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Abseits des etablierten Klangideals

Der flämische Dirigent Jos van Immerseel und sein Ensemble Anima Eterna Musik gelten als Experten der historisch-informierten Aufführung. Jetzt haben sie drei der bekanntesten Orchesterwerke von Claude Debussy interpretiert - mit nachgebauten Instrumente, wie sie um 1900 verfügbar waren.

Von Grit Lieder | 30.12.2012
    "Nur die allerbeste Musik", wollen wir Ihnen heute vorstellen. Denn, wenn Jos van Immerseel ein neues Projekt beginnt, ist das sein ausdrücklich erklärtes Ziel. Seit 25 Jahren interpretieren der flämische Dirigent und sein Ensemble Anima Eterna Musik auf besondere Weise. In dieser Zeit haben sie sich einen Ruf als Experten der historisch-informierten Aufführung erworben. Bisher wurden Werke von Ravel, Tschaikowsky und Poulenc vom modernen Konzertsockel gehoben, entstaubt und untersucht. Dieses Jahr stand ein französischer Jubilar im Mittelpunkt ihres Interesses: Claude Debussy. Drei seiner bekanntesten Orchesterwerke legt das Ensemble unter Jos van Immerseel als neue Platte vor, die wir Ihnen heute vorstellen wollen. Am Mikrofon begrüßt Sie Grit Lieder.

    "Prélude à l'Après-Midi d'un Faune" (Ausschnitt) "

    Im Alter von 25 Jahren fragte sich der junge Komponist Achille-Claude Debussy:

    "Wie kann ich es schaffen, mit meiner übertriebenen Zurückhaltung, meinen Weg zu finden und meine Dinge inmitten dieses Bazars der Eitelkeiten zu verkaufen?"
    Es war ein ständiges Auf und Ab, aber Debussy hat es geschafft. 2012, anlässlich seines 150. Geburtstags, wurde dem damals so zweifelnden Komponisten ein ganzes Jahr, zahlreiche Einspielungen und Aufführungen gewidmet. Dabei wurde neben geläufigen Interpretationen auch eine klangliche Annäherung an den Jubilar gesucht.

    Sir Simon Rattle präsentierte das "Prélude à l'Après-Midi d'un Faune" mit dem Orchestra of the Age of Enlightenment in London. Sir John Eliot Gardiner präsentierte mit dem Monteverdi Chor und dem Orchestre Révolutionnaire et Romantique Debussys einzige vollendete Oper "Pelléas et Mélisande". Und das an dem Ort ihrer Uraufführung, an der Pariser Opéra Comique.

    In Belgien, in der Werkstatt von Jos van Immerseel, wurde vor allem das Orchesterwerk Debussys bearbeitet. Mit dem "Prélude à l'Après-Midi d'un Faune", "La Mer" und den "Images pour orchestre" finden sich die drei bekanntesten Orchesterwerke auf der neuen Einspielung des Ensembles Anima Eterna Brugge. Und die klingen anders. Bereits das Prelude, das Vorspiel zum Nachmittag eines Fauns, lässt nach dem ersten Flötenmotiv, den anderswo weit in die Tiefe reichenden Debussy-Klang vermissen:

    ""Prélude à l'Après-Midi d'un Faune" (Ausschnitt)"

    "Prélude à l'Après-Midi d'un Faune" - Debussys erstes erfolgreiches Werk. Komponiert wurde es zwischen 1891 und 1894, als freie Illustration eines Gedichts von Stéphane Mallarmé. Ein Werk, das erst mit den Jahren Anerkennung erfuhr. Debussys Zeitgenosse Camille Saint-Saëns sprach dem Werk Stil und Logik ab. Pierre Boulez erklärte es später zum Ausgangspunkt der modernen Musik. Dichter Mallarmé war nach der Uraufführung 1894 begeistert:

    "Was für ein Wunder! Ihre Illustration des L'Après-Midi d'un Faune trifft meinen Text vollkommen. Und sie übertrifft ihn in Sehnsucht und Licht, durch Zärtlichkeit, Tiefe und Vielfalt. Ich gratuliere Ihnen, Debussy!

