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50 Jahre Ganztagsschule
Es scheitert an Schulküchen, Essensräumen - und Geld

Ursprünglich sollten Ganztagsschulen ermöglichen, dass beide Eltern arbeiten gehen können. Doch sie bedeuten auch Chancengleichheit und bessere Bildung. Trotzdem sind Ganztagsschulen unbeliebt. Wie steht es 50 Jahre nach ihrer Einführung um die Ganztagsschule in Deutschland?

Von Britta Mersch | 02.07.2019
13.05.2019, Baden-Württemberg, Remshalden: Schüler melden sich im Unterricht. Foto: Sebastian Gollnow/dpa | Verwendung weltweit
Ganztagsschulen sollen zu mehr Chancengleichheit von Schülern beitragen. In Deutschland fehlen derzeit bis zu 660.000 Plätze an Ganztagsschulen. (picture alliance / dpa / Sebastia Gollnow )
"Wenn wir uns generell auf den Komplex Ganztagsschule konzentrieren, muss man sich schon die Ausgangssituation des Jahres 1970 ins Gedächtnis rufen", sagt der Bildungsforscher Klaus Klemm. Er war bis 2007 Professor an der Universität Duisburg-Essen. Die Entstehung von Ganztagsschulen in Deutschland hat er von Beginn an wissenschaftlich beobachtet und begleitet – noch heute forscht er zu diesem Thema.
Ende der 60er-, Anfang der 70er-Jahre waren es nur sehr wenige Schüler, die Ganztagsschulen besuchten. Doch das sollte sich ändern: "Das berühmte katholische Arbeitermädchen vom Lande als Inkarnation von Ungleichheiten war damals in aller Munde. In dem Diskussionskontext hat der Deutsche Bildungsrat empfohlen, Gesamtschulen als Ganztagsschulen und Ganztagsschulen – unabhängig von der Gesamtschulfrage – einzurichten", so Klemm. "Da war immer auch die Idee, die Ungleichheit in der Bildungsbeteiligung aufzubrechen. Keiner hat geglaubt, man könne sie völlig verschwinden lassen. Aber zumindest aufbrechen und abschwächen."
Chancengleichheit für Kinder, Berufstätigkeit für Eltern
Der Deutsche Bildungsrat war 1965 gegründet worden, um die Länder in Bildungsfragen zu beraten. Er empfahl unter anderem den Aufbau von Ganztags- und Gesamtschulen. Am 3. Juli 1969, also vor 50 Jahren, beschloss die Kultusministerkonferenz das Experimentalprogramm für Ganztagsschulen.
Es ging nicht nur um Chancengleichheit, sagt Klaus Klemm: "Die Ganztagsschule soll sicherstellen, dass die Kinder auch außerhalb der Unterrichtszeit beaufsichtigt sind. Sie soll also den Eltern die Erwerbstätigkeit von Mutter und Vater ermöglichen."
Die Politik verfolgte ein ambitioniertes Ziel. Innerhalb von 15 Jahren sollten 15 bis 30 Prozent aller Schüler eine Ganztagsschule besuchen. "Das war schon ein Startsignal. Ein Startsignal, das bei der Ganztagsschule immer den Aspekt der besseren Förderung der Kinder aus bildungsfernen Schichten im Auge hatte, weil in der Ganztagsschule erwartet wurde, dass dann zum Beispiel Hausaufgaben in der Schule gemacht werden. Und die Frage, ob Kinder Hausaufgaben anständig bearbeiten können, nicht davon abhängt, ob die akademische Mutter zu Hause über den Schulaufgaben wacht oder nachhilft. Oder ob das gute Elternhaus das kaufen kann, als Nachhilfe. Sondern dass eben das, was im Unterricht noch nicht hinreichend erlernt worden ist, in der Ganztagsschule geleistet werden könnte."
