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Abschiebungen
Nicht jeder Ausreisepflichtige ist abschiebefähig

Berlin wird eine inkonsequente Praxis bei Abschiebungen vorgeworfen. Innensenator Frank Henkel verweist auf verschiedene Gründe, die Abschiebungen verhindern könnten - wie Reiseunfähigkeit oder Passlosigkeit. Die Zahlen hätten sich jedoch im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt. "Berlin arbeitet sehr konsequent daran, die Abschiebezahlen zu erhöhen", sagte der CDU-Politiker im Deutschlandfunk.

Frank Henkel im Gespräch mit Christoph Heinemann | 03.06.2016
    Der Berliner Innensenator Frank Henkel
    Der Berliner Innensenator Frank Henkel (dpa/ picture alliance/ Sophia Kembowski)
    Die Boulevardzeitung "Bild" hatte vorgerechnet, dass in Deutschland 200.000 ausreisepflichtige Menschen leben würden. Das Blatt gab an, dass in Bremen nur fünf und in Berlin nur 16 Prozent der Ausreisepflichtigen abgeschoben worden seien, in Mecklenburg-Vorpommern aber 63 Prozent.
    Henkel sagte, er könne die Zahlen nicht nachvollziehen, sie würden sich nicht mit den aktuellen Zahlen decken. Die Zahlen hätten sich im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt. "Berlin arbeitet sehr konsequent daran, die Abschiebezahlen zu erhöhen."
    Nicht jeder Ausreisepflichtige sei abschiebefähig, was die Zahlen auch erkläre. Hindernisse könnten Reiseunfähigkeit oder Passlosigkeit sein. Außerdem müsse die Person auch an der bekannten Anschrift anzutreffen sein. In Berlin gebe es eine über viele Jahre gewachsene Unterstützerszene, die ein Untertauchen erleichtere. Dass Straftaten eine Abschiebung verhindern können, sei schwer zu erklären, sagte Henkel. Doch der Rechtstaat gelte für jeden Menschen.

    Das Interview in voller Länge:
    Christoph Heinemann: Den Bundesländern fehle oft der Wille und das Personal, viele Asylbewerber tauchen unter, so die Unterzeile. Unter der Überschrift "Der Abschiebeskandal" berichtete die "Bild"-Zeitung und belegte mit Zahlen: In Bremen haben nur fünf Prozent der Ausreisepflichtigen den Stadtstaat verlassen, Berlin 16 Prozent. Dass es auch anders geht, zeigt Mecklenburg-Vorpommern mit 63 Prozent. Rund 200.000 Ausreisepflichtige leben in Deutschland, davon etwa 50.000 Personen ohne Duldung.
    Fazit der Zeitung: "Auch ein Jahr nach Beginn der Ankunft vieler Menschen werden die meisten Ausreisepflichtigen nicht in ihre Heimat zurückgeschickt." Bundesinnenminister Thomas de Maizière vermisst den politischen Willen in den Bundesländern.
    Am Telefon ist jetzt Frank Henkel (CDU), der Innensenator von Berlin. Guten Morgen.
    Frank Henkel: Guten Morgen, Herr Heinemann.
    Heinemann: Herr Henkel, wollen Sie nicht oder können Sie nicht?
    Henkel: Berlin arbeitet sehr konsequent daran.
    Heinemann: Wie bitte?
    Henkel: Berlin arbeitet sehr konsequent daran, die Abschiebezahlen weiter zu erhöhen. Das ist unser Anspruch und das ist angesichts der Lage auch geboten.
    Heinemann: 16 Prozent, wo ist da die Anstrengung?
