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75 Jahre Ende der Belagerung Leningrads
"Russland sieht sich immer noch als Kriegsheld"

Während der Blockade Leningrads durch die Nationalsozialisten verhungerte mehr als eine Million Menschen. Doch die sowjetischen Opfer würden bis heute weniger anerkannt als andere, sagte die Historikerin Susanne Schattenberg im Dlf. Vor allem Russland selbst stelle lieber die Heldentat der Armee in den Vordergrund.

Susanne Schattenberg im Gespräch mit Manfred Götzke | 27.01.2019
    Zwei weibliche Personen sammeln aus Hunger Überreste von toten Pferden während der Leningrader Belagerung auf.
    Zwei Frauen sammeln aus Hunger Überreste von toten Pferden während der Leningrader Belagerung auf (imago / United Archives International)
    Manfred Götzke: Wenn die Welt heute am 27. Januar der Opfer der Nationalsozialisten gedenket, dann wird eines ihrer massivsten Kriegsverbrechen häufig vergessen: die Blockade von Leningrad, die heute vor 75 Jahren von der Roten Armee beendet wurde. Fast 900 Tage lang hat die deutsche Wehrmacht die russische Stadt belagert und mehr als eine Million Zivilisten sind dabei umgekommen, sie sind verhungert. Darunter Hunderttausende Kinder. Das heutige Sankt Petersburg sollte von der Wehrmacht ganz gezielt ausgehungert und geschleift werden - Befehl von Hitler persönlich.
    Dieses Kriegsverbrechen wird von Historikern mittlerweile als Völkermord eingestuft und trotzdem wird zumindest außerhalb von Russland am Tag der Befreiung so gut wie nie an die Befreiung von Leningrad erinnert. Wir wollen das jetzt tun mit Susanne Schattenberg, Osteuropa-Historikerin an der Uni Bremen. Frau Schattenberg, wie muss man sich das Leben in der belagerten Stadt Leningrad vorstellen?
    Susanne Schattenberg Die Situation in dem belagerten Leningrad war katastrophal während der 900 Tage, allerdings ging es zum Schluss dann etwas besser, es heißt, aber Sommer 43 wäre die Situation nicht wesentlich anders gewesen als im sonstigen Kriegsrussland, aber unmittelbar gerade der erste Winter 41/42 brachte die meisten Hungertote. Die Stadt war nicht vorbereitet auf die Blockade, sie befand sich den ganzen September und auch noch Oktober unter massivem Bombenbeschuss und gleich am Anfang brannten auch die Lagerhallen mit den ganzen Getreidevorräten ab. Das heißt, es gab in der Stadt kaum noch etwas zu essen, es wurden sofort von Anfang an am 8. September '41 Lebensmittelkarten eingeführt und die Rationen wurden noch kontinuierlich bis zum Winter runtergesetzt, am Ende waren es dann noch 125 Gramm Brot, auf die ein Mensch Anrecht hatte und Brot darf man das kaum mehr nennen, das war irgendetwas aus Kleie, ein bisschen Mehl und allen möglichen Zutaten, das die Menschen kaum noch runterwürgen konnten. Das heißt, das Hungern und Sterben begann eigentlich sofort.
    "Der erste Kriegswinter brachte große Totenzahlen"
    Götzke: Sie haben gerade gesagt, am Ende waren es 125 Gramm Brot, davon kann man nicht leben - wovon haben die Menschen in den fast 900 Tagen der Belagerung gelebt, leben können?
    Schattenberg: Viel Improvisation, also teilweise sind wirklich Ledergürtel, Lederschuhe, Ledertaschen ausgekocht worden, die Menschen haben Gras gegessen, sie haben Hunde und Katzen geschlachtet, es kam zu Kannibalismus, also die Menschen vielen ja einfach auf der Straße um vor Hunger oder sie litten lange an Dystrophie, konnten sich nicht mehr bewegen, starben in den Betten und aus Verzweiflung wurden dann eben auch Menschen gegessen. Natürlich gabe es auch Lebenmittellieferungen dann über den Ladogasee im Sommer zu Wasser und im Winter über das Eis, aber das waren nur wenige Dinge, die zusätzlich helfen konnten. Gerade der erste Kriegswinter brachte große Totenzahlen: Im Januar '42 sind allein hunderttausend Menschen in der Stadt verhungert.
    "Das war Hitlers ausdrücklicher Wille"
    Götzke: Ziel der Wehrmacht war es ja offenbar nicht, den Widerstand der Bewohner zu brechen, die Stadt direkt zu erobern, sondern die Stadt gezielt auszuhungern - warum ist die Wehrmacht so vorgegangen, was war die Strategie dahinter?
