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"90 Prozent gehen in die Rente mit Abschlägen"

Laut Bundesagentur für Arbeit hat die Zahl der Berufstätigen über 60 Rekordstand erreicht. Trotzdem sei es ein langer Weg bis zur Rente mit 67, meint der Vorsitzende der SPD-Arbeitnehmer, Klaus Barthel. Die Anhebung des Zugangsalters mache sich jedoch zu stark als Rentenkürzung bemerkbar.

Klaus Barthel im Gespräch mit Mario Dobovisek |
    Mario Dobovisek: Die Rente ist sicher, das sagt Schwarz-Gelb ebenso wie Rot-Grün. Einzig in welcher Höhe und ab welchem Alter bleibt eine offene wie umstrittene Frage. Den demografischen Wandel entgegnend, hat bereits die Große Koalition die Rente mit 67 beschlossen und verkündet. Doch alles begann weit früher mit der Agenda 2010 und SPD-Kanzler Gerhard Schröder.

    O-Ton Gerhard Schröder: "Wir werden, meine sehr verehrten Damen und Herren, Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fordern und mehr Eigenleistung von jedem einzelnen abfordern müssen."

    O-Ton Franz Müntefering: "Das wird bedeuten, dass ab Jahr 2012 Schritt für Schritt das Renteneintrittsalter von 65 angehoben wird auf 67."

    O-Ton Ottmar Schreiner: "Ich war damals schon gegen die Reform 2001. Ich war der Auffassung, das führt dazu, dass Altersarmut wieder wachsen wird, und genau vor dem Problem stehen wir."

    O-Ton Peer Steinbrück: "Es sind nicht alle Frauen und Männer in der Lage, ein Renteneintrittsalter von 67 im Jahre 2029, 2030 zu erreichen."

    O-Ton Sigmar Gabriel: "Die SPD hat mit dem heutigen Tage als einzige Partei in Deutschland ein schlüssiges Rentenkonzept."

    Dobovisek: Gerhard Schröder, Franz Müntefering, Ottmar Schreiner, Peer Steinbrück und Sigmar Gabriel – sie alle zeichnen gewissermaßen den Schlingerkurs der Sozialdemokraten in Sachen Rente nach. Erst kommt sie, die Rente mit 67, dann die Wahlschlappe von 2009 und inzwischen die Kehrtwende mit dem neuen Rentenkonzept, das die Rente mit 67 in Teilen wieder einkassiert. Nur wenn die Mehrzahl der 60- bis 65-Jährigen tatsächlich Arbeit findet, heißt es bei der SPD, dann könne sie kommen, die Rente mit 67. Bis dahin solle sie ausgesetzt werden.

    Doch die Zahl der Beschäftigten über 60 stieg in den vergangenen fünf Jahren um mehr als 80 Prozent, teilte die Bundesagentur für Arbeit gestern mit, allein um zwölf Prozent im vergangenen Jahr. – Am Telefon begrüße ich Klaus Barthel, Bundestagsabgeordneter und Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen in der SPD. Guten Morgen, Herr Barthel!

    Klaus Barthel: Guten Morgen, Herr Dobovisek.

    Dobovisek: Die Zahlen zeigen nun: Ältere Arbeitnehmer sind durchaus begehrt, finden durchaus Arbeit. Kann sie nun uneingeschränkt kommen, die Rente mit 67?

    Barthel: Ich glaube, da sind wir noch ein ganzes Stück entfernt davon, denn es ist ja die Frage, welche Arbeit die Menschen haben. Eine Erwerbstätigkeit an sich besteht ja heute oft darin, dass Minijobs gemacht werden und versucht wird, irgendwie sich Geld dazu zu verdienen. Für uns ist der Maßstab eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung.

    Dobovisek: Und genau das, sagt die Bundesagentur für Arbeit, sei gegeben. Das heißt, eben diese Zahl sei um 80 Prozent gestiegen.

    Barthel: Na gut, aber da sind wir noch lange nicht bei dem Kriterium, dass wir sagen, mehr als die Hälfte muss tatsächlich auch zwischen 60 und 64 beschäftigt sein. Die Zahlen der Rentenversicherung sprechen eine etwas andere Sprache, wenn man mal betrachtet, mit welchem Alter und unter welchen Bedingungen heute ein Renteneintritt stattfindet. Da sind wir noch unter zehn Prozent bei denjenigen, die ohne Abschläge das 65. Lebensjahr erreichen, also die jetzige Regelaltersgrenze.

    Das heißt also, 90 Prozent gehen in die Rente mit Abschlägen, oder aus prekärer Beschäftigung. Das heißt, sie müssen also ganz erhebliche Rentenminderungen hinnehmen, und solange das so ist, sind die Voraussetzungen für eine Anhebung des gesetzlichen Rentenzugangsalters nicht erreicht.

    Dobovisek: Müssten denn, Herr Barthel, wenn ich da mal einhaken darf, die Arbeitgeber künftig auch politisch dazu gebracht werden, ältere Arbeitnehmer länger anzustellen?

