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"60 bis 80 Stunden Arbeitszeit ist realistisch"

Die Angabe des Marburger Bundes, wonach die durchschnittliche Arbeitszeit von Krankenhausärzten bis zu 80 Stunden betrage, sei realistisch, so Dr. Daniel Tibussek. Es sei nicht allein die Forderung nach mehr Geld, die die Arbeit für Ärzte attraktiver gestalten könnte. Um das System überhaupt noch aufrecht zu erhalten sei es wichtig, Ärzte von allen nichtärztlichen Aufgaben zu entbinden.

    Remme: Am Telefon begrüße ich Daniel Tibussek, er ist Facharzt am Uniklinikum Düsseldorf. Guten Tag.

    Tibussek: Schönen guten Tag.

    Remme: Wir holen Sie praktisch aus einer Schicht. Seit wann sind Sie im Dienst?

    Tibussek: Ich bin jetzt seit heute morgen um acht im Dienst, werde aber noch das Vergnügen haben, bis morgen um halb neun durchzuarbeiten.

    Remme: Das ist also einer dieser 24-Stunden-Dienste. Schildern Sie uns einen solchen.

    Tibussek: Im Grunde ist es so, dass ich an einem üblichen Arbeitstag, wo ich in einer Spezialambulanz für neurologisch erkrankte Kinder arbeite, ab 16 Uhr dann in den Bereitschaftsdienst trete, in dem ich dann die Notfallpatienten einerseits in der Notambulanz versorge, andererseits aber auch zuständig bin für alle stationären Patienten einer recht großen Universitätskinderklinik und auch ein bisschen die Supervision übernehme für eine Intensivstation. Sie können sich ungefähr ausrechnen, wie viel Freizeit da in 24 Stunden übrigbleibt.

    Remme: Wie viele Patienten sehen Sie in diesen 24 Stunden?

    Tibussek: Das ist sehr unterschiedlich, gerade die Kinderheilkunde ist ein bisschen ein Saisongeschäft, es ebbt jetzt gerade die Infektwelle etwas ab, aber insbesondere in Hochzeiten ist es durchaus realistisch, da 70 Patienten pro Tag zu sehen.

    Remme: Wir reden hier von Überbelastung (also die Ärzte, die protestieren). Was bedeutet Überbelastung in wöchentlicher Arbeitszeit?

    Tibussek: Das ist auch immer sehr schwer zu definieren. Die eigentliche wöchentliche Arbeitszeit würde ich bei mir bei etwa 50 Stunden ansiedeln, wenn man die reine Arbeitszeit jetzt zum Beispiel meiner Spezialambulanz betrachtet. Aber natürlich muss man realistischerweise auch die 24-Stunden-Dienste mitrechnen, die Wochenenddienste und gerade an Universitätskliniken auch Aufwand für Lehre und Forschung mit dazuzählen, denn das ist etwas, was reell da ist, das taucht aber auf keinem Lohnzettel und nirgendwo auf. Wenn man wirklich eine reelle Rechnung macht, sind die Angaben vom Marburger Bund von 60 bis 80 Stunden sehr realistisch.

    Remme: Der europäische Gerichtshof hat 2003 geklärt, dass Bereitschaftsdienste als Arbeitszeit angerechnet werden müssen. Hat das die Situation verbessert?

    Tibussek: Das hat sich in einigen kleinen Krankenhäusern verbessert, die glaube ich einfach erkannt haben, dass sie die Arbeitsbedingungen verbessern müssen, wenn sie überhaupt noch Nachwuchs bekommen wollen. An Universitätskliniken, die diese Sorge bisher noch nicht so spüren, habe ich noch nicht von vielen Modellen gehört, wo sich wirklich merklich etwas geändert hat. Also 24-Stunden-Dienste und zum Teil auch 36-Stunden-Dienste sind immer noch an der Tagesordnung an deutschen Universitätskliniken.

    Remme: Sie klagen über Ihre Arbeitsbedingungen, haben Sie deshalb Ihre Berufswahl schon mal in Zweifel gezogen?