    Schattenberg: Die Strategie war letztlich nicht die der Wehrmacht, die lange Zeit eigentlich darauf gedrungen hat, die Stadt einzunehmen und sofort auch zu zerstören, sondern das war Hitlers ausdrücklicher Wille, der das auch mehrfach sehr deutlich gegenüber der obersten Heeresführung eingefordert hat. Die Vorstellung war, dass Leningrad tatsächlich nicht nur ausgehungert wird, sondern dass auch die Stadt mit all den Kulturgütern, dass auch der Hafen, also die ganze Infrastruktur wirklich dem Erdboden gleichgemacht wird, dass das geschleift wird und dass dort deutsche Wehrbauern angesiedelt werden, die dort Getreide und Lebensmittel für das deutsche Reich anbauen.
    Götzke: Also Kriegstaktik war hier nicht der Fall, es ging nicht darum, die Soldaten zu schonen.
    Schattenberg: Weniger, es war teilweise auch Kriegstaktik, dass dann schnell, weil der Blitzkrieg nicht so schnell vonstatten ging wie geplant, die großen Panzerverbände lieber Richtung Moskau abgezogen wurden, und es ging zum Teil dann auch um Kriegspsychologie, dass gesagt wurde, die deutschen Soldaten sollen nicht mitansehen, wie die sowjetische Bevölkerung verhungert, das könnte sie demoralisieren, deswegen sollte die Stadt eingeschlossen, werden, die deutschen Soldaten sollten draußen bleiben, damit sie das Elend nicht ansehen. Und dritter Punkt war natürlich auch, dass gesagt wurde, wenn man die Stadt einnimmt, dann müsste man die Bevölkerung ja irgendwie ernähren und dafür gäbe es nicht genügend Ressourcen, deshalb sei es günstiger, die Bevölkerung einfach sich selbst zu überlassen.
    Russland sieht sich als Kriegsheld, nicht als Opfer
    Götzke: Dass das ein Kriegsverbrechen der Deutschen war, ist völlig klar - ist es heute noch umstritten, dass man eigentlich von Völkermord sprechen muss?
    Schattenberg: Unter Historikern nicht, deutschen wie russischen - in Russland ist das durchaus sehr umstritten, weil gerade heute eben wieder der Heroismus, das Heldentum gefeiert wird und man nicht anerkennen möchte, dass man hier Opfer war, auch ein Großteil des Leidens der Bevölkerung und eben auch die Systematik, die dahintersteckte, nicht anerkennen möchte, sondern letztlich gerade jetzt unter Putin noch leider wieder daraus Profit geschlagen wird, um die Heldenhaftigkeit, den großen Ruhm der sowjetischen Armee zu feiern.
    Götzke: Das war ja auch in der Sowjetunion lange Zeit oder auch die ganze Zeit so. Warum war das so?
    Schattenberg: Es ging zum großen Teil um die Selbstdarstellung natürlich der Sowjetunion, damit der sowjetischen Führung, es konnte schlichtweg zugegeben werden, weder unter Stalin, aber auch unter seinen Nachfolgern nicht, dass es große Fehler gegeben hat in der Einschätzung überhaupt des Kriegsfeindes und man dementsprechend nicht vorbereitet war, dass eben auch dann sehr viele Truppen und sehr viel Zivilbevölkerung geopfert wurde, weil Stalin die Vorstellung hatte, das sei das richtige Vorgehen, und auch seine Generäle nicht gehört hat. Also hier geht es um die Heldenhaftigkeit der Partei, aber auch der Bevölkerung insgesamt - im großen Gegensatz zum Beispiel von Polen, die ja nicht weniger gelitten haben, aber daraus doch eher eine Opfergeschichte gemacht haben, während eben die Sowjetunion und heute im Anschluss Russland sich eigentlich immer noch als Kriegsheld sieht.
    Sowjetische Opfer wurden nie so anerkannt wie andere
    Götzke: In der alten Bundesrepublik wurde die Belagerung lange Zeit als Kriegstaktik bezeichnet, auch unter Historikern - warum?
    Schattenberg: Ja, weil zum einen die Vernichtungspolitik lange doch lieber verschwiegen wurde oder man auch nicht so wahrhaben wollte - wenn, dann eben die Vernichtung immer als Teil der Judenvernichtung eben gesehen wurde, aber dass das ein Krieg war, der eben in der Sowjetunion anders geführt wurde als in Frankreich, hat sich doch erst sehr spät durchgesetzt als Wahrheit.
