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Abubakar Adam Ibrahim: "Wo wir stolpern und wo wir fallen"
Liebe in Zeiten des Aufruhrs

Politische Journalisten schreiben eher selten erfolgreiche Liebesromane. Dem Nigerianer Abubakar Adam Ibrahim ist mit seinem literarischen Debüt eine Ausnahme gelungen, die – vermeintlich verbotene – Gefühle und gesellschaftliche Missstände zu einem Kunstwerk verwebt.

Von Katrin Hillgruber | 12.02.2020
Der nigerianische Schriftsteller und Journalist Abubakar Adam Ibrahim
Der Autor Abubakar Adam Ibrahim wurde für seinen Debütroman gleich mit dem Nigerianischen Literaturpreis ausgezeichnet (imago stock&people / Vishal Bhatnagar)
Mit dem Gruß "Subhannallahi – Ehre sei Gott!" betritt Hajiya Binta Zubairu, genannt Binta, wie jeden Morgen ihren schattigen Hof. Die strenggläubige Mittfünzigerin kommt gerade von einem religiösen Lesekreis zurück. Sie lebt am Rande von Nigerias 18-Millionen-Hauptstadt Abudja. Binta wundert sich, dass die Haustür angelehnt ist. Sie schreibt das ihrer nachlässigen, fernsehsüchtigen Nichte zu, die bei ihr wohnt. Einen Moment später packt ein kräftiger Mann Binta von hinten und hält ihr ein Messer an den Hals. Die Spitze ritzt ihr die Haut auf, ein Tropfen Blut fließt. Zu ihrer eigenen Überraschung fängt die Überfallene an, die unfreiwillige heftige Umarmung zu genießen. Denn so hat sie seit dem gewaltsamen Tod ihres Mannes keiner mehr angefasst.
Beginn einer unerhörten Liebe
Was als Einbruch beginnt, entwickelt sich zu einer unerhörten Liebe. Bintas Leben öffne sich wie eine Knospe, formuliert es Abubakar Adam Ibrahim. Damit stellt er in seinem Debütroman die klassische Novellensituation auf den Kopf, in der sich die aus der Not Gerettete in ihren Retter verliebt. Hier verhält es sich umgekehrt: Reza, der 26-jährige Schulabbrecher, Drogendealer und Gelegenheitsdieb, und die 55-jährige verwitwete Lehrerin Binta verlieben sich ineinander und genießen ihren heimlichen Sex. Was hat den Journalisten Abubakar Adam Ibrahim zu seinem Roman "Wo wir stolpern und wo wir fallen" inspiriert?
"Ich war schon immer neugierig, was verschiedene Arten von Beziehungen angeht. Mich hat interessiert, warum eine ideale Beziehung angeblich aus einem älteren Mann und einer jüngeren Frau besteht. Also habe ich mir überlegt, wie es andersherum wäre, wenn die Frau älter und der Mann jünger ist und das Ganze in einer konservativen Gesellschaft passiert. Denn selbst wenn es sich bei einer solchen Liebesbeziehung um eine Privatsache unter mündigen Erwachsenen handelt, beansprucht die Gemeinschaft ein Mitspracherecht. Darin bestand die Inspiration für die Geschichte."
Ungleiches Paar im muslimischen Norden Nigerias
"Season of Crimson Flowers", Saison der purpurroten Blumen, heißt der Roman im Original. "To blush crimson" bedeutet im Englischen "knallrot werden". Und so spielt der Aspekt der Scham eine wichtige Rolle. Denn das ungleiche Paar hat sich ausgerechnet im Norden Nigerias gefunden, wo der Islam vorherrscht. Als tiefgläubige Muslima hat Binta an der Hadj von Mekka teilgenommen.
"Im Norden Nigerias hören die Leute sehr viel Radio. Die Identität dieser Region wird durch die Medien bestimmt, zum Beispiel durch das Fernsehen und die erstaunlich konservative Literatur, die Bintas Nichte Faiza liest. Das sind in der Haussa-Sprache verfasste Romanzen, in denen Liebespaare nicht Händchen halten und sich nicht küssen dürfen, was im Grunde ironisch ist. Wenn sie es tun, dann nur im Kontext einer Heirat. Es gibt also eine bestimmte Identität, die von den Medien verstärkt wird."
Abubakar Adam Ibrahim selbst stammt aus der Stadt Jos, die er wegen der dortigen religiösen Unruhen verließ.
"Die Araber kamen im 14. Jahrhundert nach Nigeria – nicht um Eroberungen zu machen, sondern als Händler. Der Norden Nigerias hat den Islam im 14., 15. Jahrhundert geradezu umarmt. Das geht jetzt seit fünfhundert Jahren so, deshalb ist der arabische Einfluss sehr mächtig. Das Wiedererwachen der Religiosität Ende der siebziger Jahre bis Mitte der achtziger wurde gefördert. Diese Entwicklung ist jetzt an einem Punkt angelangt, an dem man nicht mehr sagen kann, wo die Religion endet und die Kultur anfängt, weil beide so eng miteinander verwoben sind."