Deshalb sei der Aufbau von Ganztagsschulen auch mit der Einrichtung von Gesamtschulen verknüpft worden, in der alle Kinder gemeinsam unterrichtet werden – unabhängig von ihrem Leistungsniveau. "Viele der ersten Gesamtschulen etwa in Nordrhein-Westfalen waren von Anfang an Ganztagsschulen. Aber das ist nicht bundesweit so gewesen", so Klemm. "Die hessischen Gesamtschulen sind in der Regel Halbtagsschulen gewesen."
Ganztagsschule als Familienkiller?
Der Modellversuch kam allerdings nur schleppend voran. Das gesellschaftliche Klima sei noch nicht reif gewesen für Ganztagsschulen, erinnert sich der Bildungsforscher Klemm. Ende der 1960er-, Anfang der 1970er-Jahre war es in den meisten deutschen Familien selbstverständlich, dass Frauen nach der Geburt des ersten Kindes zu Hause blieben. Geldverdienen war in vielen Haushalten Männersache. Es war eine ähnliche Diskussion wie noch vor einigen Jahren beim Kita-Ausbau.
Auch Politiker waren damals der Meinung, dass Schulkinder am Nachmittag am besten von der Mutter betreut werden sollten. Klaus Klemm: "Ich habe mir nochmal ein Zitat aus einer Rede rausgesucht, die Lothar Späth, damals Ministerpräsident in Baden-Württemberg, 1980 im Landtag gehalten hat. Und da sagt er eigentlich, die Ganztagsschule ist der Versuch, die Kinder aus den Familien herauszureißen. Ganztagsschule schadet der Familie und deshalb ist es zumindest in den konservativen Ländern und in den konservativen Kreisen sehr viel später erst aufgebrochen."
Wohl auch deshalb passierte beim Ausbau der Ganztagsschulen anfangs nur wenig. Das erkenne man auch daran, dass die wissenschaftliche Auswertung des Modellversuchs kaum wahrgenommen worden sei, sagt Klaus Klemm.
"Die 1981 publizierte Auswertung des Ganztagsschulversuchs taucht in nahezu keinem Literaturnachweis auf. Das ist vergessen worden. Das ist ausgewertet worden, aber die Ganztagsschule wurde damals gar nicht sonderlich ausgebaut, deshalb hat auch die Auswertung keinen so richtig interessiert."
Vier Mädchen springen Hand in Hand auf einer Straße. Sie sind von hinten zu sehen.
Viele Eltern wollen auch gar nicht, dass ihre Kinder den ganzen Tag in der Schule verbringen. (EyeEm / Zelma Brezinska)
"Aber dann in den 80er-, 90er-Jahren gab es ja Bestrebungen, die Halbtagsschulen etwas auszubauen", sagt der Schulentwicklungsforscher Heinz Günter Holtappels. "In der Grundschule beispielsweise Schule bis mittags, Schule, die ein zusätzliches Betreuungsprogramm hatte, auch in der Sekundarstufe hat man dies gemacht, und hier waren eigentlich die Bestrebungen, sowohl aus der Wirtschaft wie auch aus den Gewerkschaften, Frauenverbänden, die natürlich verwiesen haben auf die notwendige Vereinbarkeit und Familie und Beruf."
Heinz Günter Holtappels ist Professor am Institut für Schulentwicklungsforschung der Technischen Universität Dortmund. Zu seinen Forschungsgebieten gehört die Entwicklung von Ganztagsschulen: "Und deshalb gab es immer aus sozialpolitischen Gründen zusätzliche Lernzeiten für Schülerinnen und Schüler, die natürlich auch der Förderung zugutekommen sollten, aber vornehmlich ein Betreuungsprogramm waren, um diese Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu gewährleisten. Und das ging bis weit in die 1990er-Jahre hinein und in verschiedenen Ländern gab es dort durchaus auch umfangreiche Programme, Schulen damit auszubauen."