    Götzke: Also es ging darum, die Gräueltaten der deutschen Wehrmacht unter den Teppich zu kehren.
    Schattenberg: Letztlich muss man das so sagen, ja. Beziehungsweise kann man natürlich aus den entsprechenden Korrespondentenberichten herauslesen, dass die Offiziere ja etwas anderes vorhatten, dass es denen um Strategiefragen ging und die tatsächlich eine andere Taktik lange Zeit bevorzugt haben als das, was eben die politische Führung wollte.
    Götzke: Wenn wir jetzt noch mal auf die Situation der Opfer oder der Überlebenden schauen: Muss man dann sagen in Deutschland wurden sie marginalisiert und in der Heimat wurden sie zensiert?
    Schattenberg: Ja, das kann man, muss man wohl leider so sagen. Gerade eben durch den Kalten Krieg und die Ost-West-Konfrontation sind die sowjetischen Opfer nie so anerkannt worden, wie das mit anderen Opfern geschehen worden - sicherlich auch eben in Reaktion darauf, dass die Sowjetunion eher versucht hat, dann Kapital aus den Heldengeschichten zu schlagen, und eben auf sowjetischer Seite sind ja lange Zeit diese Opferzahlen auch überhaupt unterdrückt worden. Also wir wissen, dass heute im Zweiten Weltkrieg die Sowjetunion 25 bis 30 Millionen Menschen als Opfer zu verzeichnen hat, und Stalin hat erlaubt, überhaupt nur von sieben Millionen zu sprechen, das ist dann erst unter seinem Nachfolger Chruschtschow korrigiert worden zu 20 Millionen. Und genauso war es mit den Opfern Leningrads, sodass eben immer doch das heldenvolle Überleben im Vordergrund stand, sondern das Sterben in massenhaften Zahlen.
    "Es gehört doch sehr stark zur Identität Leningrads"
    Götzke: Das heißt also, die meisten Russen haben erst 45 Jahre später erfahren, was damals in Leningrad wirklich vor sich gegangen ist.
    Schattenberg: Würde ich nicht so unterschreiben, weil es natürlich in Leningrad jede Familie getroffen hat und es eine große Tradition auch gibt, in den Familien zu erzählen, und ich selber war in den 80er-Jahren in Leningrad und das war letztlich überall Thema und die Menschen, die Blockade überlebt haben, sind dann auch als Blockadniki letztlich ausgezeichnet worden, also es sind über anderthalb Millionen Orden an diese Menschen auch verliehen worden. Das war schon letztlich bekannt, nicht in allen Einzelheiten, nicht in der ganzen Grauenhaftigkeit, und natürlich gab es auch immer wieder Menschen, auch Kinder oder Enkel, die sagten, wir wollen das nicht hören oder sie konnten sich das gar nicht vorstellen, wie das ist, wenn man eine Woche lang nichts zu essen hat, die das relativiert haben. Aber insgesamt gehört das doch sehr stark zur Identität Leningrads oder heute Petersburgs. Die Frage ist eben immer, wie man es wendet. Ob man eben diese enormen Opferzahlen in den Vordergrund stellt oder das heldenreiche Überleben.
    Militärparade zum Gedenken - Heldentum wieder im Vordergrund
    Götzke: Sie haben das vorhin ja auch schon angesprochen, das heldenreiche Überleben oder der Heroismus - wie wird der Opfer heute am 27.1., am 75. Jahrestag in Sankt Petersburg, in Putins Russland, gedacht?
    Schattenberg: Also es gibt eine Militärparade, die einerseits von vielen Veteranen und von der Stadtleitung als vollkommen gerechtfertigt und richtige Form der Erinnerung dargestellt wird. Andererseits gibt es Stimmen, die sagen, das ist nicht das richtige Gedenken, jetzt mit Panzern über den Schlossplatz zu fahren, das stellt eben in den Vordergrund eben die Befreiung, den Tag der Befreiung und letztlich die Heldentat dann der Roten Armee, dahinter kommt aber letztlich wieder das Leiden der Bevölkerung zu kurz, das heißt, das eigentliche Gedenken und Niederlegen von Blumen und Kränzen an den Friedhöfen und Gedenkstellen, das findet einen Tag vorher am 26. Januar statt und das heißt, heute ist dann wirklich dann eher wieder das Heldentum und die Armee stehen dann im Vordergrund.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.