Dicht und sinnlich erzählt
Ibrahim hat den Roman seiner Heimatstadt Jos gewidmet, die vom Blut der Unschuldigen ewig gezeichnet sei, wie er schreibt. Auch die Familie seiner Protagonistin lässt er von dort kommen. Binta musste einen Mann heiraten, den sie kaum kannte. Er kam bei den Unruhen in Jos ums Leben, ebenso ihr Schwager, dessen Nichte sie nun aufzieht. Am stärksten jedoch hat Binta der Verlust ihres ältesten Sohnes getroffen, der von der Polizei getötet wurde. Sieht sie in ihrem jungen Liebhaber mit dem kurzen Stachelhaar, das einem Feld mit winzigen Ameisenhügeln gleicht, wie es heißt, einen verlorenen Sohn? Und sucht der Halbwaise Reza einen Mutterersatz in ihr? Diese Fragen tauchen immer wieder auf im Strudel der atmosphärisch dicht und sinnlich erzählten Ereignisse. Für diese Lebendigkeit sorgen zahlreiche Einsprengsel aus der vorherrschenden westafrikanischen Verkehrssprache Haussa, die im Glossar erklärt werden. Den besonderen Charme dieses zutiefst humanen Romans machen aber die überlieferten Spruchweisheiten aus, die die Kapitel einleiten. Eine davon lautet:
"Wer einen alten Mann verspeist, darf sich nicht wundern, wenn er anschließend graue Haare spuckt."
Eine andere:
"Sieh nicht dorthin, wo du gefallen, sondern dorthin, wo du gestolpert bist."
Dieser Ratschlag gab der gelungenen, da farbigen und wendigen deutschen Übersetzung von Susann Urban den Titel. Abubakar Adam Ibrahim sind die Sinnsprüche seiner Heimat wie "Eine Schlange wird stets etwas Langes zeugen" besonders wichtig, wie er erklärt:
"Viele davon sind Haussa-Sprichworte, die ich ins Englische übersetzt habe. Sie stammen aus verschiedenen Gegenden Nigerias, manche aus anderen afrikanischen Ländern. Es war mir sehr wichtig, sie in den Roman zu integrieren, da es sich um Weisheiten handelt, Philosophie im Kleinformat. Die Menschen konnten sich früher in aller Kürze und sehr farbig ausdrücken, sodass man diese Sentenzen im Gedächtnis behalten hat. Aber mittlerweile ist viel von diesem Schatz verlorengegangen. Deshalb war es mir wichtig, sie als eine Art Resümee im Buch zu haben, auch damit man sich der Schönheit dieser Sinnsprüche bewusst wird."
Enormes Echo in Nigeria
"Wo wir stolpern und wo wir fallen" hat in Nigeria ein enormes Echo ausgelöst. Das ebenso spielerisch-poetische wie mutige Buch wurde 2016 mit dem wichtigsten Literaturpreis des Landes ausgezeichnet, als erster Debütroman überhaupt.
"Ich hatte viele Reaktionen von Frauen, die sagten: Das ist unsere Geschichte, das ist, was wir erleben. Wir hatten aber nie Gelegenheit, darüber zu sprechen. Solche Gespräche finden im geschlossenen Kreis statt, nur unter Frauen. Die Männer wiederum haben ihre eigenen Unterhaltungen, sodass es zwischen den Geschlechtern und verschiedenen Altersgruppen keinen Austausch gibt. Viele Frauen sagten mir: Das Thema ist uns vertraut, wir wussten aber nicht, mit wem wir darüber reden sollten. Und auch viele Männer haben erkannt, dass sie vielleicht doch mit ihren Frauen besprechen sollten, was diese sich als Individuen wirklich wünschen."
Abubakar Adam Ibrahims mit melancholischer Leichtigkeit erzählter Roman steht im Zeichen des Schmetterlings als Symbol der Schönheit und der Vergänglichkeit. Auf Bintas Nähmaschine wartet ein unfertiges Kleid mit Schmetterlingsmuster, und auch nach dem tragischen Ende ihrer unerwarteten Liebe wird sie bei den Schmetterlingen Trost suchen. Es ist ungewöhnlich für einen Liebesroman, zugleich religiösen Eifer, Korruption und Machtmissbrauch zu thematisieren – hier zeigt sich der journalistische Hintergrund des Autors. Mit "Wo wir stolpern und wo wir fallen" ist Abubakar Adam Ibrahim ein bewegendes Sittengemälde Nigerias gelungen.
Abubakar Adam Ibrahim: "Wo wir stolpern und wo wir fallen"
aus dem Englischen von Susann Urban
Residenz Verlag, Salzburg. 360 Seiten, 24 Euro.