
Die offiziellen Zahlen sind alarmierend: Zwei Millionen Menschen mehr pro Jahr. Knapp 13 Prozent Arbeitslosigkeit und eine Inflation, die ihresgleichen sucht: etwa 30 Prozent.
Im November hatte die ägyptische Zentralbank eine historische Zäsur vorgenommen, hatte das ägyptische Pfund, das mit Devisen künstlich gestützt wurde, freigegeben. Die Folge: Das Pfund verfiel und war im Dezember nur noch die Hälfte wert.
25. Januar 2017. Ernst, fast sorgenvoll blickt Präsident Abdel Fattah El Sisi in die Kamera. Es ist der sechste Jahrestag des Volksaufstandes, an dem sich die Menschen gegen die Obrigkeit auflehnten und einen Wandel forderten. Der Präsident spricht von den großen Opfern, die die Menschen erbracht haben – vom richtigen Weg, der dennoch beschritten wurde. Und er verspricht:
Ruhig, fast verhalten klingt, was der Präsident seinem Volk mitteilen will. Er trägt die Verantwortung für Ägypten, den volkreichsten Staat der arabischen Welt. Von "großen Opfern", den "harten Zeiten", die da kommen würden, hat Sisi schon damals gesprochen. Damals, als er sein Amt antrat. Doch keiner hatte ihm glauben wollen. Denn wie anders waren da noch sein Auftreten und seine Ausstrahlung.
Ein Präsident, der lacht, strahlt, alle mitreißen kann – ein Präsident, der in der Menge badet. "Tahiya Masr! Lang lebe Ägypten!" Es herrscht Aufbruchstimmung. Ägypten im März 2015.
Die Deutschen sind verlässliche Vertragspartner: Das erste von vier U-Booten ist mittlerweile überstellt, die Gaskraftwerke werden das ägyptische Netz in Rekordzeit mit Strom versorgen. In den vergangenen Wochen kamen viele Besucher aus dem Ausland: Politiker und Wirtschaftsvertreter. Jetzt: Angela Merkel. Ihr Thema: Migration. Und der Aufbau der Wirtschaft.
Wirtschaftlich hatten die Ägypter vorab weit mehr erhofft, auch von deutscher Seite. Denn die großen Investitionen entlang der Kanalzone, die Investitionen im industriellen Sektor sind bislang ausgeblieben – trotz der Ruhe auf ägyptischen Straßen. Auf diese Investitionen aber setzt die Führung des Landes. Weil sie sich neue Impulse erhofft, vor allem aber Arbeitsplätze. Ausländische Investoren zögern, verweisen auf eine überbordende Bürokratie, auf Korruption, ein Investitionsgesetz, das auf sich warten lässt.
"Alles ist teuer geworden", sagt er, "ein Kilo Zucker etwa: Unter Mubarak waren es drei Pfund, während der Revolution fünf, heute sind es 14 Pfund. Mehl, Nudeln, Reis, Öl, alles drei Mal so teuer. Ohne dass wir mehr verdienen, vielleicht zehn Prozent. Alles kam unvermittelt und gleichzeitig, ohne ausreichende Studien. Und die Händler legen die Preise fest, keiner kontrolliert sie ... sie machen, was sie wollen!"
"Die Leute sind müde. Sie sagen: 'Die Politik des Staates ist gut!' Dass der Präsident sehr gut zu den Menschen spreche. Aber sie selbst sehen keine Fortschritte, nichts Greifbares für sich, im Gegenteil, jeden Tag wird alles teurer."
Mitte Februar gibt der ägyptische Finanzminister dem amerikanischen Wirtschaftskanal "Bloomberg" ein Interview - Amr El Garhy, auf dessen Schultern eine schwere Last liegt: Er muss den Staatshaushalt sanieren, muss finanzpolitisch die richtigen Entscheidungen treffen.
"Wir haben damit gerechnet, dass die Inflation zunehmen wird. Im Januar, Februar, vielleicht noch im März. Doch wir gehen davon aus, dass sie dann zurückgehen wird. Weil sie angebots-, nicht nachfragemotiviert ist. Letzteres hätte uns in der Tat Sorgen bereitet. Diese Folgen aber waren vorhersehbar, aufgrund der Freigabe des Kurses und anderer Maßnahmen, die wir ergriffen haben."
Der Finanzminister ist optimistisch. Er spricht vom zunehmenden Interesse ausländischer Anleger, vom wachsenden Vertrauen in das Reformprogramm der Regierung. Das ägyptische Pfund sei dabei, sich zu stabilisieren, und die Devisenreserven hätten zugenommen. Er rechnet in diesem Jahr mit 3,8 bis 4 Prozent Wachstum.
"Es ist das Wachstum der Bevölkerung, das alles einholt. Jedes Jahr zwei Millionen Menschen mehr. Die Regierung darf jetzt nicht nachlassen, im Gegenteil, jeder muss mit größtem Einsatz dafür arbeiten, dass es ein Erfolg wird. Die Reformen müssen klar sein, jetzt kann es nur noch um die Umsetzung gehen."
