen teil, wenn sie die Voraussetzungen erfüllen. Und die anderen, die nicht wollen, die nehmen nicht, oder die die Voraussetzungen noch nicht erfüllen können. Die müssen warten, bis sie es geschafft haben. Gerner: Jetzt haben Sie den Euro selbst angesprochen. Ich frage Sie: Warum gelingt es den Politikern in Deutschland bisher nicht, den Rest an skeptischer Stimmung - und der ist gehörig - in der Bevölkerung gegen den Euro auszumerzen?
Schäuble: Ich glaube, dass zum Teil der Fehler gemacht wird, dass wir den Menschen nicht erklären, dass der Euro ja schon sehr positive Wirkungen gezeigt hat. Wenn Sie sich erinnern: Wir hatten im letzten Jahr erhebliche Preissteigerungen auf den Rohölmärkten. Die erdölexportierenden Länder haben die Preise gewaltig erhöht. Das hat uns zwar einige Schwierigkeiten auf dem Benzin- und Heizölmarkt verursacht, aber doch lange nicht solche wirtschaftlichen Schwierigkeiten, wie wir sie in den 70er Jahren hatten, als die Ölpreise auch einmal vergleichbar gestiegen sind. Dort hatten wir gewaltige Schwierigkeiten bei den Exporten und Importen bekommen. Das hatten wir im vergangenen Jahr gar nicht, weil die europäische Währung, die ja de facto schon existiert, dazu geführt hat, dass unsere Exporte und Importe im Wesentlichen davon nicht belastet worden sind. Also, der Euro verbessert für alle die wirtschaftliche Stabilität gegenüber von Einflüssen, die von außerhalb auf uns zukommen.
Gerner: Wäre ein größeres Europa mit sehr unterschiedlichen Wirtschaften ein Risiko für einen starken Euro?
Schäuble: Also, wer am Euro teilnimmt, muss ja Kriterien des Maastricht-Vertrages erfüllen - Stabilität und ein hinreichendes Wachstum und geordnete Staatsfinanzen. Das ist die Voraussetzung. Soweit die Voraussetzungen erfüllt sind, ist die Teilnahme von Ländern kein Risiko, sondern ein Gewinn für den Euro.
Gerner: Für viele Menschen, Herr Schäuble, ist die EU Synonym für Brüsseler Bürokratie; undurchschaubare Strukturen werden da immer wieder genannt. Würde eine europäische Regierung mit einem Präsidenten, von den Bürgern Europas direkt gewählt - auch dies ein Fischer-Vorschlag -, dieses Defizit beseitigen?
Schäuble: Ich bin nicht so sehr für die Wahl eines Präsidenten in einer Direktwahl, obwohl man das auch diskutieren kann. Ich halte mehr davon, dass wir die Europäische Kommission quasi zur Regierung weiterentwickeln. Aber das setzt natürlich voraus, dass sie vom Parlament gewählt wird. Wir müssen überhaupt die Rolle des Europäischen Parlamentes stärken.
Gerner: Ja, und das setzt natürlich auch voraus, dass sich alle Kanzler und alle Ministerpräsidenten erheblich zurücknehmen.
Schäuble: Ja, das ist klar. Wenn wir in den Bereichen, wo Europa zuständig ist, ein starkes Europa wollen, dann heißt das natürlich, dass die nationalen Regierungen das nicht mehr so bestimmen können. Deswegen ist natürlich auch wichtig, dass den Mitgliedsstaaten genügend Raum für eigene Entscheidungen bleibt. Denn niemand in Europa will, dass sich die Mitgliedsstaaten quasi auflösen zugunsten einer Europäischen Union. Insofern wird es ein föderales Gebilde sein, wo ein Teil staatlicher Aufgaben durch die Europäische Union erfüllt wird, und ein anderer - auch großer Teil - auch in Zukunft durch die Mitgliedsstaaten.
Gerner: An einer Sache, Herr Schäuble, komme ich abschließend nicht vorbei. Der SPIEGEL schreibt, dass das Kanzleramt Pläne hat, Sie als Beauftragten der Bundesregierung für den EU-Verfassungskonvent zu benennen. Können Sie sich vorstellen, dass Sie das machen?
Schäuble: Ja, ich hab es auch gelesen, und was ich mir nicht vorstellen kann, dass ich das kommentiere, solange ich gar nicht darauf angesprochen worden bin. Ich bin nicht von der Bundesregierung bisher angesprochen worden, und deswegen enthalte ich mich auch jeden Kommentars.
Gerner: Gerhard Schröder hat eine Menge Oppositionspolitiker in Regierungsarbeiten eingeweiht - Burghard Hirsch bis Rita Süßmuth fallen mir da ein. Haben Sie einen gewissen Respekt vor dieser Umarmungsstrategie?
Schäuble: Es zeigt jedenfalls, dass er feststellt, dass es in der CDU gute Leute gibt und dass er für viele Aufgaben offenbar im eigenen Lager nicht die allerbesten sieht, sondern eher bei der Union. Und darin hat er ja nicht ganz unrecht.
Gerner: Wolfgang Schäuble war das, Europastratege der CDU und jetzt Präsidiumsmitglied der Partei zu 50 Jahren Montanunion. Das Gespräch haben wir aufgezeichnet.
Link: Interview als RealAudio