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Ablehnung der EU-Verfassung in den Niederlanden wahrscheinlich

Hans-Joachim Wiese: Am Telefon begrüße ich Sibo Janssen, er ist Experte für die Beneluxländer am Zentrum für europäische Integrationsforschung in Bonn. Guten Tag.

Moderation: Hans-Joachim Wiese |
    Sibo Janssen: Schönen guten Tag.

    Wiese: Rechnen auch Sie mit einem deutlichen Nein der Niederländer zur EU-Verfassung?

    Janssen: Ja, ich muss fast sagen, ich befürchte, dass es sogar noch höher ausfallen wird als in Frankreich, um die 60 Prozent.

    Wiese: Die Franzosen wollten mit ihrem Nein zur Verfassung vor allem auch Staatspräsident Chirac einen Denkzettel verpassen, weil sie mit seiner Politik nicht einverstanden sind. Wie sieht das in den Niederlanden aus?

    Janssen: Ich denke, das ist ein ganz ähnliches Problem. Die jetzige Regierung aus Linksliberalen, Rechtsliberalen und Christdemokraten hat im Moment nur eine Zustimmungsrate von ungefähr 16 Prozent in der Bevölkerung, das heißt 84 Prozent lehnen diese Regierung zur Zeit ab mit ihrer Politik, die sehr harte Einschnitte im Sozialbereich vorgenommen hat und vornehmen wird, die auch eine sehr harte Migrationspolitik mittlerweile fährt und die viele ihrer Versprechungen, zum Beispiel in die Bildung zu investieren, bis heute nicht wahrgemacht hat.

    Wiese: Wird sich denn Ihrer Meinung nach das Nein der Franzosen auf die Stimmung in den Niederlanden auswirken?

    Janssen: Wenn man die letzten Umfragen betrachtet ist es ja so, dass die Niederländer nach dem französischen Nein sehr deutlich noch einmal einen Anstieg ihres Neins zu verzeichnen haben, also von 54 auf 59 Prozent. Jetzt ist allerdings die Frage, ob es nicht eine Art Gegenreaktion - und das ist auch meine Hoffnung - noch in letzter Minute gibt, weil die Niederländer natürlich auch immer Wert gelegt haben auf ihre eigene Identität, ihren eigenen Stolz und gerade gegenüber Deutschland und Frankreich natürlich auch immer skeptisch waren. Und es könnte sein, dass es noch in letzter Sekunde einen Umschlag gibt in der Form, dass sie sagen, wir stimmen jetzt doch nicht wie die Franzosen, weil wir zeigen wollen, dass wir eigenständig sind. Das ist eine ganz vage Hoffnung, aber mehr nicht.

    Wiese: Stichwort Eigenständigkeit: die Ratifizierung der Verfassung in Deutschland wurde ja als Signal für die Franzosen gewertet, offenbar haben die das aber falsch verstanden. Wie haben denn die Niederländer auf das deutsche Votum reagiert? Eben mit dieser Gegenreaktion oder ist das nur Ihre Hoffnung?

    Janssen: Es ist meine Hoffnung. Es hat in den Niederlanden nur wenige Debatten über dieses deutsche Ja gegeben, das hat also weder einen positiven noch negativen Effekt gehabt, weil es eben auch nicht im Vordergrund stand, da stand in den letzten Wochen in erster Linie die Auseinandersetzung um diese niederländische Frage und dann auch der Blick auf Frankreich. Deutschland ist da nur nebenher gelaufen.

    Wiese: Aus welchen politischen Lagern rekrutieren sich denn die Neinsager und welche Motive treiben sie überhaupt um?

    Janssen: Es ist ähnlich wie in Frankreich eine geradezu absurde Koalition, die sich da zusammengefunden hat. Das sind einerseits die so genannten kleinen christlichen Parteien, das ist eine Besonderheit der niederländischen Politik, die auch im Parlament vertreten sind. Das sind streng christlich fundamentalistische Parteien, zum Beispiel die SGP, die offen für einen Austritt aus der EU eintritt, dann ist das die sozialistische Partei, das sind ehemalige Maoisten und dann die Überbleibsel der ehemaligen LPF, also der Lijst Pim Fortuyn und darüber hinaus jetzt die Einzelkandidatur von Geert Wilders, ehemaliger Abgeordneter des rechtsliberalen VVD, also eine ansonsten wirklich völlig unzusammenhängende Zweckkoalition, die sich da gebildet hat.

