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Ab da waren die Deutschen "nicht mehr so ganz böse"

Für den Direktor des Collegiums Polonium, Krzysztof Wojciechowski, war Willy Brandts berühmter Kniefall vor dem Denkmal für die ermordeten Juden in Warschau "eine Geste, die rübergekommen ist". Die Verbeugung vor den Opfern der Naziherrschaft habe die Gefühle der Polen "wesentlich erwärmt".

Krzysztof Wojciechowski im Gespräch mit Friedbert Meurer | 07.12.2010
    Friedbert Meurer: Es gibt in der Politik ganz wenige Bilder, die sich für immer eingeprägt haben: ein getötetes nacktes Mädchen im Vietnam-Krieg, der sterbende Soldat im Spanischen Bürgerkrieg oder der DDR-Volkspolizist, der in letzter Sekunde über den Grenzzaun in Berlin springt. Und ein Bild gehört mit Sicherheit auch dazu: der Kniefall von Bundeskanzler Willy Brandt 1970 in Warschau. Bundespräsident Christian Wulff ist deswegen heute in der polnischen Hauptstadt. Darüber will ich reden mit Krzysztof Wojciechowski, er ist der Direktor des Collegiums Polonium an der Viadrina-Universität in Frankfurt/Oder. Guten Tag, Herr Wojciechowski.

    Krzysztof Wojciechowski: Guten Tag, Herr Meurer.

    Meurer: Sie waren damals 13, 14 Jahre alt, 1970. Können Sie sich daran erinnern, an die Bilder?

    Wojciechowski: Ja. Ich kann mich weniger an die Bilder erinnern als an die Nachricht, dass der deutsche Kanzler gekommen ist und dass er so etwas tat, dass die Deutschen ab diesem Moment nicht mehr die Bösen sind oder besser gesagt nicht mehr so ganz böse sind, wie sie immer in meinen Augen waren. Nur ich habe mich gewundert, wo er das getan hat, wo dieser Kniefall war. Mir war das Denkmal des Opfers des Aufstandes des Warschauer Ghettos nicht bekannt. Ich lebte seit meiner Geburt in Warschau, kannte alle Denkmäler, vor etlichen bin ich da mit den Schulen sozusagen aufgekreuzt, Kränze niedergelegt, irgendwie weltliche Messen abgehalten, aber das Denkmal kannte ich nicht.

    Meurer: Was ging Ihnen und vielen Landsleuten damals denn durch den Kopf, dass Willy Brandt vor dem Denkmal für die getöteten Juden niederkniete, aber nicht vor dem Denkmal, das an den Aufstand des polnischen Widerstands 1944 erinnerte?

    Wojciechowski: Das muss man - wissen Sie, viele Sachen projektieren wir, projizieren wir in die Vergangenheit. Also erstens: damals gab es kein Denkmal des Warschauer Aufstandes 1944. Es gab das Denkmal, Nike-Denkmal der Helden Warschaus im Zweiten Weltkrieg. Das war so ein Mittelweg zwischen den sozusagen Gefühlen der Bevölkerung und den geopolitischen Sachen. Die Russen hatten nicht gerne irgendwelche Symbole, die den Warschauer Aufstand betroffen haben. Zweitens: Man hat die jüdische Geschichte an den Rand der historischen Wahrnehmung gedrängt, ohne irgendwie sozusagen böse Gedanken zu haben. Ich würde hier von keinem Antisemitismus sprechen, sondern von einer, sagen wir, maximalen Ausbeutung des eigenen Leidens, des polnischen Leidens und des Heldentums. Und Kanzler Brandt macht etwas am Rande. Nichtsdestotrotz war das eine Geste, die rübergekommen ist, und die Gefühle der Polen haben sich wesentlich erwärmt.

    Meurer: Was ist denn aus Ihrer Sicht die historische Leistung von Willy Brandt gewesen? War es das, wie Sie sagen, dass die Gefühle auf der polnischen Seite sich erwärmt haben durch den Kniefall, oder war es auch, dass Willy Brandt damit an das Thema Antisemitismus in Polen erinnert hat und eine Debatte angestoßen hat?

    Wojciechowski: Das Zweite scheint mir eine absolute Randerscheinung zu sein. Die Antisemitismus-Debatte entfachte sich in Polen viel, viel später, eigentlich erst in den 80er- und 90er-Jahren. Dazu waren wir damals absolut nicht reif, nicht mal das als solches Zeichen wahrzunehmen. Aber Sie werden überrascht sein. Für mich war das ein wichtiges Zeichen für Europa, nämlich Deutschland, ein großes Land, kniet in Person des Kanzlers vor einem kleinen Land nieder, welches, dieses kleine Land, noch ein Drittel seines Territoriums sozusagen aus den deutschen Territorien hat. Deutschland zeigt eine Demutsgeste, eine psychologische Fähigkeit, sozusagen in Halbhocke vor der Außenwelt zu verharren, und vergleichen wir das mit der Haltung Japans, das ungefähr dieselben Gräueltaten begangen hat und sich nie in den nächsten 50 Jahren entschuldigt hat. Also Deutschland ist bereit, von eigener wirtschaftlicher und politischer Größe etwas sozusagen abzusparen, abzuzwacken, um stabile Verhältnisse zu schaffen. Ohne diese Haltung wäre ein vereintes Europa nicht möglich.

    Meurer: Dieses Bild von 1970, die Ereignisse, kennt man die heute noch in Polen? Kennt die jedes polnische Schulkind?

    Wojciechowski: Oh, da bin ich überfragt. Es gab so viele Änderungen der Schulbücher. Aber ich denke, die Chance, dass das heutige Kinder kennen, ist viel größer als noch vor zehn oder 15 Jahren. Der Kniefall von Brandt ist jetzt ein Bestandteil der historischen Bildung der Polen in den Beziehungen Deutschland-Polen, zweifellos. Mit der Zeit hat sich der Status etabliert und das ist sozusagen ins breite Bewusstsein vorgedrungen. Aber ob jedes Kind? Wissen Sie, in Ostdeutschland weiß jedes zweite Kind nicht, wann die DDR existiert hat. Also mit der historischen Bildung ist es so eine Sache. Nichtsdestotrotz: Die Polen haben sie, haben ein sehr starkes historisches Bewusstsein, und ich denke, die Schüler auch.

    Meurer: Heute vor 40 Jahren kniete Willy Brandt nieder am Denkmal für die ermordeten Juden in Warschau. Darüber sprach ich mit Krzysztof Wojciechowski von der Viadrina-Universität in Frankfurt/Oder. Danke schön und auf Wiederhören!

    Wojciechowski: Danke schön, Herr Meurer.

    Mehr zum Thema:

    Gedenken an die Opfer des Warschauer Ghettos - Wie ein Kniefall Geschichte schrieb (tagesschau.de)