Archiv

50 Jahre 'Kursbuch'
Sprachrohr der Kritik

Das 1965 erstmals herausgegebene "Kursbuch" war über Jahrzehnte hinweg das wichtigste Kulturmedium: der Ort des Protests, die Verteidigung der Revolte. Nach mehreren Verlags- und Herausgeberwechseln erschien 2008 die letzte Ausgabe, bis es 2012 wiederbelebt wurde – mit neuen Herausgebern und einem ganz anderen Ton.

Von Thomas Palzer |
    Soziologe Armin Nassehi.
    Soziologe Armin Nassehi, Mitherausgeber des neuen "Kursbuches". (imago / Horst Galuschka)
    Aristoteles verweist auf eine Form des Glücks, die nicht endlich ist, sondern die, wie er sagt, eigentlich göttlich sei - die Theorie. In ihr als Anschauung des Ganzen gelingt es dem, der dazu imstande ist, von seinen Partikularinteressen abzusehen und sich jenem, was ist und nicht anders sein kann, anzuverwandeln. - Soweit Aristoteles.
    Am 10. Juni 1965 erscheint im Frankfurter Suhrkamp Verlag die erste Nummer einer neuen Zeitschrift, die den programmatischen Titel 'Kursbuch' trägt. Herausgeber der Zeitschrift, die literarische wie theoretische Texte bringen soll, sind Hans Magnus Enzensberger und der Suhrkamp-Lektor Karl Markus Michel. Das Ziel wird es sein, gegenüber der Totalität der Kulturindustrie eine Gegenöffentlichkeit zu bilden und auf seinen Seiten zu versammeln.
    Henning Marmulla, ehemaliger Lektor bei Suhrkamp, hat dem Kursbuch beziehungsweise seinen sogenannten heroischen Jahren zwischen 1965 bis 1970, also den Jahren, wo es bei Suhrkamp erschienen ist, eine eigene ausführliche Studie gewidmet, die 2011 im Verlag Matthes & Seitz in Berlin publiziert wurde: 'Enzensbergers Kursbuch. Eine Zeitschrift um 68'.
    "Das Kursbuch hat sich im Prinzip auch verstanden als ein Forum einer Gegenöffentlichkeit. Also ausgehend von dem klassischen Gedanken der Kritischen Theorie, dass es eine Öffentlichkeit gibt, die manipuliert ist, ihre Organe hat, in der Bundesrepublik ist es natürlich die Springer-Presse, gegen die da ja auch ganz stark protestiert wird. Und es sollte schon eine Art von Gegenöffentlichkeit sein, aber man muss dazu sagen: Es war schon eine sehr starke auflagenstarke Gegenöffentlichkeit. Also das war ja kein Blatt, dass in einer geringen Auflage erschien, sondern in den Glanzzeiten kamen die Auflagenzahlen an die 40.000 Exemplare."
    Gegenöffentlichkeit – das ist Mitte der sechziger Jahre das Konzept der Stunde. Nach dem Anschlag auf Rudi Dutschke Ostern 1968 kommt es zur Blockade des Springer-Verlags. Die Medienkritik der Studentenbewegung erreicht damit ihren Höhepunkt. Kino, Fernsehen, Radio sowie die Springer-Presse fügen sich ja gemäß der 'Dialektik der Aufklärung' von Adorno und Horkheimer, das in damaligen intellektuellen Kreisen schnell zum Kultbuch avanciert ist, zu einem Verblendungszusammenhang – zur sprichwörtlichen Kultur- oder Bewusstseinsindustrie. Abgeleitet wird dieser Begriff 1972 von Alexander Kluge und Oskar Negt aus der Medienguerilla, die im Zuge der Raubdruckbewegung auch das Copyright abschaffen will – wie heute der eine oder andere Jünger einer offensiven Digitalität.
    Alfred Anders bezeichnet 1958 Hans Magnus Enzensberger – den Herausgeber des Kursbuchs und eine der zentralen Figuren der 68er Bewegung – als 'angry young man' und vergleicht ihn mit Heinrich Heine, den ersten Intellektuellen Deutschlands. Das kommt unter den jungen Intellektuellen Deutschlands einem Weckruf gleich.
