Donnerstag, 28. März 2024

Archiv

50 Jahre Portugiesen in Deutschland
Die stillen Nachbarn

Die Portugiesen sind schon lange hier und haben seit Wirtschaftswunderzeiten viel für das reibungslose Funktionieren der Republik getan. Einer der ihren war sogar der "millionste Gastarbeiter" der Bundesrepublik. Doch die portugiesische Gemeinschaft fällt kaum auf und ist selten in den Medien, wenn es nicht gerade um Fado oder Fußball geht.

Von Marco Bertolaso | 13.09.2014
    Deutsche und portugiesische Arbeiter protestieren 2006 gemeinsam in Rüsselsheim gegen die drohende Schließung eines Werks in Portugal.
    Opel-Arbeiter im deutschen Rüsselsheim protestieren 2006 gegen die drohende Schließung eines Werks in Portugal. (dpa/Frank Rumpenhorst)
    "Deutschland ist ein Einwanderungsland". Dieser Satz hat vor Jahren noch wütende Diskussionen im Bundestag ausgelöst und manche Familienfeier jäh getrübt. Heute kann man diesen Satz gelassen aussprechen. Etwa so wie "Das Wetter ist nicht schlecht". Ein wichtiger Erfolg für Deutschland, wenn auch ein später.
    Deutsch-Türken, Italiener - aber Portugiesen?
    Beim Thema Einwanderer kommen zunächst immer die Deutsch-Türken in den Sinn. Sie prägen Stadtviertel und Straßenzüge, sie prägen Debatten über Integration und Religion. Man denkt auch an die Italiener, die Menschen aus dem Sehnsuchtsland der Deutschen, deren kulinarischen Traditionen inzwischen zur hiesigen Standardküche geworden sind. Aber fast nie ist von den Portugiesen die Rede. Dabei sind auch die Portugiesen schon lange hier. Sie haben seit Wirtschaftswunderzeiten viel für das reibungslose Funktionieren der Republik getan. Einer der ihren, Antonio Rodrigues de Sá, war sogar der "millionste Gastarbeiter" der Bundesrepublik. Und überhaupt ist Portugal weltweit eines der Auswandererländer schlechthin.
    Ein Land der Emigranten
    Es begann im 15. Jahrhundert mit den berühmten Entdeckungsreisen. Später gingen Kaufleute, Beamte oder Offiziere in die Kolonien, nach Brasilien oder Angola, nach Goa oder Timor. Eine ganz andere und massivere Form der Emigration brachte das 20. Jahrhundert. Aus der zunehmend rückständigen und verarmten Salazar-Diktatur machten sich immer mehr Menschen auf. Nicht, um etwas zu entdecken, sondern um zu überleben. Manch einer wurde auch zum Gastarbeiter, um nicht in die blutigen Kolonialkriege geschickt zu werden oder als Regimegegner in der Haft zu verschwinden.
    Die Revolution von 1974 brachte die Freiheit. Nach dem Beitritt zur Europäischen Union im Jahr 1986 ging es eine Weile lang auch wirtschaftlich aufwärts. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts zog der Bauboom viele Osteuropäer an. Es geschah ein kleines Wunder: Portugal wurde per Saldo zum Einwanderungsland!
    Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
    Projekte wie die Weltausstellung 1998 in Lissabon brachten Portugal um die Jahrhundertwende einen vorübergehenden Bauboom und die Einwanderung von Arbeitskräften. (dpa/Klaus Rose)
    Doch das ist schon wieder Geschichte. Die Finanz-, Wirtschafts- und Euro-Krise hat Portugal mit voller Härte getroffen. Die Arbeitslosigkeit ist rasant angestiegen. Die jungen Menschen haben daheim wenig Chancen. Ergebnis: ausgerechnet die bestausgebildete Generation, die das Land je hatte, packt wieder die Koffer.
    Luxemburg spricht Portugiesisch
    Man schätzt, dass inzwischen auf fast jeden der etwa zehn Millionen Portugiesen in der Heimat einer kommt, der im Ausland lebt. In einigen europäischen Ländern sind sie sehr präsent. In Luxemburg ist fast jeder sechste der 545.000 Einwohner ein Portugiese. In der Schweiz sind sie ebenfalls eine wichtige Migrantengruppe und stellen in manchen Orten gar die Bevölkerungsmehrheit. Und auch in Frankreich kennt beinahe jeder eine Familie Pires oder Santos. Die vor kurzem recht erfolgreiche Komödie "La cage dorée" hat den fleißigen Arbeitern und Hausmeisterinnen aus Portugal ein Denkmal gesetzt.