    Henkel: Nun, wir haben nach nur vier Monaten bereits über 75 Prozent des Gesamtjahreswertes von 2015, also vom letzten Jahr erreicht. Das heißt: Eine Verdoppelung, wie sie der Bund ja als Erwartung formuliert hat, auch der Bundesinnenminister, ist damit aus Berliner Sicht sehr realistisch. Und wenn ich mir die Gesamtzahlen anschaue etwa der Jahre 2012, 2013, _14 und _15, dann ist diese Zahl kontinuierlich gestiegen. Und wie gesagt: Schon jetzt, also nach fünf Monaten in diesem Jahr, haben wir mehr Personen abgeschoben als im gesamten letzten Jahr.
    Heinemann: Sie klingen so zufrieden.
    Henkel: Das ist ja eine gute Entwicklung. Das zeigen die Zahlen ja auch. Und ich finde, die lässt sich im Vergleich mit anderen Ländern durchaus sehen. Die Zahlen, die gestern in einer Boulevard-Zeitung abgebildet wurden, die kann ich zum Teil gar nicht nachvollziehen. Es sind jedenfalls keine Zahlen, die sich mit den Berliner Zahlen unmittelbar decken.
    Heinemann: Die Boulevard-Zeitung setzt Berlin auf den drittletzten Platz. Noch mal: Muss da nicht nachgerüstet werden?
    Henkel: Da kann ich nur noch mal wiederholen, was ich gesagt habe, dass wir sehr konsequent daran arbeiten und dass die Zahlen, die jetzt im Raum stehen hier für Berlin, sich absolut positiv entwickelt haben.
    Das ist auch mein Anspruch. Ich habe im Rahmen der Senatsklausur Mitte Januar eine Zielmarke von 1.200 Abschiebungen für 2016 genannt. Es handelt sich hier um eine grobe Orientierung, nicht um eine feste Prognose. Aber diese grobe Orientierung ist ja nach derzeitigem Stand absolut realistisch und wenn wir das schaffen, dann liegen wir sehr gut im Länderranking.
    "Es gibt vielfältige Schwierigkeiten"
    Heinemann: Herr Henkel, wieso können Ausreisepflichtige untertauchen?
    Henkel: Nun, es gibt vielfältige Schwierigkeiten und auch Gründe, weshalb es eine Differenz gibt zwischen der Zahl derjenigen, die ausreisepflichtig sind, und denen, die abschiebefähig sind, und dann noch Schwierigkeiten, die daneben bewältigt werden müssen. Die Gründe sind sehr vielfältig. Nicht abgeschoben wird, wenn ein Ausreisehindernis etwa vorliegt, zum Beispiel eine ärztlich bescheinigte Reiseunfähigkeit oder eine Passlosigkeit.
    Dann kommt hinzu, dass Personen am Tag der Abschiebung an ihrer Anschrift auch angetroffen werden müssen, und dann gibt es noch andere Situationen, die sich in einem Stadtstaat mit einer entsprechenden Community vielleicht anders darstellen als in Flächenländern. Das gehört alles ein Stück weit hinzu.
    Ich will auch noch mal der Vollständigkeit halber sagen, dass abgeschoben ja nur derjenige wird, der einer freiwilligen Ausreise nicht nachkommt. Die freiwillige Ausreise hat immer Vorrang vor der Abschiebung.
    "Es gibt eine entsprechende Unterstützerszene"
    Heinemann: Herr Henkel, Entschuldigung! Ich habe immer noch nicht verstanden, wieso Ausreisepflichtige untertauchen können.
    Henkel: Nun, weil es auch eine entsprechende Unterstützerszene gibt. Da muss man nicht drum herumreden. Das ist in Berlin etwas, was hier über viele, viele Jahre gewachsen ist, und das erleichtert Betroffenen, auch die Durchsetzung ihrer Ausreisepflicht zu verzögern. Das passiert.
    "Die Sicherheitsarchitektur in Deutschland funktioniert"
    Heinemann: Der Albtraum der Sicherheitsbehörden, Herr Henkel, ist jetzt wahr geworden. Offenbar sind IS-Kämpfer über die Balkan-Route nach Deutschland gelangt und wollten in Düsseldorf Anschläge verüben. Gestern sind drei Personen festgenommen worden. Muss die Politik, müssen Sie jetzt nicht auch vor diesem Hintergrund ganz schnell für klare Verhältnisse sorgen?