    Enzensberger hatte 1958 mit seinem Gedichtband 'Die Verteidigung der Wölfe' Aufmerksamkeit erregt. Wenige Jahre darauf – 1962 - erscheinen die 'Einzelheiten', ein Band, in dem der Autor die Sprache des "Spiegel" und der "FAZ" der Kritik unterzieht und der ihm ein Jahr später den Büchner-Preis einbringen wird. Enzensberger besitzt ab nun ausreichend soziales Kapital, um zu einem der intellektuellen Wortführer der Republik zu werden – und das gilt beinahe bis heute.
    Das 'Kursbuch' begleitet das Denken der Bundesrepublik
    Das 'Kursbuch' begleitet das Denken der Bundesrepublik sowie die Formierung, Mobilisierung und den Zerfall der deutschen 68er Bewegung. Zusammen mit einer ganzen Generation entdeckt die Zeitschrift Diskussion und Diskurs als Kulturtechnik – und das in einem Land, in dem noch jeder Kompromiss bis vor Kurzem als 'faul' gegolten hat. Miteinander reden und Gespräche führen – das ist man in der Adenauer-Ära nicht gewohnt. Bis auf den heutigen Tag ist das 'Kursbuch' zumindest dem Namen nach die berühmteste Kulturzeitschrift Deutschlands geblieben.
    Aus dem Kursbuch I, Juni 1965:
    "Absicht. Kursbücher schreiben keine Richtungen vor. Sie geben Verbindungen an, und sie gelten so lange wie diese Verbindungen. So versteht die Zeitschrift ihre Aktualität."
    Es geht also um Aufklärung und sogar um Selbstaufklärung der Aufklärung. Das 'Kursbuch' ist eine neue Art von Zeitschrift, in der Literatur wie Theorie ein Forum gegeben wird. Jedoch keiner Professorenphilosophie und keinen Philosophieprofessoren. Nicht der Inhalt ist ausschlaggebend, sondern die Beantwortung der Frage, ob es gut geschrieben ist.
    Das 'Kursbuch' wird zum Kompass für all diejenigen, die sich zwischen den sechziger und den neunziger Jahren gern mit Theorie beschäftigen – jenem mobilen und schlagkräftigen Abkömmling der altbackenen Metaphysik, der nach dem Krieg nicht mehr über den Weg getraut wird. Beflügelt wird die Theorie von der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule – und von Ernst Blochs 'Geist der Utopie' aus dem Jahr 1923. Später auch von Autoren wie Jean Baudrillard oder Michel Foucault.
    Und selbst als Mitte der 80er die Wirklichkeit unter dem Himmel von Paris voll und ganz Sprache wird, reagiert das 'Kursbuch' – und publiziert eine Schmähschrift des Germanisten Klaus Laermann mit dem wundersamen Titel: 'Lacancan und Deridada'.
    Theorie gilt in den 60er-Jahren im Gegensatz zur gravitätischen Philosophie als eine Sprache, die nicht von der Vergangenheit kontaminiert ist. Sie erscheint darum nicht gebunden, sondern als Taschenbuch, für jeden erschwinglich. Theorie ist die neue Philosophie für den dringend benötigten geistigen Neuanfang der Bonner Republik.
    "Es ist ganz interessant zu sehen, dass das Kursbuch im Prinzip so auch ein Stückchen so eine Fortsetzung und auch Weiterentwicklung eines wichtigen Aspekts dessen ist, was der Gruppe 47 wichtig war - die sich dann ja zwei Jahre später halt auflöste, nachdem das Kursbuch gegründet wurde -, aber für die halt von Anfang an ja eine Sache ganz zentral war, und zwar eine neue Sprache zu entwickeln, die ein Vokabular benutzt, das nicht kontaminiert ist durch den Nationalsozialismus. Und darum ging es ja auch ganz stark in den Texten der Autoren der Gruppe 47, eine solche Sprache zu suchen, zu finden, zu bauen. Und das wird im Prinzip im Kursbuch fortgesetzt, allerdings nun noch mit einem Zusatz: dass es nicht nur um die Sprache geht, sondern auch um Theorie. Dass man halt davon ausgegangen ist, wir müssen eine Theorie, theoretische Gedanken etablieren in dieser Zeitschrift, die verunmöglichen, dass jemals wieder so etwas geschehen kann wie in der Zeit von 33 bis 45."
    Große Namen schrieben für das 'Kursbuch'
    Autoren des 'Kursbuchs' in den ersten zehn Ausgaben sind namentlich Samuel Beckett, Jean-Paul Sartre, Frantz Fanon, Claude Simon, Martin Walser, Carlos Fuentes, Roland Barthes, Fidel Castro, Michel Foucault, Lars Gustafsson, Ferdinand de Sassure, Rudolf Carnap, Claude Lévi-Strauss, Lawrence Ferlinghetti, Heiner Müller, Max Frisch, Bertrand Russell, Alan Turing, Ludwig Wittgenstein, Hebert Marcuse, Noam Chomsky – und etliche mehr.
