Donnerstag, 25. April 2024

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Ablehnung der Beitragserhöhung
„Das Land Sachsen-Anhalt verletzt die Verfassung“

Der Leipziger Staats- und Verfassungsrechtler Hubertus Gersdorf kritisiert das Nein zum Rundfunkbeitrag aus Sachsen-Anhalt. Sowohl die öffentlichen-rechtlichen Sender als auch die anderen Bundesländer könnten nun mit Aussicht auf Erfolg vor das Bundesverfassungsgericht ziehen, sagte Gersdorf im Dlf.

Hubertus Gersdorf im Gespräch mit Antje Allroggen | 08.12.2020
Reiner Haseloff (CDU), Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt, an einem Tisch bei einer Pressekonferenz
Mit der Entscheidung Haseloffs, den Gesetzentwurf über den Staatsvertrag vor der Abstimmung im Landtag zurückzuziehen, blockiert Sachsen-Anhalt faktisch die Erhöhung des Rundfunkbeitrags (dpa-Zentralbild)
In Sachsen-Anhalt hat Ministerpräsident Reiner Haseloff angekündigt, seine Zustimmung zum Staatsvertrag für einen höheren Rundfunkbeitrag zurückzuziehen. Damit rettet er seine Regierungskoalition – und die öffentlich-rechtlichen Sender können eine Beitragserhöhung wohl nur noch vor Gericht einklagen.
Hubertus Gersdorf, Staats- und Verwaltungsrechtler an der Universität Leipzig, hält die Entscheidung aus Sachsen-Anhalt für "in hohem Maße problematisch". Es dürfe über den Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks diskutiert werden, doch dürfe diese Debatte nicht mit der Frage des Rundfunkbeitrags verbunden werden, sagte Gersdorf im Deutschlandfunk. Das habe das Bundesverfassungsgericht in der Vergangenheit so entschieden.
Nicht nur ARD, ZDF und Deutschlandradio, sondern auch andere Bundesländer könnten nun rechtlich gegen Sachsen-Anhalt vorgehen. Denn das Recht sehe eine Finanzierungsgarantie der Länder gegenüber dem Rundfunk vor, unterstreicht der Jurist: "Wenn ein Bundesland ausschert aus dieser Solidarität, kommen die anderen Bundesländer in die Bredouille." Sachsen-Anhalt verletze mit seiner Entscheidung das föderale Prinzip gegenüber den anderen Bundesländern. Die Erfolgsaussichten möglicher Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht schätzt Gersdorf sowohl für die Sender als auch die Länder als groß ein.
Deutschlandradio, ARD und ZDF haben nach dem Interview angekündigt, Verfassungsbeschwerde einzulegen.
Vorläufiges Aus für höheren Rundfunkbeitrag
Ministerpräsident Haseloff hat angekündigt, seine Zustimmung zum Staatsvertrag für einen höheren Rundfunkbeitrag zurückzuziehen. Damit rettet er seine Regierungskoalition – und die öffentlich-rechtlichen Sender können eine Beitragserhöhung wohl nur noch vor Gericht einklagen.
Antje Allroggen: Man vernahm ja nicht nur, aber auch aus Sachsen-Anhalt in den vergangenen Tagen und Wochen immer wieder Kritik an der Struktur des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, also: Pensionen zu hoch, Intendantengehälter auch. Dabei geht es doch gerade weniger um strukturelle Fragen als um die konkrete Frage nach dem Rundfunkbeitrag. Es geht also um die Frage, ob man der Entscheidung der KEF folgt, die ja eine Erhöhung des Beitrags empfiehlt, von 17,50 Euro auf 18,36 Euro. Ist das Verhalten von Sachsen-Anhalt unter diesem Gesichtspunkt, sagen wir mal, ein bisschen problematisch?
Hubertus Gersdorf: Ja, im hohen Maße problematisch. Sie haben die entscheidenden Punkte ja schon genannt. Es kann selbstverständlich eine Debatte geführt werden über die Struktur des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Dieser Diskussion muss sich auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk stellen. Nur darf diese Debatte nicht verbunden werden mit der Festsetzung des Rundfunkbeitrags. Warum nicht? Weil das Bundesverfassungsgericht dies in zwei grundlegenden Entscheidungen ausdrücklich verboten hat. Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich festgelegt, dass getrennt werden muss zwischen der Strukturdebatte und der Festsetzung des Rundfunkbeitrags. Der Rundfunkbeitrag, da hat sich die Politik in allererster Linie an der Empfehlung der KEF zu orientieren. Und wenn die hiervon abweicht, muss sie dies sehr gut begründen. Und medienpolitische Begründungen, Strukturdebatten dürfen eine solche Ablehnung nicht tragen, sonst verhalten sich die Bundesländer verfassungswidrig.