    Henkel: Es gibt klare Verhältnisse.
    Heinemann: Nicht in Berlin.
    Henkel: Das sehe ich ganz anders. Ich muss mich sehr wundern, wenn ich heute lese, dass sehr viele verwundert darüber sind, dass es jetzt über bestimmte Routen durchaus möglich gewesen ist, dass hier mögliche Terroristen ins Land kommen oder in andere Länder. Das haben die Innenminister, haben meine Kollegen, hat der Bundesinnenminister stets betont. Wir haben immer gesagt, wir müssen davon ausgehen, dass unter den Flüchtlingen auch Menschen sind, die zu uns kommen, die es nicht gut mit uns meinen. Und die Tatsache, dass es zu diesem Zugriff gekommen ist, zeigt ja, dass die Sicherheitsarchitektur in Deutschland funktioniert.
    Heinemann: Wie kann man Bürgern erklären, dass Straftaten eine Abschiebung verhindern?
    Henkel: Das ist schwer zu erklären. Das gestehe ich gerne ein. Aber wir leben in einem Rechtsstaat und wir sollten jetzt nicht so tun, dass wir unsere Regeln, die, für die wir lange gekämpft haben, für die wir uns eingesetzt haben, jetzt aufgrund einer besonderen Situation aufs Spiel setzen. Ich bin der Auffassung, die Sicherheitsarchitektur in Deutschland funktioniert, und ich kann jedenfalls aus Berliner Sicht nicht sagen, dass es am politischen Willen mangelt, hier Abschiebungen zu vollziehen. Noch einmal: Wir arbeiten sehr konsequent daran, diese Zahlen weiter zu erhöhen. Das ist mein Anspruch, das ist unser Anspruch und das ist angesichts der Lage auch geboten.
    "In einem Rechtsstaat gibt es Regeln"
    Heinemann: Aber wer vor einer Abschiebung steht, der sollte ganz schnell eine Straftat begehen, dann kann er hier bleiben?
    Henkel: Na ja, ich würde das nicht so pauschalisieren. Das sind genau die Meldungen, die falsche Anreize bieten. Ganz so ist es natürlich nicht. Aber noch einmal: In einem Rechtsstaat gibt es Regeln, die gelten für Jedermann und die werden eingehalten. Punktum!
    Heinemann: Sie haben gerade gesagt, dass es genau so ist, wie ich es gerade beschrieben habe. Wer vor einer Abschiebung steht, der kann eine Straftat begehen, dann bleibt er hier.
    Henkel: Ich habe nicht gesagt, dass derjenige, der vor einer Abschiebung steht, eine Straftat begehen kann und hier bleibt. Ich habe gesagt, wir leben in einem Rechtsstaat, wo es Regeln gibt, und die gelten für Jedermann.
    Abschiebung erst nach Beseitigung aller Ausreisehindernisse möglich
    Heinemann: Jetzt fragen sich vielleicht Bürgerinnen und Bürger: Wenn der Staat die Ausreisepflicht nicht durchsetzen kann, wieso muss ich dann zum Beispiel meiner Steuerpflicht nachkommen?
    Henkel: Ich weiß gar nicht. Ich kann die Tonation der Frage so schwer nachvollziehen.
    Heinemann: Was ist daran so schwer nachzuvollziehen?
    Henkel: Na ja. Wenn Sie sagen, der Staat ist nicht in der Lage, die Ausreisepflicht durchzusetzen, dann habe ich Ihnen gesagt, ...
    Heinemann: Haben Sie ja gerade selber beschrieben!
    Henkel: Ich habe Ihnen doch gerade Zahlen genannt. Das macht doch ganz deutlich, dass der Staat hier Ausreisepflichten durchsetzt. Und natürlich gibt es auch Schwierigkeiten und ich habe beschrieben, dass diese Gründe sehr vielfältig sind, und das ist nun mal so.