    Tibussek: Nicht erst einmal und ich bin auch selber mal in den Genuss gekommen, auch mal im Ausland gearbeitet zu haben. Ich war in der Schweiz und habe da erstens bessere Arbeitsbedingungen vorgefunden, habe außerdem eine deutlich bessere Bezahlung gehabt und bin letztendlich aus privaten Gründen zurückgekommen. Aber wenn ich nicht familiäre Zwänge hätte, würde ich nicht eine Sekunde zögern, mich auch im Ausland umzusehen.

    Remme: Dann stützen wir uns einmal auf den zweiten Punkt des Protestes, den der Unterbezahlung. Darf ich fragen, Sie sind Facharzt, was Sie verdienen?

    Tibussek: Das ist auch immer eine Frage, wie man das rechnet, man kann ungefähr rechnen mit meiner Einstufung jetzt bei BAT 1B, das ist üblich für Fachärzte, dass ich ohne diese 24-Stunden-Dienste auf zwischen 1800 und vielleicht mal maximal 2000 Euro netto komme. Das lässt sich in gewisser Weise aufbessern durch die 24-Stunden-Dienste, aber wenn ich das letzte halbe Jahr betrachte, habe ich auf meinem Lohnzettel nie mehr als 2200 Euro netto stehen gehabt.

    Remme: Wäre die Situation für Sie entscheidend besser, wenn Sie nun Oberarzt wären?

    Tibussek: Da ändert sich praktisch gar nichts, es ist im Gegenteil sogar zum Teil so, dass man wenn man Oberarzt wird nicht mehr an diesen 24-Stunden-Diensten teilnimmt, sondern stattdessen Hintergrunddienste macht, die entsprechend schlechter bezahlt werden, so dass ich durchaus Kollegen habe, die relativ jung jetzt Oberarzt geworden sind und weniger Geld in der Tasche haben, als sie vorher hatten, dadurch bedingt, dass Schicht-, Nachtdienstzulagen und so weiter wegfallen.

    Remme: Haben Sie schon beobachtet, dass Patienten, mit denen Sie zu tun haben, merken, dass Sie praktisch überarbeitet und müde sind?

    Tibussek: Da habe ich wenig Zweifel, wenn man nachts um drei mit einem Patienten in der Notaufnahme befasst wird und dann schon über 15 Stunden gearbeitet hat, dann kann man das nicht mehr verbergen, dass man müde und auch unkonzentriert ist. Erstaunlicherweise funktionieren wir aber auch nach 24 Stunden in aller Regel noch so gut, dass eben keine großen Katastrophen passieren und das ist vielleicht sogar fast das Problem an der ganzen Geschichte: Es besteht nicht so eine Not, das System zu ändern, da zumindest augenscheinlich keine groben Fehler passieren. Ich bin überzeugt davon, dass aber immer wieder kleine Konzentrationsschwächen auch zu Fehlern führen, die vielleicht nicht ganz so offensichtlich sind. Da gibt es ja auch Daten zu.

    Remme: Wenn Sie etwas am deutschen Gesundheitswesen ändern könnten was würden Sie als erstes tun?

    Tibussek: Oh, das ist eine schwierige Frage. Das lässt sich sicher nicht einfach nur dadurch verbessern, dass man sagt, die Ärzte müssen mehr Geld verdienen; ich glaube, dass die ganze Organisationsstruktur in Kliniken verbessert werden muss insofern - und das ist vielleicht ein ganz vordringliches Ziel - dass die zusätzlichen Verwaltungsaufgaben möglichst an nichtärztliches Personal abgewälzt werden und da ist die Schweiz ein wunderbares Vorbild, dort führen auch die Schwestern zum Beispiel Blutentnahmen und so weiter durch. Ich glaube, dass das ärztliche Personal von nicht zwingend ärztlichen Aufgaben entlastet werden muss, damit dieses System überhaupt noch aufrecht erhalten werden kann.