    Wiese: Auf welche Punkte haben die sich denn geeinigt? Ist das so etwas Diffuses wie auch in Frankreich gegen den Beitritt der Türkei zum Beispiel, gegen zu viele Ausländer und die Globalisierung?

    Janssen: Auf jeden Fall. Das ist eine Mischung aus Angst, gerade von der sozialistischen Partei, vor Abbau des niederländischen Sozialstaats, bei Geert Wilders ist sehr deutlich die Ablehnung des Beitritts der Türkei zur EU und das Schüren der Angst vor neuen Migrationswellen und darüber hinaus bei den christlichen Parteien sehr stark die Angst um die niederländische und auch gerade protestantische Identität der Niederlande.

    Wiese: Das widerspricht ja eigentlich dieser traditionell doch sehr hoch gehaltenen Toleranz in den Niederlanden.

    Janssen: Auf jeden Fall, aber das ist etwas, was man eigentlich seit dem Aufstieg Pim Fortuyns im März 2002 mit den Gemeinderatswahlen in Rotterdam beobachten kann. Da hat sich etwas bahngebrochen, was jahrelang unter der Oberfläche wohl geschlummert hat und das sich jetzt immer in Wellen wieder als Wut artikuliert. Das hatte man nach dem Mord an Theo Van Gogh, nach dem Auseinanderfallen der LPF und jetzt wieder in diesem EU-Referendum.

    Wiese: Also die Insel der Seligen sind die Niederlande nicht mehr.

    Janssen: Nein. Ich habe in den letzten vier Jahren in den Niederlanden gelebt und habe dort promoviert und durchaus festgestellt, dass es eine massive Klimaveränderung gegeben hat und dass dieses Bild von der Toleranz doch mehr ein Bild von außen war, was die Niederländer in vielen Fragen auch selber gar nicht so empfunden haben.

    Wiese: Nun ist das Referendum in den Niederlanden ja nicht bindend für das Parlament. Halten Sie es für denkbar, dass das Parlament sich nicht nach dem Wählervotum richtet?

    Janssen: Ich denke, es wird sehr davon abhängig sein, wie hoch die Beteiligung ist. Man hat von allen Parteien aus gesagt, dass wenn die Beteiligung unter 30 Prozent liegt, man dieses Votum möglicherweise als nicht bindend ansieht, es aber noch diskutiert werden müsste. Wenn es über 30 Prozent Beteiligung liegt - und davon kann man ausgehen, die Umfragen sehen 50 Prozent voraus - dann wird es als bindend angesehen.

    Wiese: Aus Ihren Worten spricht eine tiefe Enttäuschung darüber, wenn dieses Votum auch in den Niederlanden scheitern sollte. Was verbinden Sie so Positives mit dieser EU-Verfassung, dass Sie so sehr dafür sind, dass sie angenommen wird?

    Janssen: Ich verbinde mit dieser EU-Verfassung positiv: das erste Mal, dass sich die Europäische Union als Ganzes einen Vertrag gibt, der Grundrechte beinhaltet, der ganz klar regelt, welche Befugnisse, Kompetenzen Institutionen haben und der als einziger Vertrag letztendlich die EU für die schon stattgefundene und die noch stattzufindende Erweiterung fit macht. Nizza wird das nicht leisten und ich fürchte tatsächlich, dass wenn wir auf der Grundlage von Nizza weiterverhandeln werden, was es dann ja wäre, dass es dann zu einem politischen Erosionsprozess kommt.

    Wiese: Dann wäre doch die Rückfallposition das Kerneuropa.

    Janssen: Das Kerneuropa ist natürlich immer als Rückfallposition genannt worden, aber es ist schwierig, ein Kerneuropa ohne Frankreich und die Niederlande, die ja immerhin Gründungsmitglieder der EWG waren, zu bilden.

    Wiese: Und das wäre ohne die Verfassung der Fall?

    Janssen: Natürlich. Ich denke tatsächlich, dass es nicht möglich ist, ein Kerneuropa zu bilden, wenn Frankreich und die Niederlande gegen diese Verfassung gestimmt haben. Wie sollen sie dann Teil eines Kerneuropas sein?