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70. Jahrestag der Befreiung
Russland gedenkt Belagerung Leningrads

872 Tage lang belagerte die Wehrmacht Leningrad, das heutige St. Petersburg. Eine Million Bewohner der Stadt waren umgekommen, bevor der Roten Armee am 27. Januar 1944 der Durchbruch gelang. Die Gedenkfeiern zum Jahrestag werden aber auch kritisch gesehen.

Von Gesine Dornblüth | 27.01.2014
    Ein Mann trägt bei einer Gedenkfeier in St. Petersburg die sowjetische Marineflagge.
    Ein Mann trägt bei einer Gedenkfeier in St. Petersburg die sowjetische Marineflagge. (dpa / picture-alliance / Belinsky Yuri)
    Die Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag des Endes der Leningrader Blockade begannen bereits am Wochenende. Im Zentrum St. Petersburgs wurde eine Straße historisch so hergerichtet wie während der 900 Tage der Belagerung. Lautsprecher warnen vor Bombenangriffen. An den Häusern kleben Zettel mit Tauschangeboten: Wollsocken, Halbschuhe, Bettwäsche gegen Lebensmittel. Und es ist militärisches Gerät aufgestellt: Motorräder mit aufmontierten Maschinengewehren. Politiker, Veteranen und Angehörige legten feierlich Blumen und Kränze auf dem Piskarjowskoje-Gedenkfriedhof nieder. Es ist der größte Friedhof aus dem Zweiten Weltkrieg, rund 500.000 Menschen sind hier bestattet, in Massengräbern. Ein Mensch in St. Petersburg sagt: "Wir kommen jedes Jahr, gedenken unserer Verwandten. Ich kann darüber nicht sprechen."
    Skeptischer Blick auf die Gedenkfeiern
    Zur Trauer mischen sich, wie so oft im russischen Gedenken an den Zweiten Weltkrieg, Patriotismus und Heldenkult. Erstmals in der Geschichte der Stadt findet heute eine Militärparade vor dem Gedenkfriedhof statt. Das Petersburger Stadtparlament hat vorgeschlagen, den 27. Januar für arbeitsfrei zu erklären. In der Begründung heißt es, alle Petersburger müssten die Möglichkeit bekommen, den heldenhaften Verteidigern Leningrads ihren Dank auszudrücken und an Veranstaltungen teilzunehmen, die der Jugend die heldenhaften Siege der Blockadeteilnehmer ins Gedächtnis zu rufen. Galina Schkolnik, Mitarbeiterin der Organisation "Memorial" in St. Petersburg, sieht das offizielle Gedenken mit einer gewissen Skepsis. "Was hat es mit Heldentum zu tun, wenn die Menschen verhungern? Das ist eine Tragödie. Aber darüber redet keiner."
    Der Durchbruch der Roten Armee wird in St. Petersburg nachgespielt.
    Der Durchbruch der Roten Armee wird in St. Petersburg nachgespielt. (dpa / picture-alliance / Igor Russak)
    "Memorial" setzt sich seit mehr als zwanzig Jahren für die Aufarbeitung der stalinistischen Verbrechen ein. Viele der Menschen, die "Memorial" betreut, waren im Gulag, den berüchtigten Lagern, viele haben zusätzlich die Blockade erlebt, erzählt Galina Schkolnik. "Man muss die Blockade als ein Glied in der Kette der Repressionen gegen das eigene Volk sehen. Zur Blockade kam es nicht nur wegen des blitzartigen Überfalls, sondern auch wegen der Zustände hier bei uns. Warum mussten so viele Menschen verhungern? Wir müssen auch über die eigenen Fehler reden, aber das ist bei uns irgendwie nicht üblich."
    Britische Autorin kritisiert späte Evakuierung der Stadt
    Versäumnisse auf sowjetischer Seite hätten dazu beigetragen, dass so viele Menschen in Leningrad ihr Leben verloren, sagt auch die britische Autorin Anna Reid. Sie hat ein umfassendes Buch zur Leningrader Blockade verfasst und sagt: "Das allergrößte Versäumnis bestand darin, das Unternehmen Barbarossa, den Überfall der Deutschen, nicht vorhergesehen zu haben und keine Verteidigung aufgebaut zu haben. Nur deshalb konnte die Wehrmacht so schnell vorrücken und bis nach Leningrad kommen. Außerdem haben die Behörden Leningrad nicht rechtzeitig evakuiert und zu wenig Lebensmittelvorräte angelegt. Das lag daran, dass es so gefährlich war, einzuräumen, wie schnell die Deutschen vorankamen. Wer öffentlich darüber sprach, dass zum Beispiel Kiew gefallen war, musste damit rechnen, verhaftet zu werden. In den ersten Kriegswochen steckten deshalb alle den Kopf in den Sand.
    Diese Schattenseiten werden bei den offiziellen Gedenkfeiern nicht thematisiert. Heute Abend um 19 Uhr Ortszeit soll ganz Petersburg in einer Schweigeminute verharren. Anschließend werden 1944 Jugendliche in einer Menschenkette Lichter entzünden. Man wolle damit jener gedenken, die Leningrad verteidigten, heißt es auf der offiziellen Website der Stadt, jener, die ihr Leben für den Frieden gaben, die aushielten, siegten und überlebten.