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65 Jahre Grundgesetz
"Auf der Höhe der Zeit"

Die deutsche Verfassung kann nach Ansicht des Rechtsphilosophen Horst Dreier kaum alt und verstaubt wirken. Es gebe zwei Mechanismen, das Grundgesetz "á jour" zu halten, sagte Dreier im Deutschlandfunk. Ein Beispiel sei die veränderte Interpretation der "Diäten" für die Bundestagsabgeordneten.

Horst Dreier im Gespräch mit Stephanie Rohde | 24.05.2014
    Eine Jura-Studentin hält in einer Vorlesung an der Universität Osnabrück (Niedersachsen) eine Ausgabe vom Grundgesetz in der Hand.
    Eine Jura-Studentin hält das Grundgesetz in der Hand. (Friso Gentsch / dpa)
    Stephanie Rohde: 65 Jahre ist die deutsche Verfassung alt. Bei der Feierstunde heute im Bundestag, da ging es recht lebendig zu, was wohl auch an der geistreichen Rede des Islam-Wissenschaftlers Navid Kermani lag, denn er hatte nicht nur Glückwünsche für das Grundgesetz im Gepäck, sondern auch nachdenkliche Kritik. Ist das Grundgesetz so gut wie sein Ruf und wo muss es sich weiterentwickeln, vor allem in Zeiten des technischen Fortschritts? Darüber möchte ich jetzt sprechen mit dem Rechtsphilosophen Horst Dreier, der an der Universität Würzburg lehrt. Guten Abend, Herr Dreier.
    Horst Dreier: Schönen guten Abend.
    Rohde: Das Grundgesetz ist 65 Jahre alt. Sollte es jetzt in Rente gehen?
    Dreier: Nein, dafür gibt es keine Veranlassung. Dem Grundgesetz kann man zu 65 Jahren guten Gewissens gratulieren und ich wage die Prognose, dass es noch ein weit stattlicheres Alter erreichen wird.
    Rohde: Wo wirkt es denn alt oder verstaubt? Gibt es da Punkte, an denen Sie das erkennen würden?
    Änderungen in 59 Gesetzen
    Dreier: Das Grundgesetz kann schon deswegen kaum alt und verstaubt wirken, weil es ja zwei Mechanismen gibt, es gewissermaßen auf der Höhe der Zeit zu halten. Der eine Mechanismus ist die formelle Verfassungsänderung und da müssen wir uns klar machen, dass das Grundgesetz in den letzten 65 Jahren durch 59 Gesetze geändert worden ist. Von den 59 Gesetzen haben dann manche gleich mehrere, manche sogar sehr viele Artikel des Grundgesetzes geändert, und nicht wenige dieser formellen Grundgesetzänderungen hatten gerade das Ziel und den Zweck, das Grundgesetz sozusagen á jour zu halten, also auf dem aktuellen Stand auch der Entwicklung zu halten. Das ist aber nur der eine Gesichtspunkt, die formelle Verfassungsänderung.
    Der zweite Gesichtspunkt ist das, was wir Juristen Verfassungswandel nennen. Verfassungswandel bedeutet, es ändert sich zwar nicht der Text des Grundgesetzes, es ändert sich aber seine Auslegung, also sein Sinnverständnis. Dafür gibt es ein wunderbares Beispiel, nämlich die Diäten der Abgeordneten. Der Artikel 48 des Grundgesetzes spricht von den Diäten der Abgeordneten und das waren früher ganz klassischerweise Tagegelder. Ohne dass sich der Text dieser Norm geändert hat, hat sich allein durch die Judikatur des Verfassungsgerichts das Verständnis geändert, so dass wir heute, wenn wir von den Diäten der Abgeordneten sprechen, von einer Vollalimentation reden. Das ist ein Beispiel von mehreren, die man nennen könnte, so dass durch die Interpretation dessen, was in der Verfassung steht, die Verfassung gewissermaßen schritthält mit Veränderungsprozessen.
    Rohde: Sie haben gesagt, dass diese Auslegung sich ändert. In der Rede heute, die der Schriftsteller Navid Kermani vor dem Bundestag gehalten hat, hat er gesagt, dass das Grundrecht auf Asyl in den 90er-Jahren praktisch abgeschafft wurde. Hat er damit Recht?
    Dreier: Nein. Von praktischer Abschaffung kann keine Rede sein. Wir haben ja weiterhin den Artikel jetzt 16a. Der erste Satz ist ganz unverändert, so wie er schon 1949 im Grundgesetz stand. Was dann folgt, sind relativ detaillierte Regelungen darüber, oder zu dem Zweck, um es vielleicht besser zu sagen, unbegründete Asylbegehren gewissermaßen besser abwehren zu können. Das hat ja nicht dazu geführt, dass die - insbesondere im letzten Jahr sind sie wieder deutlich gestiegen und nur die allerwenigsten sind dann letztlich auch erfolgreich. Was damals passiert ist in den 90er Jahren war eine absolut notwendige Reduzierung eines völlig offenen unkontrollierten Asylgrundrechts.
    Rohde: Also muss sich das Asylrecht überhaupt nicht verändern?