    Die Veranstaltungen zu "50 Jahre Portugiesen in Deutschland" werfen nun auch hierzulande ein rares Schlaglicht auf die stillen Mitbürger aus dem Südwesten Europas. In einer Kraftanstrengung hat die portugiesische Gemeinde nicht nur Feiern und Festakte vorbereitet, sondern auch einen Kongress organisiert, bei dem Fragen rund um die Einwanderung in Deutschland ausgeleuchtet werden. Das ist eine beachtliche Leistung, und ein gutes Zeichen für gelungene Integration.
    Doppeljubiläum der Deutsch-Portugiesen
    Es geht um ein Doppeljubiläum. "50 Jahre Portugiesen in Deutschland", das bezieht sich auf das Anwerbeabkommen. Damit haben die Regierungen in Bonn und Lissabon 1964 den Nachschub für den Nachkriegsboom geregelt. Und ebenfalls vor fünf Jahrzehnten wurde Antonio Rodrigues de Sá zur Ikone der Arbeitsmigranten. Er wurde als der "millionste Gastarbeiter" ausgelost und in einem kleinen Staatsakt geehrt.
    Das ganze geschah auf dem Bahnhof Köln/Deutz. Daher finden die zentralen Festveranstaltungen auch in Köln statt. Aber auch in vielen anderen Städten und Gemeinden wird an diesem Wochenende gefeiert. Mit dabei in Köln ist die Familie von Antonio Rodrigues de Sá. Der Enkel ist aus Lissabon mit der Bahn angereist, genau wie der "millionste Gastarbeiter" vor 50 Jahren. Damit wolle er den Großvater ehren, sagte er dem Deutschlandfunk. Er sei aber auch gekommen, um den Deutschen zu danken.
    Logo zum 50. Jahrestag der Ankunft des millionsten Gastarbeiters in Deutschland
    Logo zum 50. Jahrestag der Ankunft des millionsten Gastarbeiters in Deutschland und zu 50. Jahre Portugiesen in Deutschland ((Foto: Team Comunidade Alemanha))
    Die portugiesische Gemeinde in Deutschland wird vom Statistischen Bundesamt auf etwa 120.000 Mitglieder taxiert. Das sind Zahlen von 2012. Inzwischen dürften einige zehntausende Einwanderer dazugekommen sein, weil die Krise viele junge Menschen nach "Merkel-Land" geführt hat. Die neuen Einwanderer zieht es zum Teil in traditionelle Anlaufzentren. Andere ergreifen Berufe jenseits von Industrie oder Gastronomie. Sie werden Zahntechniker in Halle oder Krankenschwestern in Frankfurt am Main. Generell ist die neue Auswanderung deutlich weiblicher als in den frühen Jahren.
    Die Deutsch-Portugiesen, alte und neue, leben in vielen Regionen, sind aber selten zahlreich genug, um wirklich in Erscheinung zu treten. Vielfach werden sie auch schlicht für Spanier gehalten. Sicher, manchmal fällt ein "Restaurant Lisboa" ins Auge. Hin und wieder gibt es auch noch eine katholische Messe in portugiesischer Sprache, eine früher bedeutende Begleiterscheinung der Migration. Nicht selten flaggen Portugiesen aber auch um. Wenn die Deutschen italienische Eiscafés schätzen, warum nicht eines aufmachen, selbst wenn man Portugiese ist? Eine schöne Pointe der Einwanderungsgesellschaft.
    Hamburg - die portugiesischste Stadt in Deutschland
    Wirklich augenfällig ist die Präsenz nur in Hamburg. In keiner anderen Stadt leben mehr Menschen mit portugiesischen Wurzeln. Man schätzt die Gemeinde auf gut 9.000. In Hamburg gibt es Sardinen, Stockfisch oder Pasteis de Nata an vielen Ecken. Die Regierung in Lissabon unterhält mit dem "Portugiesischen Haus" eine Art Botschaft an der Elbe. Und die Hansestadt hat Charme und Wert der "Portugiesenviertel" ebenfalls erkannt und sie zum festen Bestandteil des Stadtmarketings gemacht.
