Klaus Remme: Der amerikanische Präsident George Bush ist auf dem Weg nach Europa. Der Anlass ist klar: wie viele andere wird er sich auf den Weg machen zu den Gedenkfeiern anlässlich des 60. Jahrestages zum Kriegsende. Ich habe vor der Sendung über dieses Thema mit Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) gesprochen und ihn zunächst gefragt - damals war er 13 -, wo und wie er diesen 8. Mai 1945 erlebt hat?
Otto Schily: Also ich war damals in Bayern, in Oberbayern, in Garmisch-Partenkirchen im großelterlichen Haus beim Großvater mütterlicherseits. Wir haben dann erst erlebt, wie die geschlagene deutsche Armee dort durch Partenkirchen gezogen ist, und dann kam diese Stille, diese Ruhepause. Da gab es noch einige Verrückte die meinten, sie müssten die so genannte Alpenfestung noch verteidigen. Aber glücklicherweise gab es einige beherzte Bürgerinnen und Bürger in der Marktgemeinde Garmisch-Partenkirchen, die dann die Geschicke selber in die Hand genommen haben, die NS-Leute, die verblieben waren, festgesetzt haben und die Stadt dann zur offenen Stadt erklärt haben. Dann kamen die Amerikaner in die Stadt und sehr viel später war ja dann die Kapitulation. Also das ist die Erinnerung, die ich an diese Zeit habe.
Remme: Ich sage so selbstverständlich "Befreiung". War es nicht doch die Niederlage, die da in den ersten Tagen dominierte?
Schily: Ja und natürlich für ein Kind von 13 Jahren war das auch ein Punkt, wo man nicht so genau wusste, was auf einen jetzt zukam. Allerdings bin ich erfreulicherweise in einem Elternhaus aufgewachsen, das sehr kritisch gegenüber der Nazi-Herrschaft eingestellt war, auch aufgrund der Mitgliedschaft in der anthropologischen Gesellschaft, die seinerzeit verboten war, wo man sich insofern natürlich auf Distanz hielt. Meine Mutter sprach zu Hause immer nur von dem Verbrecher Hitler. Insofern war es für uns auch eine Erleichterung, aber natürlich wusste man nicht, was uns jetzt bevorstand, wenn die Amerikaner dort einrückten, und insofern gab es auch einen großen Punkt der Unsicherheit, aber auch eine Erleichterung, dass alles vorüber war und dass sich jetzt etwas auftut, was dann doch in den Frieden einmündet.
Remme: Ich spanne da jetzt einen weiten Bogen, aber hat die Amerika-Begeisterung, die dann folgte, für Sie heute noch Bedeutung in Ihren politischen Entscheidungen?
Schily: Ja, ganz gewiss. Ich werde den Amerikanern nie vergessen, dass sie einen sehr wichtigen Beitrag geleistet haben, um Europa von Faschismus und Nationalsozialismus zu befreien. Man darf das nie wieder aus dem Gedächtnis löschen. Es haben viele Tausende von jungen Amerikanern ihr Leben dafür geopfert. Wir Deutschen müssen Amerika dafür zu allererst dankbar sein.
Remme: Das Gedenken an Deutsche nicht als Täter, sondern als Opfer des Krieges ist ein relativ neuer Aspekt des Jahrestages. War das überfällig?
Schily: Also es darf keinen kompensatorischen Charakter annehmen. Es darf jetzt nicht dazu führen, dass wir versuchen, die Geschichte umzuschreiben, uns darüber eine Entlastung zu verschaffen und die Tatsache zu verleugnen, dass von Deutschland der Krieg ausgegangen ist. Manche sehen ja die große Niederlage 1945. Das ist ja völlig falsch. Die eigentliche Niederlage in Deutschland ist eingetreten 1933, als man Hitler den Weg gebahnt hat mit den Ermächtigungsgesetzen. Die sozialdemokratische Partei darf besonders stolz darauf sein, dass sie die einzige Partei war, die damals dagegen gestimmt hat. Aber wir müssen deshalb nicht verschweigen, dass es auch am Ende des Krieges Verbrechen gegeben hat im Rahmen der Vertreibung und dass es ein unendliches Elend auch von unschuldigen Menschen gegeben hat, und es hat auch Deutsche gegeben, die ihr Leben gelassen hatten im Kampf gegen den Nazi-Terror. Auch das gehört dazu, um die geschichtliche Wahrheit wirklich auch an sich heran zu lassen. Deshalb bin ich auch ganz schlicht gegen einen Ausdruck, der in letzter Zeit so oft gekommen ist, der wirklich völlig daneben ist, von einem Tätervolk oder einen Opfervolk. Man kann nicht die Deutschen kollektiv zum Tätervolk erklären. Das ist eine völlig unhistorische Betrachtungsweise.
