Montag, 13. Mai 2024

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60 Jahre deutsch-türkisches Anwerbeabkommen
"Integration ist niemals abgeschlossen"

Auch wenn türkischstämmige Menschen schon seit 60 Jahren in Deutschland lebten, erführen sie weiter Benachteiligungen, sagte die Journalistin Hatice Akyün im Dlf. Integration müsse aber größer gedacht werden. Es gehe darum, etwa auch Älteren und sozial Schwachen gesellschaftliche Partizipation zu ermöglichen.

Hatice Akyün im Gespräch mit Birgid Becker | 31.10.2021
Die Journalistin Hatice Akyün
"Im Grunde sind wir längst Teil dieses Landes", sagt die Journalistin Hatice Akyün (dpa/Bernd von Jutrczenka)
Am 30. Oktober 1961 unterzeichneten das Auswärtige Amt und die türkische Botschaft in Bonn/Bad Godesberg ein Abkommen, das die Entsendung von Arbeitskräften aus der Türkei nach Deutschland regelte. Auf der Basis dieses Abkommens kamen zwischen 1961 und 1973 fast 900.000 Frauen und Männer zum Arbeiten in die Bundesrepublik und nach Westberlin. Die Mehrheit wollte nur einige Jahre bleiben, auch das Abkommen beschränkte den Aufenthalt der sogenannten Gastarbeiter zunächst auf maximal zwei Jahre – viele sind bis heute geblieben und Teil der deutschen Gesellschaft.

Deutschland wollte lange kein Einwanderungsland sein

So wie etwa die Eltern der Journalistin Hatice Akyün. Sie war drei Jahre alt, als ihr Vater 1972 die Familie aus Anatolien nach Duisburg nachholte, wo er Arbeit als Bergmann gefunden hatte. Als Kind eines Elternhauses, in dem vornehmlich türkisch gesprochen wurde, machte sie nach Ausbildung und Studium Karriere – und wehrt sich seither in Interviews als "Vorzeige-Türkin" etikettiert zu werden. Doch regelmäßig zu runden Jahrestagen des Anwerbeabkommens holt sie ihre Biografie wieder ein.
Türkische Familie mit sechs Kindern am 14.03.1979 in Duisburg.
Leistung und Geschichte der Gastarbeiter anerkennenDas deutsch-türkische Anwerbeabkommen ermöglichte die Einwanderung nach Deutschland. Die vergangenen 60 Jahre zeigten, wie wichtig es sei, Einwanderung gemeinsam mit den ehemaligen Gastarbeitern und ihren Nachkommen zu gestalten, kommentiert Luise Sammann.
Sie freue sich, dass die Aufmerksamkeit an solchen Jahrestagen da ist und hoffe, dass diese Aufmerksamkeit dazu führt, dass bei den Menschen ankommt, "dass wir ja schon seit 60 Jahren hier sind". "Im Grunde sind wir ja schon längst Teil dieses Landes", betonte Akyün. Gleichwohl würde die Politik noch nicht lange Deutschland als Einwanderungsland bezeichnen. "Ich kann mich an Zeiten erinnern, wo es wirklich vermieden wurde, das Wort Einwanderungsland in den Mund zu nehmen", sagte die Journalistin. "Irgendwann kamen dann so komische Begrifflichkeiten wie Zuwanderung, also die Leute kommen zu uns, die wandern nicht ein, sondern die kommen einfach so zu uns."

"Rückschritt, ganz besonders auch in der dritten und vierten Generation"

Solche Begrifflichkeiten hätten dazu beigetragen, "dass man Integration gar nicht zugelassen hat von der Mehrheitsgesellschaft". Auf der anderen Seite gebe es aber auch ganz viele türkischstämmige Menschen, die schon seit 60 Jahren in Deutschland leben und trotzdem sagen, dass sie sich der Türkei zugehörig fühlten. Es gebe hier auch "ein Rückschritt, ganz besonders auch in der dritten und vierten Generation". Dies sei traurig aber erklärbar. So hätte es Deutschland Jahrzehnte lang vermieden, türkischstämmige Menschen als Teil des Landes zu sehen. Dies hätten viele so empfunden.
Recep Tayyip Erdoğan habe diese Menschen dann umworben und ihnen eine Wertschätzung entgegengebracht, mit der sie in Deutschland nicht mehr rechnen. Dies habe eine Gegenreaktion ausgelöst, die Türkei als Heimatland zu bezeichnen, obwohl viele, gerade der jungen türkischstämmigen Menschen, nie in der Türkei gelebt hätten und Türkisch gar nicht wie ihre Muttersprache sprächen. "Das wundert mich dann immer", sagte Akyün. "Aber das hat eine Menge mit Trotz zu tun, zu sagen: Okay, wenn ihr mich nicht wollt, dann gibt es da noch ein anderes Land." Türkischstämmige Menschen erführen im Alltag nach wie vor Zurückweisungen und strukturelle Benachteiligung, etwa bei der Wohnungssuche, bei den Bildungschancen und im Beruf.

"Eine Gesellschaft entwickelt sich immer wieder neu"

Integration sei niemals abgeschlossen, sagte Akyün. "Weil es kein statischer Zustand ist. Eine Gesellschaft entwickelt sich immer wieder neu, findet sich immer wieder neu, weil die Bedürfnisse der Menschen sich ändern." Integration habe auch nicht nur damit zu tun, "dass Menschen mit anderen Kulturen, kulturellem Hintergrund oder einem anderen religiösen Hintergrund sich in die Mehrheitsgesellschaft integrieren". Für sie bedeute Integration auch, Partizipationsmöglichkeiten für Menschen zu schaffen, denen etwa aufgrund von Alter oder Armut die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben nicht oder kaum möglich ist. "Eine Gesellschaft zu haben, wo alle Menschen, egal woher sie kommen, egal wie sie leben, egal, woran sie glauben, eine Partizipationsmöglichkeit haben. Das verstehe ich unter dem großen Begriff Integration", so Akyün.