"Nichtssagen entspricht Neinsagen"
Allroggen: Und was bedeutet es aus medienrechtlicher Perspektive, wenn Sachsen-Anhalt jetzt eine Beitragsänderung nicht dezidiert ablehnt, sondern einfach nicht abstimmt. Ist eine Nicht-Abstimmung ebenso rechtsgültig wie eine Abstimmung und damit eine Ablehnung?
Gersdorf: Ja, also das ist juristisch genau das Gleiche. Der Rundfunkbeitrag ist im Rundfunkfinanzierungsstaatsvertrag festgelegt. Und solange dieser Staatsvertrag nicht geändert ist, gilt der alte Beitrag. Und dieser Rundfunkfinanzierungsstaatsvertrag bedürfte eben der Änderung – und damit auch der Zustimmung durch das Land Sachsen-Anhalt. Ob das Land Sachsen-Anhalt den Gesetzentwurf jetzt gar nicht einbringt, hierüber gar nicht abstimmt, wie der heutige Tag ergeben hat, oder Nein sagt, ist juristisch das Gleiche. Nichtssagen entspricht dem Neinsagen.
"Sachsen-Anhalt verletzt das föderale Prinzip"
Allroggen: Hat Sachsen-Anhalt durch seine Nichtzustimmung, von der man also heute sprechen kann, gegen das geltende Rundfunkrecht verstoßen? Denn das Verständnis eines öffentlich-rechtlichen Rundfunks geht doch von einem Zusammenschluss aller Bundesländer aus. Und das ist ja so etwas wie ein solidarisches Bekenntnis. Eine Rundfunkanstalt kann nicht nur für sich bestehen, sondern besteht auch mit und durch die anderen. Ein Alleingang ist dadurch eigentlich nicht möglich, oder?
Gersdorf: In der Tat. Das betrifft jetzt das Verhältnis zu den anderen Bundesländern. Ein Alleingang ist in der Tat nicht möglich, weil nicht nur einzelne Bundesländer, sondern alle Bundesländer insgesamt als Gesamtheit eine Finanzierungsgarantie gegenüber dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk haben. Und das einzelne Bundesland kann die Verfassung nicht verwirklichen, sondern es bedarf eines Zusammengehens aller Bundesländer. Und wenn jetzt ein Bundesland ausschert aus dieser Solidarität, dann kommen die anderen Bundesländer in die Bredouille, weil sie alleine ihrer Verantwortung gegenüber dem öffentlich-rechtlichen Rundfunksystem nicht nachkommen können. Das bedeutet: Das Land Sachsen-Anhalt verletzt die Verfassung nicht nur im Verhältnis zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Das Land Sachsen-Anhalt verletzt die Verfassung, verletzt also nicht nur den Artikel 5 unseres Grundgesetzes, sondern verletzt auch das föderale Prinzip, also die Verpflichtung gegenüber den anderen Bundesländern, sich solidarisch zu verhalten.
Allroggen: Das geht weit über die Frage hinaus, die ich gerade noch stellen wollte: Also Sachsen-Anhalt entzieht sich nicht nur seiner Pflicht zur Mitwirkung an dem Verfahren?
Gersdorf: So ist es. Das Land ist nicht gegenüber dem Mitteldeutschen Rundfunk, gegenüber dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk insgesamt in der Pflicht, sondern ist auch gegenüber den anderen Bundesländern in der Pflicht. Und es gibt gute Gründe dafür, dass andere Bundesländer gegen die Nicht-Zustimmung des Landes Sachsen-Anhalt vor dem Bundesverfassungsgericht mit Erfolg klagen könnten. Ebenso wie der öffentlich-rechtliche Rundfunk gegen das Land Sachsen-Anhalt wohl mit großen Erfolgsaussichten vor dem Bundesverfassungsgericht klagen kann.
Großer Streit um 86 Cent
Der Rundfunkbeitrag soll zum 1. Januar 2021 bundesweit von monatlich 17,50 Euro auf 18,36 Euro steigen. Doch die Ablehnung von CDU und AfD in Sachsen-Anhalt könnte das verhindern. Warum ist das möglich? Und wie sieht die rechtliche Lage aus? Fragen und Antworten.