Remme: Herr Schily, die Zeitzeugen sterben aus. Sehen Sie darin eine Gefahr?
Schily: Ja. Das ist ja unvermeidbar, weil niemand unsterblich ist, und wird dazu führen, dass die Erinnerung sich verändern wird. Nichts ist so eindrücklich und nicht so eindrucksvoll, als wenn ein Zeitzeuge aus unmittelbarer Erfahrung berichtet, was ihm widerfahren ist. Deshalb wird sich die Gedenkkultur auch verändern müssen. Wir müssen darauf achten, dass wir auf der einen Seite die Gedenkstätten pflegen, wo man also mit den Tatsachen konfrontiert wird. Jetzt werden wir ja in wenigen Tagen das Holocaust-Mahnmal einweihen und gerade dort ist ein Informationsort, der sehr, sehr eindrucksvoll ist. Aber auch die Kultur ist gefordert. Eigentlich bräuchte es einen großen Dramatiker, einen großen Schriftsteller, der in der Lage wäre, das noch mal künstlerisch zu erfassen, nicht in irgend einer populistischen Kultur, sondern in einem großen Drama oder in einem großen Roman, um das an die nächsten Generationen weiterzugeben.
Remme: Ich will zum Schluss unseres Gespräches auf einen Schriftsteller zu sprechen kommen. Günter Grass hat seinen Beitrag zum Kriegsende gestern in der "Zeit", aber auch in der "New York Times", im "Guardian" und den anderen wichtigen europäischen Blättern veröffentlicht, und auf die selbst gestellte Frage, wie wir Deutschen mit der geschenkten Freiheit umgehen, kommt er zu dem Schluss, "dass die Demokratie in Gefahr ist nicht durch Rechtsradikale, sondern in erster Linie durch die Ohnmacht der Politik, derzufolge sich die Bürger schutzlos dem Diktat der Ökonomie ausgesetzt sehen". Übertreibt Günter Grass?
Schily: Also man muss aufpassen, dass das nicht alles aus den Fugen gerät. Ich weiß nicht: mit dem Diktat der Ökonomie an der Stelle komme ich nicht so gut zurecht. Ich erinnere in diesem Zusammenhang lieber an einen berühmten Satz von Hans-Jochen Vogel, der im Blick auf die Weimarer Republik gesagt hat, diese Weimarer Republik ist nicht aus Mangel an Demokratie zu Grunde gegangen, sondern aus Mangel an Demokraten. Das verweist uns auf die Tatsache, dass Demokratie nicht ein für alle Mal eingeführt wird und dann auf unabsehbare Zeit auch da ist, sondern dass die Demokratie jeden Tag von jedem von uns neu errungen werden muss und Wachsamkeit erfordert gegenüber Kräften, die der Demokratie feindlich gesonnen sind. Das ist für mich die wichtigste Aufgabe, damit nie wieder so etwas eintritt, was in der dunkelsten Zeit der deutschen Geschichte uns leider widerfahren ist.
Remme: Der Westen Deutschlands kann ja auf sechs Jahrzehnte demokratische Entwicklung zurückschauen. Der Osten kann das nicht. Was bewirkt diese Schieflage heute noch?
Schily: Ja, aber wir sollten doch nicht übersehen, dass es eine friedliche Revolution im Osten Deutschlands gegeben hat. Das ist das, was wir mit großem Respekt und großem Dank sagen müssen an die Bürgerinnen und Bürger im Osten unseres Landes. Ich glaube wir sollen alle dankbar dafür sein, dass wir heute ein vereintes Europa, ein vereintes Deutschland haben. Damit haben wir eigentlich einen Punkt in der europäischen Geschichte erreicht, den glücklichsten, den wir je in der europäischen Geschichte hatten. Das ist ein kostbares Gut. Wenn wir dieses Erbe im Blick haben, dann müssen wir der Jugend sagen, bitte nehmt das wahr als ein großes Geschenk und pflegt es. Das ist die Gegenwart Europas. Das soll aber auch die Zukunft, euere Zukunft sein.