    Wenn eine ärztlich bescheinigte Reiseunfähigkeit vorliegt, dann wird im Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland nicht abgeschoben. Das ist aus meiner Sicht ein Ausreisehindernis. Und wenn es eine Passlosigkeit gibt, wo soll ich denjenigen hinschieben? Das ist einfach so. Dann muss ich mich zunächst einmal darum kümmern, dass es entsprechende Papiere gibt. Das verzögert hier und da die Ausreise. Es ist und bleibt so, dass erst nach Beseitigung aller Ausreisehindernisse die Abschiebung überhaupt in Betracht kommt.
    "Wir müssen wissen, wer zu uns kommt"
    Heinemann: Wenn man nun bestimmte Menschen nicht mehr los wird, wenn sie sich im Land aufhalten, muss man dann dafür sorgen, dass sie an der Grenze abgewiesen werden, bevor sie das Land betreten?
    Henkel: Wir müssen in erster Linie dafür sorgen, dass wir wissen, genau wissen, wer zu uns kommt, und deshalb ist es wichtig und richtig, dass wir ein ganz großes Augenmerk auf die europäische Zusammenarbeit legen und dass wir das, was früher im Schengen-Raum sozusagen Rechtsgrundlage war, dass wir das durchsetzen.
    Heinemann: Heißt mehr Grenzkontrollen?
    Henkel: Heißt, dass wir das, was in Schengen vereinbart wurde, im Rahmen des Schengen-Abkommens vereinbart wurde, dass das durchgesetzt werden muss.
    Heinemann: Heißt das auch mehr CSU?
    Henkel: Das heißt, dass wir das, was es an Abkommen in Europa gibt, einhalten müssen und durchsetzen müssen.
    Heinemann: Herr Henkel, kann sich die AfD einen besseren Wahlkampfhelfer als Sie wünschen?
    Henkel: Ich kann auch die Frage schwer nachvollziehen. Die Union ist ja kein Wahlkampfhelfer für die AfD. Das muss man doch mal sagen. Die Tatsache, dass die Flüchtlingszahlen jetzt sinken, ist ja nicht der AfD zu verdanken, sondern Bundeskanzlerin Merkel, und insofern würde ich diesen Vergleich, ob wir Wahlkampfhelfer sind, überhaupt nicht ziehen.
    "Es war oberstes Ziel deutscher Politik, die Flüchtlingszahlen zu reduzieren"
    Heinemann: Wohl weniger Bundeskanzlerin Merkel als Bundeskanzler Faymann, dem ehemaligen.
    Henkel: Das ist Ihre Interpretation. Meine bleibt dabei: Das ist eine großartige Leistung der Bundeskanzlerin, dass sie es geschafft hat, über europäische Verabredungen und Vereinbarungen, auch über Europa hinaus, wenn ich etwa an die Türkei denke, die Flüchtlingszahlen nach Deutschland zu reduzieren. Das war immer Ziel der Union.
    Wir haben immer gesagt, wir können vielen Menschen helfen, aber wir können nicht allen Menschen auf der Welt eine neue Heimat geben. Deshalb war es oberstes Ziel deutscher Politik, die Flüchtlingszahlen zu reduzieren.
    Heinemann: Herr Henkel, wie hoch schätzen Sie die Gefährdungslage nach den gestrigen Meldungen aus Düsseldorf jetzt durch Terroranschläge ein?
    Henkel: Die Sicherheitsbehörden haben nicht zuletzt nach Brüssel und nach Paris immer davon gesprochen, das tun wir auch jetzt, dass wir es mit einer ernsthaften abstrakten Bedrohungslage zu tun haben. Das ist keine neue Erkenntnis. Das galt gestern und das gilt auch heute.
    Heinemann: Frank Henkel (CDU), der Innensenator von Berlin. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.
    Henkel: Sehr gerne! Auf Wiederhören.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.