Die britische Zeitung The Guardian hat das gerade peinvoll erfahren: Sie rief ihre Leser allen Ernstes dazu auf, massenhaft Briefe an amerikanische Wähler zu schicken, deren Namen und Adressen sie im Internet veröffentlichte, nachdem ihre Reporter eine originale Wählerliste des Bezirks Clark County im Bundesstaat Ohio ergattert hatten. Es war der gigantischste Versuch von ausländischer Wahlbeeinflussung, den es in der neuzeitlichen Demokratiegeschichte je gegeben hat. Und es versteht sich, dass die britischen Briefschreiber alle für John Kerry werben sollten.
Nur, dass ihm das in Clark County, Ohio eher schaden wird. Die lokalen Führer von Kerrys Partei flehten das Londoner Blatt an, die Kampagne umgehend einzustellen, denn sie löse bei den eigensinnigen Yankees nichts als Ärger aus. In der Tat glauben meisten Amerikaner hartnäckig, dass nur sie den amerikanischen Präsidenten zu wählen hätten. Selbst von ihren guten europäischen Freunden, den Briten, wollen sie sich da nichts sagen lassen. Im Gegenteil: das letzte Mal, dass die Briten ihnen unbedingt etwas sagen wollten, führte in Amerika zu einer Revolution.
Die Deutschen indes bereiten sich seit langem auf die Abwahl des amtierenden US-Präsidenten vor und werden schon fast etwas ungeduldig, weil sie noch immer keine Stimmzettel erhalten haben. Dass George W. Bush überhaupt ins Weiße Haus einzog, nehmen sie den Amerikanern richtig übel. Und da zu befürchten ist, dass die Amerikaner weiterhin nicht auf die Deutschen hören, gibt es nur eine Lösung: Die Deutschen müssen den amerikanischen Präsidenten künftig selber wählen. Nicht weniger als sieben neue Biografien über Senator Kerry sind hierzulande schon erschienen; noch nie wurde einem Kandidaten für irgendein ausländisches Staatsamt soviel Aufmerksamkeit zuteil.
Was heißt Aufmerksamkeit! Es geht um handfeste Unterstützung! 42 000 Briefe wollte der Guardian von seinen Lesern nach Amerika schicken lassen, jetzt sind es nur 14 000 geworden, weil die von ein paar Redakteuren in einem Londoner Pub ausgeheckte Aktion vorzeitig abgebrochen werden musste. Aber immerhin 14 000 – das ist durchaus eine Größenordnung, bei der versuchte Wahlbeeinflussung gravierende politische Folgen haben kann.
Die Alarmmeldungen jedenfalls, mit denen man sich in Europa lustvoll-verbissen in die Vorstellung hineinsteigert, dass die Wahlprozedur in den Vereinigten Staaten zutiefst fragwürdig, falsch und verlogen sei, diese Alarmmeldungen basieren meist auf weitaus weniger Fällen. Denn wenn, wie jüngst geschehen, herauskommt, dass Leute mit Doppelwohnsitz in zwei Bundesstaaten irrtümlich auch auf zwei Wählerlisten stehen, dann bedeutet das in der Praxis folgendes: Die meisten sind ehrliche Staatsbürger und geben ihre Stimme trotz doppelter Möglichkeit nur einmal ab. Von den wenigen aber, die rechtswidrig doppelt wählen, wird ein Teil doppelt für Bush stimmen und ein anderer Teil doppelt für Kerry, was sich logischerweise aufhebt. Die wirklich problematischen Mehrfachwählerstimmen schrumpfen so auf eine verschwindend kleine Zahl zusammen.
Schon jetzt läßt sich absehen, dass diese Argumentation in einem ganz bestimmten Fall schlagartig hoffähig werden wird. Wenn nämlich Kerry gewinnt. Dann werden die Strukturprobleme der Stimmenzählung plötzlich minimal sein, die Wahlmaschinen werden entgegen anfänglichen Bedenken ausgezeichnet funktioniert haben und die OSZE-Beobachter werden befriedigt heimreisen.