    Neben der Prominenz der Autoren ist vor allem die Auswahl beeindruckend, mit der das Kursbuch das Konzept der Nation ganz offensichtlich verabschiedet – für die Verhältnisse im Adenauer-Deutschland ganz sicher eine Provokation.
    Zum Bruch mit Suhrkamp und seinem, Verleger Unseld kommt es bei der Vorbereitung zum Heft 21, das sich dem Thema Kapitalismus in der BRD widmen soll.
    "Im Prinzip gab es von Anfang an – eigentlich schon vor dem Anfang des Kursbuchs – einen ganz grundsätzlichen Konflikt zwischen Verleger und Herausgeber. Der Verleger Siegfried Unseld wollte Mitsprache haben bei der Gestaltung des Kursbuchs, und der Herausgeber Enzensberger wollte Autonomie haben. Und dieser Konflikt zwischen Mitsprache und Autonomie – der hat sich an vielen Punkten immer wieder zugespitzt."
    50 Jahre nach dem ersten Erscheinen des 'Kursbuchs' hat sich das geistige Klima radikal verändert – die Theorie hat heute enorm an Ansehen verloren. Statt ihrer stehen Wissen und Wissenschaft sowie Fallstudien allenthalben hoch im Kurs.
    "Also in der öffentlichen Debatte sieht man ja, dass das Kursbuch, so, wie es heute erscheint, nicht so besonders wahrgenommen wird, was ich sehr schade finde. Nun kann man sich fragen, woran das liegt. Es gibt mit Sicherheit eine stärkere Konkurrenz in der Medienlandschaft. Auf der anderen Seite ist es aber auch so, dass die digitalen Möglichkeiten ja nicht nur Konkurrenz darstellen, sondern auch Möglichkeiten eröffnen ein Publikum zu finden. Da hat das mit Sicherheit etwas damit zu tun, dass sich einfach die gesellschaftlichen Verhältnisse natürlich mitverändert haben. Und der Intellektuelle, so, wie er in den sechziger Jahren agieren konnte, gar nicht mehr so gefragt ist."
    Wie sieht die Lage für das neue Kursbuch aus? Peter Felixberger ist Publizist und neben dem Soziologen Armin Nassehi einer der beiden neuen Herausgeber und Chefredakteure:
    "Wir möchten mit dem Kursbuch eigentlich zeigen, warum und wieso bestimmte Kontexte, bestimmte Diskurse so geführt werden, wie sie eben im Moment geführt werden. Und das ist vielleicht auch ein Stück Entlarvungsarbeit, um zu sehen, aus welchen Quellen, aus welchen Denkfiguren und aus welchem intellektuellen Nährboden sich einzelne Diskurse auch speisen."
    Im aktuellen Jubiläumsheft der legendären Zeitschrift mit der laufenden Nummer 182, das unter dem delphischen Motto: 'Kursbuch – wozu?' antritt, lassen die Herausgeber ehemalige Autoren erneut zu Wort kommen, genauer: ihre Texte von damals in die Gegenwart fortschreiben. Zum anderen wird in längeren Essays erkundet wie das, als was die Zeitschrift stets wahrgenommen worden ist – unter den Bedingungen der Gegenwart weitergeführt werden kann. Zum Beispiel scheint ja heutzutage Aufklärung zu einer Sache von Wikileaks geworden zu sein.
    "Wir sind ja nicht mehr dieses klassische Kursbuch, dass im Grunde genommen eine Verortung vorgenommen hat, das den Kurs festgelegt hat, wohin die Reise geht. Man war ja entweder als Kursbuch-Leser Teil der community, das heißt, man war dezidiert links und hatte ganz klare politische Grundsätze und Vorstellungen. Diese Denkfigur hat sich überlebt und auch aufgelöst."
    Was wird beim Wissen nicht gewusst? Das ist die Frage, von der sich die Gegenwart und mit ihr der herrschende Naturalismus fälschlicherweise enthoben fühlen. Wissen muss gedeutet werden – Wissen an sich gibt es nicht. Und zur Deutung bedarf es der Theorie. Eigentlich stehen die Zeiten für ein neues 'Kursbuch' gut.