    Dass die Komposition des damals 32-jährigen Debussy jemanden derart entrücken kann, ist nachvollziehbar. Doch der Klang, der den Dichter Mallarmé zu solchen Jubelstürmen veranlasste, ist heute schwer vorstellbar.

    Jos van Immerseel hat eben diesen Klang gesucht. Für seine Einspielung wurden Instrumente nachgebaut, wie sie um 1900 verfügbar waren. Die Streicher spielen auf Darmsaiten, die Blasinstrumente entsprechen französischen Modellen der Zeit, die Harfen stammen aus der Werkstatt Èrard. Das Resultat: ein Orchesterklang, der trocken, scharf, mitunter auch grob und schwer erscheint. Eine Interpretation, die zunächst die durchgehend zarte Tongebung und das gewohnte Ineinanderfließen der Tonfarben ein wenig vermissen lässt. Doch abseits des etablierten Klangideals treten Passagen des Werks in den Vordergrund, die man bislang selten oder gar nicht wahrgenommen hat. Vor allem in den Holzbläser-Soli:

    ""Prélude à l'Après-Midi d'un Faune" (Ausschnitt)"

    Das Ensembles Anima Eterna Brugge macht neue Facetten von Debussys "Prélude à l'Après-Midi d'un Faune" hörbar. Weniger deutlich zu hören in einer Einspielung der Berliner Philharmoniker unter Simon Rattle 2005:

    ""Prélude àl'Après-Midi d'un Faune" (Ausschnitt Rattle)"

    Ein Ausschnitt aus Claude Debussys "Prélude à l'Après-Midi d'un Faune", hier modern interpretiert von den Berliner Philharmonikern, als Vergleich zum historischen Ansatz der Anima Eterna Brugge Einspielung.

    Weniger auf Details und mehr auf den symphonischen Charakter und wärmere Klangfarben zielt die Interpretation von "La Mer", die den modernen Hörer versöhnlich stimmt. Zu hören hier im "Dialogue du Vent et la Mer", im Dialog des Windes mit dem Meer:

    ""Dialogue du Vent et la Mer aus: La Mer"

    Das Ensemble Anima Eterna Brugge spielt Debussys "Dialogue du Vent et la Mer", den letzten Teil aus den drei sinfonischen Skizzen "La Mer". Inspiriert wurde Debussy bei diesem Werk nicht durch zeitgenössische Lyrik, sondern durch Hokusais Bild: "Die große Welle vor Kanagawa".
    Debussy liebte japanische Farbholzschnitte und soll diesen Kunstdruck auch besessen haben, der später dann auch den Einband der Originalpartitur von "La Mer" schmückte.

    Die Reaktionen des zeitgenössischen Publikums auf die Musik fielen verhalten aus. Zahlreiche rhythmische und dynamische Wechsel und eine ungewohnte Motiventwicklung sorgten für Verwirrung.

    Noch mehr verlangte Debussy 1913 von den ausführenden Musikern bei der Uraufführung der "Images pour Orchestre". In diesen Bildern verwendet Debussy Originale oder Nachempfindungen folkloristischen Materials aus England, Frankreich und Spanien. Im letzten Satz des dreiteiligen Zyklus, der "Iberia", sollten "Geiger und Bratscher ihre Instrumente wie Gitarren halten".

    "Le Matin d´un Jour de fete aus: Images pour orchestre"

    "Le Matin d'un Jour de fete", Der Morgen eines Festes, der letzte Teil der "Iberia" aus den "Images pour orchestre" von Claude Debussy. Zu hören auf der neuen CD des Ensembles Anima Eterna Brugge unter auf Jos van Immerseel. Darauf außerdem: "Prélude à l'Après-Midi d'un Faune" und "La Mer". Eine Einspielung, die unsere sonstigen Hörgewohnheiten des musikalischen Impressionismus in Frage stellt und ihnen als sehr empfehlenswerte Alternative entgegen gestellt werden kann. Erschienen ist sie im November bei Zig-Zag Territoires.