Der Pisa-Schock
Die Fördermöglichkeiten für Kinder seien nicht immer das ausschlaggebende Argument gewesen: "Die Förderung der Kinder stand im Vordergrund – insbesondere dort, wo man Hauptschulen ausgestattet hat mit Ganztagsbetrieb, weil wir da lernschwächere Kinder und Jugendliche vorfinden. Aber auch in Gesamtschulen, weil sie ja die gesamte Jahrgangsbreite haben im Hinblick auf die Leistungsspreizung."
Trotzdem blieb die Ganztagsschule noch lange ein Stiefkind der deutschen Bildungspolitik. Erst mit der Pisa-Studie im Jahr 2001 kam neuer Schwung in die Diskussion. Denn mit der Studie ging ein Beben durch die Republik, der sogenannte Pisa-Schock.
In Mathematik, beim Lesen und in den Naturwissenschaften schnitten die deutschen Schüler im internationalen Vergleich unterdurchschnittlich ab. Nur in einem Punkt, einem negativen, lag Deutschland ganz vorne: bei der Bildungsungerechtigkeit.
Die OECD, also die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, stellte in ihrer damaligen Pisa-Studie fest, dass es kein anderes untersuchtes Land gibt, in dem der Schulerfolg so stark von der sozialen Herkunft abhängt.
Offener und gebundener Ganztag
Die Politik musste nun schnell reagieren, erinnert sich Bildungsforscher Klaus Klemm: "Und dann gab es schon 2001, im Dezember 2001, kurz nach Veröffentlichung der Pisa-Studie, ein Handlungsprogramm der Kultusministerkonferenz. Wo das Stichwort "Ausbau der Ganztagsschule" als ein Handlungsfeld, mit dem man auf die miserablen Ergebnisse der Schüler bei Pisa reagieren wollte, formuliert wurde."
Das Thema Ganztag habe auch Einzug in den Wahlkampf erhalten. Damals war die SPD-Politikerin Edelgard Bulmahn Bundesbildungsministerin, und Gerhard Schröder wollte ein zweites Mal Bundeskanzler werden. "Das bildungspolitische Thema im Wahlkampf war Ausbau der Ganztagsschule. Und sie haben im Wahlkampf gesagt: Wir geben 4 Milliarden Euro vom Bund in ein Ausbauprogramm für Ganztagsschulen, das hat eigentlich eine Zündungskraft gehabt."
Freiheiten der Länder
Nach der gewonnenen Bundestagswahl 2002 brachte die rot-grüne Bundesregierung das Investitionsprogramm "Zukunft Bildung und Betreuung", kurz IZBB, auf den Weg. Insgesamt vier Milliarden Euro wurden zwischen 2003 und 2009 zur Verfügung gestellt, um die Ganztagsschulen in Deutschland auszubauen.
Der Erziehungswissenschaftler Heinz Günter Holtappels hat den Ausbau der Ganztagsschulen wissenschaftlich begleitet. Er ist Mitautor der Steg-Studie, mit der die Entwicklung der Ganztagsschulen in Deutschland untersucht wird. "Das war eine bildungspolitische Wende für die Ganztagsschulen. Das heißt, man hat jetzt nicht mehr nur die sozialpolitische Bedeutung der Betreuung hervorgehoben, sondern auch deutlich gemacht, dass alle Kinder und Jugendliche mehr Bildungschancen erhalten sollen und dass wir auch diese unselige Kopplung des Bildungserfolgs an die soziale Herkunft reduzieren müssen. Das heißt, der Fördergedanke stand dort durchaus mit im Mittelpunkt, aber nicht allein."
In den Bundesländern gab es gesetzliche Vorgaben zum Ausbau des Ganztags. Die Kultusministerkonferenz definierte, was unter einer Ganztagsschule zu verstehen ist. Trotzdem hatten die Schulen von Anfang an viele Freiheiten, wie sie den Ganztag gestalten wollten.