Remme: Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) zum 60. Jahrestag des Kriegsendes.
Otto Schily: Also ich war damals in Bayern, in Oberbayern, in Garmisch-Partenkirchen im großelterlichen Haus beim Großvater mütterlicherseits. Wir haben dann erst erlebt, wie die geschlagene deutsche Armee dort durch Partenkirchen gezogen ist, und dann kam diese Stille, diese Ruhepause. Da gab es noch einige Verrückte die meinten, sie müssten die so genannte Alpenfestung noch verteidigen. Aber glücklicherweise gab es einige beherzte Bürgerinnen und Bürger in der Marktgemeinde Garmisch-Partenkirchen, die dann die Geschicke selber in die Hand genommen haben, die NS-Leute, die verblieben waren, festgesetzt haben und die Stadt dann zur offenen Stadt erklärt haben. Dann kamen die Amerikaner in die Stadt und sehr viel später war ja dann die Kapitulation. Also das ist die Erinnerung, die ich an diese Zeit habe.
Remme: Ich sage so selbstverständlich "Befreiung". War es nicht doch die Niederlage, die da in den ersten Tagen dominierte?
Schily: Ja und natürlich für ein Kind von 13 Jahren war das auch ein Punkt, wo man nicht so genau wusste, was auf einen jetzt zukam. Allerdings bin ich erfreulicherweise in einem Elternhaus aufgewachsen, das sehr kritisch gegenüber der Nazi-Herrschaft eingestellt war, auch aufgrund der Mitgliedschaft in der anthropologischen Gesellschaft, die seinerzeit verboten war, wo man sich insofern natürlich auf Distanz hielt. Meine Mutter sprach zu Hause immer nur von dem Verbrecher Hitler. Insofern war es für uns auch eine Erleichterung, aber natürlich wusste man nicht, was uns jetzt bevorstand, wenn die Amerikaner dort einrückten, und insofern gab es auch einen großen Punkt der Unsicherheit, aber auch eine Erleichterung, dass alles vorüber war und dass sich jetzt etwas auftut, was dann doch in den Frieden einmündet.
Remme: Ich spanne da jetzt einen weiten Bogen, aber hat die Amerika-Begeisterung, die dann folgte, für Sie heute noch Bedeutung in Ihren politischen Entscheidungen?
Schily: Ja, ganz gewiss. Ich werde den Amerikanern nie vergessen, dass sie einen sehr wichtigen Beitrag geleistet haben, um Europa von Faschismus und Nationalsozialismus zu befreien. Man darf das nie wieder aus dem Gedächtnis löschen. Es haben viele Tausende von jungen Amerikanern ihr Leben dafür geopfert. Wir Deutschen müssen Amerika dafür zu allererst dankbar sein.
Remme: Das Gedenken an Deutsche nicht als Täter, sondern als Opfer des Krieges ist ein relativ neuer Aspekt des Jahrestages. War das überfällig?
Schily: Also es darf keinen kompensatorischen Charakter annehmen. Es darf jetzt nicht dazu führen, dass wir versuchen, die Geschichte umzuschreiben, uns darüber eine Entlastung zu verschaffen und die Tatsache zu verleugnen, dass von Deutschland der Krieg ausgegangen ist. Manche sehen ja die große Niederlage 1945. Das ist ja völlig falsch. Die eigentliche Niederlage in Deutschland ist eingetreten 1933, als man Hitler den Weg gebahnt hat mit den Ermächtigungsgesetzen. Die sozialdemokratische Partei darf besonders stolz darauf sein, dass sie die einzige Partei war, die damals dagegen gestimmt hat. Aber wir müssen deshalb nicht verschweigen, dass es auch am Ende des Krieges Verbrechen gegeben hat im Rahmen der Vertreibung und dass es ein unendliches Elend auch von unschuldigen Menschen gegeben hat, und es hat auch Deutsche gegeben, die ihr Leben gelassen hatten im Kampf gegen den Nazi-Terror. Auch das gehört dazu, um die geschichtliche Wahrheit wirklich auch an sich heran zu lassen. Deshalb bin ich auch ganz schlicht gegen einen Ausdruck, der in letzter Zeit so oft gekommen ist, der wirklich völlig daneben ist, von einem Tätervolk oder einen Opfervolk. Man kann nicht die Deutschen kollektiv zum Tätervolk erklären. Das ist eine völlig unhistorische Betrachtungsweise.