    Barthel: Ja das ist das eine, dass wir in vielen Betrieben ja kaum noch über 55-Jährige finden, dass in weiten Teilen der Wirtschaft eben versucht wird, die Beschäftigung ab einem bestimmten Alter abzubauen. Das wäre das eine.

    Dobovisek: Brauchen wir eine Altenquote?

    Barthel: Das ist schwierig, weil die Arbeitssituation und die Arbeitsbelastung und die betrieblichen Situationen so unterschiedlich sind. Aber man muss sicher darüber nachdenken, wie wir die Arbeitgeber dazu bringen, ältere Menschen zu beschäftigen. Aber der andere ganz wichtige Aspekt ist ja, dass wir nicht nur die Arbeitsmarktproblematik haben, sondern wir haben einfach auch die gesundheitliche Problematik, die Tatsache, dass viele Menschen sich überhaupt nicht in der Lage sehen, sich überhaupt nicht vorstellen können, auch schon bis 65 zu arbeiten, weil sie einfach die Belastungen nicht aushalten. Das heißt, wir müssen auch in der Arbeitswelt Veränderungen erreichen, damit wir wenigstens mal für die meisten die 65 Jahre erreichbar machen.

    Dobovisek: Ihr Kanzlerkandidat Peer Steinbrück befürwortet ja grundsätzlich längere Lebensarbeitszeiten. Ist er damit für Sie unsozialdemokratisch?

    Barthel: Nein! Ich meine, wir würden ja längere Lebensarbeitszeiten - - Das hören wir ja. Die erreichen wir ja dadurch, dass die Menschen wenigstens mal in die Lage kommen, bis 65 zu arbeiten. Und dagegen hat ja niemand was, ganz im Gegenteil. Das ist ein Ziel, das wir auf jeden Fall erreichen müssen. Wir müssen sehen, dass weniger Menschen zum Beispiel wegen Erwerbsminderung oder Erwerbsunfähigkeit aus dem Arbeitsleben ausscheiden. Da gibt es noch viel zu tun, und da ist auch noch ein langer Weg dann bis zur Erhöhung des gesetzlichen Rentenzugangsalters, denn das entscheidet über die Frage vor allen Dingen der Rentenleistung.

    Das heißt, da sind viele Stellschrauben noch zu bearbeiten, weil im Moment ist es ja so, dass sich eine Anhebung des Rentenzugangsalters, des gesetzlichen Rentenzugangsalters dann einfach als eine Rentenkürzung bemerkbar macht, und das vor dem Hintergrund dessen, dass ja das Rentenniveau weiter sinken soll in den nächsten Jahren. Das heißt, wir müssen also auch bei der Frage des Rentenniveaus etwas ändern, damit der Druck im Grunde, mit großen Abschlägen in Rente zu gehen, wie es jetzt ist – knapp die Hälfte der Menschen geht ja jetzt mit erheblichen Abschlägen vorzeitig in Ruhestand -, damit wir daran was ändern können und damit wir Altersarmut vermeiden.

    Dobovisek: Wird am Ende möglicherweise sogar eine Rente mit 69 stehen müssen? Davon gehen nämlich Sozialforscher aus, da geht auch die Enquete-Kommission des Bundestages von aus, selbst die Bundesbank sieht diese Zahl seit 2009 im Raum stehen.

    Barthel: Na ja, gut, also die Bundesbank und andere und diese ganzen Rentenmathematiker, die sind ja schon oft widerlegt worden. Da geht es einfach um die Frage, wie verteilen wir auch Einkommen. Diese ganzen Modellrechnungen sehen ja zum Beispiel von der Frage ab, wie hoch ist die Lohnquote und wie ist die Situation zum Beispiel auf dem Arbeitsmarkt, haben wir eine weitere Zunahme von Niedriglohn und prekärer Beschäftigung, haben wir weiterhin so einen hohen Anteil auch von jungen arbeitslosen Menschen.

    Da wird auch bei uns kaum drüber geredet, dass wir zum Beispiel an der zweiten Schwelle, also nach dem Studium oder nach der Berufsausbildung, eine Jugendarbeitslosigkeit von über 15 Prozent haben und dass von denen dann wieder ein großer Teil eine befristete oder eine prekäre Beschäftigung haben, und insgesamt sinkt der Durchschnitt der Löhne. Alles das wirkt sich negativ auch auf das Rentensystem aus, und diese ganzen Tatsachen, die Verteilung auch und die Tatsache, dass immer mehr große Vermögen angehäuft werden auf der anderen Seite, wird bei der Rentendebatte strikt vernachlässigt und immer so getan, als hätte diese Gesellschaft kein Geld.

    Dobovisek: …, sagt der Sozialdemokrat Klaus Barthel. Ich danke Ihnen für das Gespräch.

    Barthel: Ich danke Ihnen!


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