    Der Schwerpunkt Hamburg ist kein Zufall. Angefangen hat die portugiesische Auswanderung nach Deutschland nämlich nicht erst vor 50 Jahren. Der erste wichtige Impuls kam im 16. Jahrhundert und hatte einen traurigen Anlass. Die Vertreibung der Juden von der iberischen Halbinsel brachte viele Portugiesen in die Hafenstädte des Nordens, nach Amsterdam, Antwerpen und eben nach Hamburg. Ebenfalls im Norden, ist Bremerhaven mit seiner Fischindustrie ein traditioneller zu einem Anlaufpunkt geworden, worüber die Deutsche Welle berichtet.
    Veränderungen in der Wahrnehmung
    In Deutschland hat sich der Umgang mit den Einwanderern über die Jahre verändert. Lange wollten viele glauben, es seien „Gäste" gekommen, die wieder gehen würden. Es gab für die Arbeiter provisorische Unterkünfte. Im Radio und später im Fernsehen liefen spezielle Minderheitensendungen, gut gemeint, doch oft mit pädagogisch-paternalistischer Grundhaltung. Spätestens als Kinder in Deutschland zur Welt kamen, wurde alles anders.
    Auch für die Einwanderer selbst. Denn auch die meisten von ihnen sahen ihre Zeit in Deutschland zunächst als vorübergehend an. Die Heimat, das war schließlich nicht das Rheinland oder Bayern, sondern der Minho oder der Alentejo. Bis heute leben viele zwischen zwei Identitäten. Dass es eine Bereicherung sein kann, zwei Länder zu kennen und zwei Sprachen zu sprechen, das mussten die Deutschen erst einmal lernen. Aber auch die Portugiesen und andere Migrantengruppen brauchten lange, um zu einem selbstbewussten Umgang mit der besonderen Lage zu finden. Das Sowohl-als-auch ist oft komplizierter als das Entweder-oder.
    "Stille, aber oft erfolgreiche Integrationsgeschichte"
    Für die Bundesregierung hat Staatsministerin Aydan Özoğuz den Deutsch-Portugiesen für Ihren Beitrag zur deutschen Wirtschaft und Gesellschaft gedankt. Özoğuz, die auch an der 50-Jahres-Feier in Köln teilnehmen will, spricht von einer "stillen, aber oft erfolgreichen Integrationsgeschichte." Beeindruckend nennt die Staatsministerin die Arbeit der portugiesischen Selbstorganisationen, der Vereine und Gemeinden.
    Das Gemeindeleben wandelt sich
    Diese Gemeinden waren lange der Ort der Geborgenheit in der Ferne. Hier konnte man die Muttersprache sprechen, hier traf man Menschen mit den selben Erfahrungen und Problemen. Hier gründete man eine Folkloregruppe, Traditionen der Heimat zu pflegen. Oft gab es auch Verbindungen zu deutschen Einrichtungen wie der Caritas.
    Diese Netzwerke bestehen weiterhin, aber sie haben an Bedeutung verloren. Es ist ein Trend, den man aus der deutschen Mehrheitsgesellschaft kennt. Auch hier laufen den Parteien, Vereinen, Kirchen und Gewerkschaften im Zeichen einer individualistischen Gesellschaft die Mitglieder weg. Es kommen aber auch besondere Faktoren hinzu wie eine bessere Integration und Fortschritte beim großen Thema aller Migranten, dem Spracherwerb. Wichtig sind aber auch ganz praktische Umstände. Wer über Satellit portugiesisches Fernsehen empfängt und für 39 Euro immer wieder mal nach Lissabon fliegen kann, dessen Bedarf an Fado-Abenden in Gelsenkirchen sinkt eben.

    Eine wichtige Herausforderung auch für die portugiesischen Gemeinden ist die wachsende Zahl der Rentner. Alt werden in der Emigration, das war lange nicht vorgesehen. Nicht einfacher wird das dadurch, dass ehemalige Gastarbeiter im Schnitt immer noch deutlich weniger Rente bekommen als die deutschen Altersgenossen.