    Dreier: Ob das Asylrecht im Detail auf der gesetzlichen Ebene Änderungen benötigt, das wäre eine andere Frage. Aber die Regelungen des Grundgesetzes, die brauchen, glaube ich, jetzt nicht schon wieder geändert zu werden.
    Rohde: Das Grundgesetz ist ja nicht als Verfassung konstituiert, sondern nur übergangsweise als Provisorium gedacht. Ist es nicht langsam nach 65 Jahren Zeit für eine neue dauerhafte Verfassung in Deutschland?
    "Von Anfang an eine Vollverfassung"
    Dreier: Das Grundgesetz war als Provisorium eigentlich immer nur gedacht in räumlicher Hinsicht. In sachlicher Hinsicht ist es von Anfang an eine Vollverfassung gewesen. Mit Vollverfassung meint man nicht nur ein bloßes Organisationsstatut, nicht nur so ein paar vorläufige provisorische Regelungen, sondern eine Verfassung, die umfassend Staatsorganisation, Grundrechte, Verhältnis Bund/Länder und so weiter regelt. Wenn man vom Provisorium spricht, meint man immer den Umstand, dass man seinerzeit 1949 natürlich gewissermaßen in der Naherwartung der deutschen Wiedervereinigung sein würde. Niemand konnte sich damals vorstellen, dass Deutschland für Jahrzehnte getrennt bleiben würde, sondern man hat gedacht, dass die Wiedervereinigung innerhalb der nächsten Jahre kommt. Für den Fall war es natürlich völlig klar zu sagen, dann machen wir eine neue Verfassung, nämlich unter Einbezug derjenigen Länder, die wir heute immer noch die neuen Bundesländer nennen. Dieser Prozess hat aber eben nicht fünf Jahre oder zehn Jahre, sondern der hat 40 Jahre gedauert, und nach 40 Jahren hatte sich das Grundgesetz so bewährt, hatte auch so eine Verankerung in der Gesellschaft und in der Politik gefunden, dass jetzt von den entscheidenden politischen Mächten es nicht mehr als dringend notwendig und unausweichlich empfunden wurde, eine neue Verfassung zu schaffen. Das können wir immer noch tun, weil nach wie vor der Artikel 146 des Grundgesetzes einen solchen Übergang, eine solche normative Brücke baut, der nämlich sagt, dieses Grundgesetz tritt an dem Tage außer Kraft, an dem eine neue, in freier Selbstbestimmung vom ganzen deutschen Volk beschlossene Verfassung in Kraft tritt.
    Rohde: Aber wäre es nicht jetzt gerade auch sinnvoll, das Volk entscheiden zu lassen über eine neue Verfassung, vor allem im Hinblick auf die EU und die europäische Gesetzgebung, die dem Grundgesetz ja immer näher rückt?
    Defizit des Grundgesetzes
    Dreier: Darüber könnte man in der Tat nachdenken. In dem Zusammenhang könnte man über einen zweiten Punkt nachdenken, was wirklich ein Defizit des Grundgesetzes ist. Das Grundgesetz kennt keine Vorkehrungen dafür, dass bei Verfassungsänderungen das Volk beteiligt wird. Das ist eine sehr segensreiche Regelung, wie man in vielen anderen Staaten sehen kann und zum Beispiel auch in Deutschland in Bayern. Da gibt es keine Verfassungsänderung ohne Beteiligung des Volkes. In dem Augenblick, in dem wir auf europäischer Ebene tatsächlich einen Staat errichten würden, also gewissermaßen die Vereinigten Staaten von Europa, um diese Parallele mal zu bemühen, da ginge es in der Tat nicht so, dass wir das in einem schleichenden Prozess mit dem alten Grundgesetz machen, sondern dann müssten wir den Artikel 146 in der Tat aktivieren, weil dann der Status der Bundesrepublik Deutschland fundamental verändert würde. Der Status wäre dann praktisch der Status, den jetzt die Länder gegenüber der Bundesrepublik Deutschland haben. Das wäre dann der Status der Bundesrepublik Deutschland in den Vereinigten Staaten von Europa. Ich sehe aber nicht, dass die so schnell realisiert werden.
    Rohde: Lassen Sie uns dann noch ganz kurz Bilanz ziehen. Bundestagspräsident Norbert Lammert hat das Grundgesetz als Glücksfall der deutschen Geschichte bezeichnet. Ist das Grundgesetz wirklich so gut wie sein Ruf?
    Dreier: Jede Sache kann man immer noch besser machen und man sagt ja zu Recht, das Bessere ist der Feind des Guten. Der Wettbewerb darum, welche Verbesserungen etwa durch weitere Verfassungsänderungen möglich wären, der bleibt weiterhin offen. Aber die Gesamtbilanz, die ist in der Tat unter dem Strich bei allen Einwänden, die man an dem einen oder anderen Punkt haben kann, absolut positiv.
    Rohde: ..., sagt der Rechtsphilosoph Horst Dreier von der Universität Würzburg. Vielen Dank, dass Sie sich Zeit genommen haben für dieses Gespräch.
    Dreier: Sehr gerne!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.