Remme: Herr Schily, die Zeitzeugen sterben aus. Sehen Sie darin eine Gefahr?
Schily: Ja. Das ist ja unvermeidbar, weil niemand unsterblich ist, und wird dazu führen, dass die Erinnerung sich verändern wird. Nichts ist so eindrücklich und nicht so eindrucksvoll, als wenn ein Zeitzeuge aus unmittelbarer Erfahrung berichtet, was ihm widerfahren ist. Deshalb wird sich die Gedenkkultur auch verändern müssen. Wir müssen darauf achten, dass wir auf der einen Seite die Gedenkstätten pflegen, wo man also mit den Tatsachen konfrontiert wird. Jetzt werden wir ja in wenigen Tagen das Holocaust-Mahnmal einweihen und gerade dort ist ein Informationsort, der sehr, sehr eindrucksvoll ist. Aber auch die Kultur ist gefordert. Eigentlich bräuchte es einen großen Dramatiker, einen großen Schriftsteller, der in der Lage wäre, das noch mal künstlerisch zu erfassen, nicht in irgend einer populistischen Kultur, sondern in einem großen Drama oder in einem großen Roman, um das an die nächsten Generationen weiterzugeben.
Remme: Ich will zum Schluss unseres Gespräches auf einen Schriftsteller zu sprechen kommen. Günter Grass hat seinen Beitrag zum Kriegsende gestern in der "Zeit", aber auch in der "New York Times", im "Guardian" und den anderen wichtigen europäischen Blättern veröffentlicht, und auf die selbst gestellte Frage, wie wir Deutschen mit der geschenkten Freiheit umgehen, kommt er zu dem Schluss, "dass die Demokratie in Gefahr ist nicht durch Rechtsradikale, sondern in erster Linie durch die Ohnmacht der Politik, derzufolge sich die Bürger schutzlos dem Diktat der Ökonomie ausgesetzt sehen". Übertreibt Günter Grass?
Schily: Also man muss aufpassen, dass das nicht alles aus den Fugen gerät. Ich weiß nicht: mit dem Diktat der Ökonomie an der Stelle komme ich nicht so gut zurecht. Ich erinnere in diesem Zusammenhang lieber an einen berühmten Satz von Hans-Jochen Vogel, der im Blick auf die Weimarer Republik gesagt hat, diese Weimarer Republik ist nicht aus Mangel an Demokratie zu Grunde gegangen, sondern aus Mangel an Demokraten. Das verweist uns auf die Tatsache, dass Demokratie nicht ein für alle Mal eingeführt wird und dann auf unabsehbare Zeit auch da ist, sondern dass die Demokratie jeden Tag von jedem von uns neu errungen werden muss und Wachsamkeit erfordert gegenüber Kräften, die der Demokratie feindlich gesonnen sind. Das ist für mich die wichtigste Aufgabe, damit nie wieder so etwas eintritt, was in der dunkelsten Zeit der deutschen Geschichte uns leider widerfahren ist.
Remme: Der Westen Deutschlands kann ja auf sechs Jahrzehnte demokratische Entwicklung zurückschauen. Der Osten kann das nicht. Was bewirkt diese Schieflage heute noch?
Schily: Ja, aber wir sollten doch nicht übersehen, dass es eine friedliche Revolution im Osten Deutschlands gegeben hat. Das ist das, was wir mit großem Respekt und großem Dank sagen müssen an die Bürgerinnen und Bürger im Osten unseres Landes. Ich glaube wir sollen alle dankbar dafür sein, dass wir heute ein vereintes Europa, ein vereintes Deutschland haben. Damit haben wir eigentlich einen Punkt in der europäischen Geschichte erreicht, den glücklichsten, den wir je in der europäischen Geschichte hatten. Das ist ein kostbares Gut. Wenn wir dieses Erbe im Blick haben, dann müssen wir der Jugend sagen, bitte nehmt das wahr als ein großes Geschenk und pflegt es. Das ist die Gegenwart Europas. Das soll aber auch die Zukunft, euere Zukunft sein.
Remme: Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) zum 60. Jahrestag des Kriegsendes.