    Was wichtig war in 50 Jahren
    Was war in den vergangenen 50 Jahren wichtig für die Portugiesen in Deutschland? Der Deutschlandfunk hat drei Vertreter der portugiesischen Gemeinschaft gefragt. Es sind, typisch für die Generation, die heute um die 60 Jahre alt ist, drei Männer: Nelson Rodrigues, Fachbereichsleiter Migration bei der Caritas in Rheine, ist besonders stolz auf die Proteste gegen die Schließung des Konsulats in Osnabrück. Hier wie auch in ähnlichen Fällen hätten die Auslandsportugiesen der Regierung in Lissabon gezeigt, dass sie politische Reife erlangt hätten. Die Antwort von Nelson Rodrigues ist ein Hinweis darauf, dass sich viele Migranten nicht nur in einem Spannungsverhältnis zum Aufnahmeland befinden, sondern durchaus auch zur alten Heimat.
    Dabei geht es nicht nur um konsularische Betreuung. Ein Thema ist oft die Finanzierung von Lehrern für den Portugiesisch-Unterricht. Viel Aufregung gibt es derzeit auch wegen einer Frage der Gerechtigkeit: Portugal macht deutschen, französischen oder britischen Rentner einen sonnigen Altersruhesitz erfolgreich mit massiven Steuervorteilen schmackhaft. Das sind Vorteile, die den Heimkehrern mit deutscher Rente nicht zuteil werden.
    Manuel Campos gehört wie Nelson Rodrigues zu den Organisatoren der 50-Jahres-Feiern. Er hat eine Karriere bei der IG-Metall hinter sich und wurde später mit seiner doppelten Staatsangehörigkeit zweimal an deutsche Botschaften im Ausland entsandt. Er nennt als wichtigstes Ereignis für die Portugiesen in Deutschland - die Nelken-Revolution in der Heimat. Er fügt hinzu, auch deshalb, weil die Mehrheit der Deutschen die Befreiung im April 1974 mitgefeiert habe, auch als Lehre aus der deutschen Geschichte.
    Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
    Portugiesen in Dortmund feiern am 25. April 1974 die Revolution in der Heimat. (Portugal Post)
    Mário dos Santos ist eine Institution. Er ist seit vielen Jahren Chef der "Portugal Post". Das ist die Zeitung der Deutsch-Portugiesen und inzwischen auch eine wichtige Plattform im Internet. Der Journalist freut sich darüber, dass die portugiesische Sprache und Kultur in Deutschland einen größeren Stellenwert bekommen hätten. Die Bücher von Pessoa, Saramago oder Lobo Antunes würden gekauft und gelesen. Endlich, so der Journalist, würden die Portugiesen nicht mehr nur mit ein paar bekannten Fußballern verbunden.
    Die Zukunft des Gemeindelebens
    Für die Zukunft haben die drei Männer unterschiedliche Erwartungen. Mário dos Santos beobachtet ein „langsames, aber sicheres Verschwinden" der klassischen Gemeinden und Vereine. Auch die Folkloregruppen hätten schon bessere Zeiten gesehen, sagt er. All das ist für ihn ein Beleg der fortschreitenden Integration in der neuen Heimat. Nelson Rodrigues von der Caritas glaubt dagegen, die vielen portugiesische Gemeinden im Land werde es mit einigen Veränderungen auch in 100 Jahren noch geben. Dafür sorge schon die anhaltende Auswanderung, die immer neue Generationen von Portugiesen nach Deutschland bringe.
    Der Gewerkschafter Manuel Campos wünscht sich ebenfalls eine Zukunft für die Gemeinden, gerne auch mit Folklore oder Fado. Dabei dürfe es aber nicht bleiben. Die Portugiesen dürften sich nicht auf das abgeschottete Vereinsleben beschränken. Sie müssten rein in die deutsche Gesellschaft.
    Und dann sagt Manuel Campos einige Sätze, die weit über die portugiesische Gemeinschaft hinausreichen, die heute ihr 50-jähriges Bestehen feiert. Seine Worte sind wie ein Plädoyer der älteren Generation der Migranten in Deutschland an die Jüngeren: "Wir müssen in vielen Bereichen erscheinen - Kunst, Literatur, Musik, Wissen, Politik. Wir müssen auch Positionen besetzen, uns zeigen und einbringen. Es ist die Zeit, erwachsen zu werden. Die Älteren haben ihre Aufgabe getan, so gut sie es konnten. Sie haben den jüngeren Einwanderern den Weg bereitet. Es liegt nun an diesen den Weg auch zu gehen und mehr zu wagen."