"Und diese Freiheit hat natürlich dazu geführt, dass sich die Ganztagsschullandschaft sehr unterschiedlich gestaltet hat", so Holtappels. "Das heißt, die Schulen haben zum Teil sehr dezidiert an Förderzielen festgehalten. Andere Schulen dagegen haben ein Ergänzungsprogramm gemacht in solchen Fachgebieten, die sonst im Stundenplan nicht so hochgewichtig sind wie Sport, Kunst, Werken, Musik, und haben gesagt: Im Sinne einer ganzheitlichen Bildung wollen wir das stärken. Was ja durchaus auch Sinn macht. Aber man darf auf der anderen Seite nicht vernachlässigen, dass viele Schülerinnen und Schüler in den Kernfächern weitere Lernunterstützung brauchen, wenn man diese Kopplung des Bildungserfolgs an die soziale Herkunft reduzieren will. Und das wird leider bis heute noch vernachlässigt."
Heute besucht fast jeder zweite Schüler in Deutschland eine Schule mit Ganztagsangebot – das sind mehr als drei Millionen Kinder, wie aktuelle Zahlen der Kultusministerkonferenz zeigen. Die Quote ist in den Bundesländern sehr unterschiedlich: Die meisten Ganztagsschüler gibt es in Hamburg, Sachsen und Berlin.
Größere Akzeptanz in Ostdeutschland
Insgesamt sei die Akzeptanz von Ganztagsschulen in den neuen Bundesländern schon immer höher gewesen, sagt Bildungsforscher Klaus Klemm: "Die DDR-Schulen waren keine Ganztagsschulen, aber die DDR-Schulen waren stark, zumindest für die Gruppe der bis zu 12-Jährigen, verbunden mit den Hort-Angeboten. Also, in der DDR war die frühkindliche Betreuung in Krippen und Kindergärten, und auch die begleitende Betreuung in Schulen und Horten war Tradition. Die DDR-Frauen waren ja auch viel stärker im Beruf und viel früher im Beruf engagiert als die westdeutschen Frauen. In den neuen Ländern gab es die Aversion gegen die Ganztagsschulen nicht. Da war das eigentlich ein Anspruch, dass der Staat das sichert, dass die Frauen erwerbstätig sein können."
Inzwischen gibt es in Deutschland etwa 20.000 Ganztagsschulen. Bundesländer wie Sachsen, das Saarland oder Hamburg haben ihre Angebote fast flächendeckend ausgebaut. Allerdings sind die Ganztagsangebote oft freiwillig, das ist der sogenannte Offene Ganztag. Das heißt, der Unterricht findet am Vormittag statt. Nachmittags gibt es die Möglichkeit der Betreuung und vielleicht Sport- oder Bastelangebote.
"Und es gibt auf der anderen Seite den sogenannten gebundenen Ganztag", erklärt Udo Beckmann, Vorsitzender des Verbandes Bildung und Erziehung. "Das heißt, dass die Schule insgesamt unter dem Ganztagskonzept steht, an dem auch alle Schülerinnen und Schüler teilnehmen und der rhythmisiert ist über den ganzen Tag hinweg, wechselnde Angebote zwischen Unterricht, zwischen Fördermaßnahmen, anderen Projekten."
Es fehlen Schulküchen und Vorbereitungsräume
Dieser gebundene Ganztag ist beispielsweise üblich an Integrierten Gesamtschulen, an denen Schüler mit unterschiedlichen Leistungsniveaus gemeinsam unterrichtet werden. Hier ist der Ganztag verpflichtend für alle Schüler. Doch dominiert an den meisten Schulen, vor allem an Grundschulen, das freiwillige Modell.
Das entspreche vielerorts auch den Wünschen der Eltern, sagt Beckmann: "Nicht alle Eltern möchten, dass ihr Kind ganztägig in der Schule ist, sondern sie möchten den Nachmittag mit ihren Kindern gestalten. Das sind solche Aspekte, die da eine Rolle spielen."
