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65 Jahre Grundgesetz
Navid Kermani über die Kraft des Wortes

Navid Kermani ist Orientalist, seine Eltern stammen aus dem Iran. Doch Kermani ist auch Schriftsteller – und als solcher analysierte er heute anlässlich des 65. Jahrestages das Grundgesetz nicht nur politisch, sondern auch sprachlich.

Von Christiane Habermalz |
    Schriftsteller Navid Kermani redet am 23.05.2014 im Bundestag in Berlin auf der Feierstunde anlässlich des 65. Jahrestages des Inkrafttretens des Grundgesetzes. Bildunterschrift Geben Sie eine individuelle Bildunterschrift ein oder lassen Sie das Feld lee
    Schriftsteller Navid Kermani redet am 23.05.2014 im Bundestag in Berlin auf der Feierstunde anlässlich des 65. Jahrestages des Inkrafttretens des Grundgesetzes. Bildunterschrift Geben Sie eine individuelle Bildunterschrift ein oder lassen Sie das Feld lee (dpa/Hannibal Hanschke)
    Das Grundgesetz, legt Navid Kermani dar, beginnt mit einem Paradox – eigentlich eher ein gängiges Mittel der Poesie als der Juristerei. Denn wäre die Würde des Menschen unantastbar, wie es im ersten Satz heißt, müsste der Staat sie nicht achten und schon gar nicht schützen, wie es der zweite Satz verlangt. Mit diesem ersten Satz mache das Grundgesetz, anders als die vorherigen Verfassungen Deutschlands, den Staat zum Diener der Menschen und der Menschlichkeit, sagte Kermani vor dem Deutschen Bundestag.
    "Sprachlich ist das - mag man es nicht als brillant bezeichnen, weil man damit einem eminent normativen Text ästhetisierte – es ist vollkommen, nichts anderes."
    Navid Kermani ist Orientalist, seine Eltern stammen aus dem Iran. Dass er als Kind von Einwanderern, der noch dazu einer Minderheitsreligion angehöre, die Festrede zum 65. Jahrestag des Grundgesetzes halte – bezeichnete er selbst als eine "Pointe", die in nicht vielen Staaten der Erde möglich sei. Doch Kermani ist auch Schriftsteller – und als solcher analysierte er heute das Grundgesetz nicht nur politisch, sondern auch sprachlich.
    Man könne die Wirkmächtigkeit des Grundgesetzes und seinen Erfolg nicht erklären, ohne auch seine literarische Qualität zu würdigen, betonte Kermani. Satz für Satz ging er die Artikel des Grundgesetzes durch, beschrieb, wie allein durch die Kraft des Wortes Wirklichkeit geschaffen wurde – denn zum Zeitpunkt seiner Entstehung 1949 war das freiheitliche Grundgesetz, wie es seine Väter und Mütter niedergeschrieben hatten, eher Appell und Bekenntnis als eine Beschreibung der Realität.
    "Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung – wie abwegig muss den meisten Deutschen, die in den Trümmern ihrer Städte und Weltbilder ums nackte Überleben kämpften, wie abwegig muss ihnen die Aussicht erschienen sein, so etwas Luftiges wie die eigene Persönlichkeit zu entfalten – aber was für ein verlockender Gedanke es zugleich war."
    Oder der Satz: "Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich" – gut so weit aber auch Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle, Behinderte, Andersdenkende und Fremde? Sie waren vor dem Gesetz ja gerade nicht gleich gewesen, mussten es für die Deutschen erst werden. Noch 1951, erzählt Kermani, hätten bei einer Umfrage die Deutschen auf die Frage, wann für sie die beste Zeit gewesen sei, zu 45 Prozent das Kaiserreich angegeben, 42 den Nationalsozialismus, sieben Prozent die Weimarer Republik und nur zwei Prozent die Bundesrepublik.
    "Wie froh müssen wir sein, dass am Anfang der Bundesrepublik Politiker standen, die ihr Handeln nicht nach Umfragen, sondern nach ihren Überzeugungen ausrichteten." Dies ist ein gutes Deutschland, das Beste, das wir kennen, sagte Kermani. Dennoch falle es ihm nicht leicht, Stolz auf das eigene Land auszusprechen. Wenn er sich jedoch frage, wann das militaristische, das mit der Ermordung von sechs Millionen Juden völlig entehrte Deutschland seine Würde wiedergefunden habe, dann denke er noch heute an den Kniefall von Willi Brandt vor dem Mahnmal am Warschauer Getto.
    "Das ist noch merkwürdiger als das Paradox, mit dem das Grundgesetz beginnt, und wohl beispiellos in der Geschichte der Völker: Dieser Staat hat Würde durch einen Akt der Demut erlangt."
    Es sei dieses zurückhaltende, mit sich hadernde Deutschland, das seine Verfassung bescheiden Grundgesetz nenne und nicht das großsprecherische, kraftmeiernde Deutschland, das ihn mit Stolz erfülle, betonte Kermani. Deutschland sei heute freier, gerechter und toleranter als noch in den 90er-Jahren, es sei Heimat geworden für viele Zuwanderer, auch für seine Eltern und deren Nachkommen. Allerdings habe das Grundgesetz im Laufe seiner Existenz eine Reihe von Änderungen erfahren, und nur wenige Eingriffe hätten dem Text gut getan. Am schwersten wiege die Entstellung des Artikel 16 A – nicht nur sprachlich.
    "Ein wundervoll bündiger Satz – "politisch Verfolgte genießen Asylrecht", geriet 1993 zu einer monströsen Verordnung aus 275 Wörtern, die wüst aufeinandergestapelt und fest ineinander verschachtelt wurden, nur um eines zu verbergen: Dass Deutschland das Asyl als ein Grundrecht praktisch abgeschafft hat."
    Auch heute gebe es genug Menschen, die auf die Offenheit anderer demokratischer Länder existenziell angewiesen seien, "Edward Snowden, dem wir für die Wahrung unserer Grundrechte viel verdanken, ist einer von ihnen. Andere ertrinken jeden Tag im Mittelmeer, jährlich mehrere Tausend, und so mit großer Wahrscheinlichkeit auch während unserer Feststunde."