"Große Chancen vor dem Bundesverfassungsgericht"
Allroggen: Ja, lassen Sie uns vielleicht diesen Schritt noch einmal kurz erklären. Das wäre dann per Eilantrag möglich. Dann könnten die Bundesverfassungsrichter in einer einstweiligen Verfügung eine Erhöhung des Beitrags zum 1. Januar noch anordnen, richtig?
Gersdorf: Diese Möglichkeit besteht. Wir sind aber immer sehr zurückhaltend in diesem einstweiligen Rechtsschutz vor dem Bundesverfassungsgericht, weil keine vollendeten Tatsachen geschaffen werden dürfen. Es gibt auch Gründe, dass dieser einstweilige Rechtsschutzantrag abgelehnt wird, aber dann in der Hauptsache der öffentlich-rechtliche Rundfunk Recht bekommt. Das ist immer eine Folgenabwägung, die im einstweiligen Rechtsschutz vor dem Bundesverfassungsgericht vorgenommen wird. Aber wenn jetzt eine signifikante Finanzierungslücke zum 1.1. entstünde und die auch unter keinem Gesichtspunkt irgendwie kompensiert werden könnte, wenn so der öffentlich-rechtliche Rundfunk vortrüge vor dem Bundesverfassungsgericht, sähe ich die Chancen des öffentlich-rechtlichen Rundfunk als sehr groß an, auch im einstweiligen Rechtsschutzverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht Recht zu bekommen.
Allroggen: Sie haben es schon angedeutet: Der Intendant des Saarländischen Rundfunks, Thomas Kleist, hat ja gestern schon angekündigt, dass sein Sender in Karlsruhe Rechtsschutz suchen will, wenn die Beitragserhöhung ausbleibt, weil gerade kleine Sender wie der SR oder Radio Bremen in Not kommen, könnten sie ja Schützenhilfe von ihren Ländern bekommen. Wie sieht das aus?
Gersdorf: Ja, darüber muss die politische Seite befinden. Meines Erachtens können die Bundesländer gegen das Land Sachsen-Anhalt vor Gericht gehen, also vor das Bundesverfassungsgericht gehen. Und das betrifft meines Erachtens nicht nur die Bundesländer mit den kleinen Ländern, sondern der Ministerpräsident des Freistaates Sachsen hat sich so gestern auch geäußert und in den letzten Wochen, dass er für das Verhalten des Landes Sachsen-Anhalt nur sehr wenig Verständnis hat, um es mal sehr zurückhaltend auszudrücken. Ich kann mir also auch vorstellen, dass vom Freistaat Sachsen eine entsprechende Klage beim Bundesverfassungsgericht gegen Sachsen-Anhalt erhoben wird.
"Einstimmigkeit ersetzen durch Mehrheitsentscheidung"
Allroggen: Noch eine Frage zum Schluss: Dem Ringen um einen Rundfunkfinanzierungsstaatsvertrag liegt ja ein Einstimmigkeitsprinzip zugrunde. Wenn auch nur ein Bundesland ausschert, heißt das, wie in diesem Fall, wird eine Änderung der Beitragshöhe gekippt. Was halten Sie eigentlich von diesem Prinzip? Könnte man da nicht auch anders verhandeln miteinander?
Gersdorf: Ja, genau das ist ein wichtiger Punkt. Genauso ist es in den letzten Jahrzehnten gemacht worden: Jede Veränderung eines Staatsvertrages bedurfte des einstimmigen Votums aller Bundesländer. Und das Bundesverfassungsgericht hat in den besagten zwei Rundfunkentscheidungen im Jahre 1994, dann aber vor allem im Jahr 2007, auch auf die Möglichkeit hingewiesen, von diesem Einstimmigkeitshindernis abzusehen – und die Einstimmigkeit zu ersetzen durch eine Mehrheitsentscheidung. Das kann man wiederum knüpfen an ein Quorum, sei es Zwei-Drittel- oder Drei-Viertel-Mehrheit oder vielleicht sogar Vier-Fünftel-Mehrheit. Da ist die Politik frei. In jedem Fall stünde Verfassungsrecht nicht entgegen, wenn die Länder in Zukunft an die Stelle des Einstimmigkeitsprinzips ein Mehrheitsprinzip setzen würden.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.