Udo Beckmann plädiert dafür, dass mehr Schulen den gebundenen, also verpflichtenden Ganztag einführen. Aus Sicht vieler Bildungsforscher ist das auch sinnvoll für den Unterricht. Doch scheitere der gebundene Ganztag vielerorts an den Rahmenbedingungen: an zu kleinen Räumen, fehlenden Schulküchen oder Essensräumen, am Geld, an der Ausstattung.
Kinder Kochen in der Schulküche der Adam-Friedrich-Oeser-Schule in Leipzig
Es fehlt an Schulküchen und Essräumen, um Ganztagsschulen zu ermöglichen. (picture alliance / ZB / Jan Woitas)
"Das heißt aber gleichzeitig, dass dann das notwendige Raumkonzept zur Verfügung steht. Damit meine ich nicht nur Differenzierungs- und Lernräume für die Schülerinnen und Schüler, sondern auch das Thema Lehrerarbeitsplätze, was auch gerne vergessen wird, aber sicherlich genauso entscheidend ist", so Udo Beckmann. "Und dass wir die Möglichkeit haben, möglichst viele andere Professionen außerhalb von Lehrkräften in diesen Ganztag einzubinden."
Die Kölner Heliosschule ist ein Beispiel dafür, wie der gebundene Ganztag gestaltet werden kann. Die städtische Schule wurde erst vor einigen Jahren gegründet. Die Kölner Universität hat das Konzept mitentwickelt und begleitet die Schule wissenschaftlich. Vieles soll hier anders laufen als an herkömmlichen Schulen.
"Ich bin am iPad und mache gerade mein Wolfsthema", erzählt ein Schüler. "Und worum geht es da genau?" – "Um die wilden Wölfe in Deutschland und wann sie ausgerottet wurden und wie sie jetzt wiedergekommen sind."
Die Schüler beschäftigen sich mehrmals am Tag eigenständig mit Aufgaben und Projekten, klassischer Unterricht findet kaum statt. Die Kinder der Jahrgangsstufen eins bis vier lernen gemeinsam, alle bleiben bis um halb vier am Nachmittag in der Schule. Begleitet werden sie von einem Team aus Sonderpädagogen, Sozialpädagogen und Lehrern.
Birgit Conrad ist Diplom-Sozialpädagogin. Sie koordiniert den Ganztag an der Heliosschule: "Ich bin morgens auf jeden Fall auch schon da. Es gibt eine Menge Arbeit zu machen, und wir sind an der Schule so, dass die pädagogischen Fachkräfte und die Pädagogen des Ganztags schon den ganzen Tag kommen."
Rhythmisierter Ganztag
Das sei ein Unterschied zu vielen anderen Schulen. "An den meisten Schulen gibt es ein additives System. Morgens ist das die Schule, ganz normaler Schulunterrichtablauf. Manchmal gibt es Überschneidungen der Lehrerinnen und Pädagogen und dann kommt der Ganztag mit Essen und mit der Freizeit danach. Das haben wir ja an dieser Schule ordentlich umgeändert."
Die Kölner Helios-Schule hat den sogenannten rhythmisierten Ganztag eingeführt. Das heißt, Lernzeiten und freie Phasen wechseln sich den ganzen Tag über ab. Fachlehrer und Pädagogen haben das Ziel, sich je nach Situation eng abzustimmen und auf die individuellen Bedürfnisse der Kinder einzugehen.
"Manchmal ergibt die Analyse, dass ein Kind noch etwas an Soft Skills lernen muss, um sich einem Lerninhalt zu widmen", so die Pädagogin. "Und das ist dann die tolle Arbeit in einem multiprofessionellen Team, dass die Pädagogen dann sagen können: Lass mich doch erst mal das und das hier mit diesem Kind machen."
