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Abdullahi Ahmed An-Na'im
"Einen islamischen Staat kann es nicht geben"

Der IS hat in Syrien und im Irak ein Kalifat ausgerufen. Doch als Staatsform kann es einen islamischen Staat nicht geben, sagt der aus dem Sudan stammende und in Atlanta lehrende Rechtswissenschaftler Abdullahi Ahmed An-Na'im. "Nur Menschen können Muslime sein - keine Institutionen."

Von Sandra Stalinski | 31.10.2014
    Abdullahi An-Na'ims Theorie dürfte so manchen Muslim irritieren. Ein säkularer Staat sei ein muslimischer Imperativ, behauptet er - und argumentiert dabei aus religiöser Perspektive.
    "Der Begriff islamischer Staat existiert in keiner der Sprachen muslimischer Gesellschaften bis zum 20. Jahrhundert. Ich behaupte, so etwas wie einen islamischen Staat kann es nicht geben. Es gab nie einen und es kann nie einen geben. Es ist konzeptionell unmöglich, für einen Staat islamisch zu sein. Nur Menschen können glauben, nur Menschen können Muslime sein oder nicht, keine Institutionen. Der Staat ist eine politische Institution, die außerstande ist, eine Religion zu haben. Wann immer wir sagen, ein Staat ist islamisch, dann meinen wir lediglich, dass es ein Staat ist, wo die den Staat kontrollierenden Eliten, anderen ihre Sicht des Islams aufzwingen."
    Die Tatsache, dass eine Terrororganisation wie der IS oder Länder wie der Iran oder Saudi-Arabien sich selbst als islamische Staaten bezeichneten, mache diese Behauptung noch lange nicht wahr. Denn Eliten eines Staates würden sich selbst alle möglichen Etikette geben, sagt An-Na'im. So sei etwa auch die DDR nicht demokratisch gewesen, nur weil sich die Deutsche Demokratische Republik so nannte.
    An-Na'im: Keine oberste Lehrinstanz im Islam vorhanden
    Selbst Medina, wo der Prophet Mohammed zugleich als religiöser und politischer Führer wirkte, lässt An-Na'im nicht als Gegenbeispiel gelten. Denn für die Muslime in Medina sei Mohammed in erster Linie Prophet gewesen. Für die Nicht-Muslime hingegen sei er nur ein politischer Führer unter anderen gewesen. Von einem allgemein anerkannten islamischen Staatswesen könne auch hier keine Rede sein. Die Qualität islamisch zu sein, lasse sich nicht anhand eines bestimmten Kriterienkatalogs einfach abhaken, im Islam gebe es nun mal keine oberste Lehrinstanz.
    "Der Islam ist - theologisch gesprochen - radikal demokratisch. Das heißt, es gibt keine islamische Autorität, die definieren könnte, was islamische Lehre ist, nirgendwo. Zumindest keine, die von allen Muslimen anerkannt wäre. Wir haben eine Vielzahl religiöser Autoritäten. Eine Vielzahl an verschiedenartigen Beziehungen, die religiöse Menschen untereinander und zu ihren Institutionen haben."
    Eine Institution könne so per definitionem nicht islamisch sein. Moslem zu sein, beruht für An-Na'im einzig und allein auf einer individuellen Entscheidung eines einzelnen Menschen. Ein Kollektiv könne diese Entscheidung nicht treffen. Und wenn der Glaube von außen aufgezwungen werde, sei er ohnehin bedeutungslos.
    Geschichte der Kalifate und des Osmanischen Reichs
    Der Philosoph und Politikwissenschaftler Otto Kallscheuer dagegen ist skeptisch, ob eine derart individualistische Theorie des Islams anschlussfähig sein kann. Er verweist auf die Geschichte der Kalifate und des Osmanischen Reichs.
    "Analytisch ist es sehr fraglich, wenn ich mir meinen Islam als den Gutmenschen-Islam der individuellen Freiheit zusammenbastele und den ganzen Rest der islamischen Geschichte als nicht islamisch bezeichne. Dann habe ich einen unter freiheitlichen Menschen anschlussfähigen Begriff des Islams, aber er ist möglicherweise historisch nicht sehr brauchbar. An Na'im hat mit seiner Wunderwaffe des individuellen Gewissens, also mit dem Lockeschen Begriff 'faith is only faith by believing', hat er Tabula rasa gemacht und das macht seine Botschaft freiheitlich, aber historisch, politisch zu unpräzise."
    Die liberale, freiheitliche Botschaft An Na'ims, die dieser aus den Urtexten des Islams entnehme und als eigentliche Botschaft des Propheten begreife, würdigt Kallscheuer jedoch ausdrücklich. Sie stehe in Zusammenhang mit An Na'ims politischer Geschichte.
    Abdullahi An Na'im wurde im Sudan geboren und schloss sich als Student der islamischen Reform- und Unabhängigkeitsbewegung von Mahmud Muhammad Taha an. Nachdem die Bewegung unterdrückt und fundamentalistische Strömungen im Sudan stärker wurden, verließ An Na'im das Land. Er engagierte sich als Menschenrechtsaktivist und wurde Exekutivdirektor von Human Rights Watch in Afrika. Heute ist er Professor für Rechtswissenschaften in Atlanta.
    Vermittlung zwischen Religion und Moderne
    Eines seiner Hauptanliegen ist die Vermittlung zwischen Religion und Moderne, denn beide, so An Na'im, brauchten einander. Der säkulare Staat könne von den Werten der Religion profitieren:
    "Ich würde sagen, die Religion kann in einem Staat einen normativen Gehalt liefern und das Handwerkszeug liefern, um Werte wie Menschlichkeit, Freiheit und Menschenrechte zu garantieren. Das sind zwar moderne Ideen, die in der jüngeren Geschichte aufgekommen sind, doch diese Werte sind ebenso Bestandteil der Religion. Ich glaube an eine wechselseitige Abhängigkeit von Religion und Menschenrechten, Religion und Säkularismus, Religion und säkularem Staat."
    Säkularismus und Religion seien keine Gegensätze: So wie der säkulare Staat durch religiöse Werte bereichert werde, so könne die Religion, und eben auch der Islam überhaupt, nur in einem säkularen Staat gedeihen. Einem Staat, in dem Bürger weder zur Religionsausübung gezwungen, noch daran gehindert werden. Der Staat müsse der Religion gegenüber neutral sein, solle aber ihre positive Rolle würdigen. Als positives Beispiel sieht An Na'im die USA. Der deutsche Staat hingegen sei nicht neutral, da einzelne Religionen wie das Christentum gegenüber anderen begünstigt würden.