Mit diesem Konzept ist die Heliosschule in Köln etwas Besonderes. Denn an den meisten Ganztagsschulen in Deutschland sind die Lehrer vom Vormittag oft gar nicht in die Gestaltung der Nachmittagsangebote involviert. Sondern private Träger sind für die Betreuung am Nachmittag verantwortlich und stemmen ihn in weitgehender Eigenregie. Ein Austausch findet oft nicht oder nur stellenweise - etwa bei der Hausaufgabenbetreuung - statt.
Der Schulentwicklungsforscher Heinz Günter Holtappels ist der Ansicht, dass die Potenziale von Ganztagsschulen längst noch nicht ausgeschöpft werden. "Das was dort gemacht wird im außerunterrichtlichen Bereich sollte keine Wiederholung sein dessen was dort gemacht wird. Es sollte aber schon an den Unterricht anknüpfen, wenn es fachbezogen ist oder Verbindungen hat zu einzelnen Fächern. Das heißt, diese Absprachen und diese Koordination, die muss da sein. Und die ist oft nicht da, weil das Personal, was nachmittags aufläuft in den Ganztagsschulen ein anderes ist als das, was den Unterricht macht. Das ist eines der strukturellen Probleme."
Andere Länder mit besseren Ergebnissen
Zwar werden die Ganztagsangebote in Deutschland kontinuierlich ausgebaut. Trotzdem sieht Holtappels noch Handlungsbedarf, denn die Konsequenzen, die die Politik aus aktuellen Forschungsergebnissen zieht, seien noch nicht zufriedenstellend: "Wir sind etwas erstaunt und enttäuscht, dass die Politik auf die Ergebnisse der StEG-2-Studie nicht reagiert hat. Denn da sieht man sowohl in der Primarstufe als auch in der Sekundarstufe, dass die Lernzuwächse der Schülerinnen und Schüler sehr bescheiden sind und von einigen Bedingungen abhängen – wenn überhaupt Lernzuwächse erzielt werden. Hierauf muss man eigentlich reagieren. Da ist nicht viel passiert."
Beispiele aus Kanada oder Skandinavien zeigten, dass Länder mit überzeugenden Ganztagsschulkonzepten in internationalen Vergleichen besser abschneiden. "Und das wird sicherlich nicht alleine an den Unterrichtsphasen liegen, sondern an dem, was außerhalb der Stundentafel an Lernaktivitäten stattfindet. Wir können daraus lernen, das sind dann aber auch gebundene Modelle und das sind in der Regel meistens integrierte Schulen. Wenn wir nach Kanada schauen oder Skandinavien, auch in die USA oder asiatische Länder, sie haben alle eine Schulform in der Sekundarstufe. Aber sie schaffen es in der Regel auch, in der Primarstufe zu besseren Ergebnissen zu kommen als Deutschland."
Es sei die Aufgabe der Bildungspolitik, den Schulen beim Ausbau des Ganztags stärker unter die Arme zu greifen, sagt der Erziehungswissenschaftler: "Ich will mich mit Vorwürfen zurückhalten, aber man muss sicherlich sagen, dass man offensichtlich zu optimistisch war, dass die Schulen das alles alleine umsetzen. Wir wissen aus der Schulentwicklungsforschung, dass man Schulen bei Innovationen unterstützen muss und dass man sie begleiten muss. Das kostet aber viel Geld. Wir brauchen ja Schulentwicklungsberaterinnen und -berater, die die Schule einige Wochen begleiten und diesen Prozess unterstützen. Das ist das eine. Und das andere ist, dass die Ausstattung in vielen Schulen verbessern muss."
Ab 2025 sollen Grundschulkinder sogar einen Rechtsanspruch auf einen Ganztagsschulplatz haben. So steht es im Koalitionsvertrag der Bundesregierung. Von diesem Ziel ist Deutschland derzeit noch weit entfernt: Einer aktuellen Studie zufolge fehlen bundesweit bis zu 660.000 Plätze.