Der Wirtschaftsexperte hält den Subventionsabbau für richtig. "Wie soll ein Staat zahlen," fragt er, "wenn er kein Geld hat?" Dennoch, der Staat müsse die Ärmsten im Blick haben und die Reformen sozial abfedern. Kritik aus dem linken Spektrum in Ägypten will Angus Blair nicht gelten lassen.
"Also, wenn sie eine bessere Lösung hätten, wäre das prima! Aber sie haben sie nicht und auch sonst keiner. Sie sind ein bisschen wie die Aktivisten von 2011, die das Geld des IWF nicht wollten. Weil sie es scheußlich fanden! 4,5 Milliarden Dollar, mit denen noch mehr Geld geflossen wäre … Für die Reform der Wirtschaft. Ja, sie sind mit dafür verantwortlich, dass Ägypten heute da steht, wo es steht. Mit einer Wirtschaft aus den 50er-Jahren. In einer Welt mit IT, Hightech und FinTech, überall, nur nicht hier."
Rainer Herret geht davon aus, dass der ägyptischen Regierung letztlich keine Wahl blieb, als mit dem IWF ins Geschäft zu kommen. Rainer Herret war bis Ende Januar Geschäftsführer der Deutsch-Arabischen Industrie- und Handelskammer. Die Regierung habe dringend Devisen gebraucht, für den Kauf von Nahrungsmitteln auf dem Weltmarkt, sagt er. Doch er verweist auf die wachsende Zahl der Armen, die die Reformen besonders hart treffen.
"Ich bin gegenüber dem IWF sehr skeptisch, jetzt bin ich allerdings voreingenommen, weil ich das schon einmal erlebt habe. Es ist für mich ein Déjà-Vu. Ich habe zehn Jahre lang in Südostasien gearbeitet, in Malaysia, und wir hatten ja dort auch schon einmal eine Finanzkrise. Und die sogenannten Heilrezepte und Reformrezepte des IWF sind brutal. Was aus den Menschen wird, ist den Wirtschaftsexperten beim IWF offensichtlich egal."
"Das ist viel, in der Tat. Und es ist auch nicht richtig. Nur die Ärmsten sollten Hilfe bekommen. Nicht jeder, der verheiratet ist und Kinder hat. Denn nicht jeder ist bedürftig. Nein. Es gibt Arme, die nicht lesen und schreiben können, nicht wissen, dass ihnen Hilfe zusteht. Und dann andere, die nichts brauchen und trotzdem alles nehmen."
Mit anderen teilt Mahmoud seine Abneigung gegen die vielen Staatsbediensteten. Sieben Millionen Menschen, die den Haushalt auf unverantwortliche Weise belasten. Präsident und Regierung versuchten ein neues Beamtengesetz durchzusetzen, doch es scheiterte am Veto des Parlaments. Es wäre ein erster Schritt gewesen.
"All das Gerede über höhere Gehälter. Wer bekommt es? Die Beamten. Aber was ist mit den anderen? Ich muss mich um meine Mutter kümmern, sie hat keine Einkünfte. Dann mein jüngster Bruder! Er ist ohne Arbeit, hat gerade geheiratet und einen kleinen Sohn, auch er braucht Hilfe, zum Beispiel für den Arzt. Wo ist der Staat? Es gibt keine Hilfe. An wen können wir uns wenden? Was sollen wir tun?"
Lediglich zehn Prozent der ägyptischen Wirtschaft seien in privater Hand, heißt es von Experten. 30 Prozent etwa rechnen sie dem informellen, 60 Prozent dem staatlichen Sektor zu. Letzterer fuße auf zwei Säulen, den eigentlichen staatlichen Betrieben und den Unternehmen, die dem Militär unterstehen, Fabriken, die zivile Güter herstellen, um die Armee zu finanzieren.
Ein Relikt vergangener Tage als Ägypten noch von Gamal Abdel Nasser geführt wurde. Die Armee sollte dem Staat nicht zur Last fallen. Das war damals die Devise. Daraus entwickelt hat sich eine Parallelwirtschaft, die ihren eigenen Gesetzen unterliegt. Zwar gestehen Experten zu, dass die Armee – wie in diesen Tagen – Nothilfe leistet, indem sie Produkte billig auf den Markt bringt, um so den Preiswucher abzumildern. Mittelfristig aber, heißt es, sei die herausragende Rolle des Militärs im Wirtschaftsleben des Landes problematisch.
Doch die Reformen kamen nur einigen wenigen zugute. Die Schere zwischen Reich und Arm ging immer mehr auseinander. Zudem vernachlässigte Mubarak die Modernisierung von Landwirtschaft und Industrie, setzte auf den Import – mit der Folge, dass das alte Agrarland heute selbst Weizen in gigantischen Mengen einführen muss. Doch in den Tagen, als der Tourismus boomte und die ägyptischen Gastarbeiter am Golf ihre Gehälter nach Hause schickten, gab es genug Devisen, um die Bevölkerung mit subventioniertem Brot, Öl und Zucker bei Laune zu halten.
Der Volksaufstand von 2011, der für viele Ägypter so viel bedeutete – wirtschaftlich betrachtet war er ein Desaster. Touristen und Investoren blieben weg. Streiks und Demonstrationen prägten den Alltag, der Strom fiel aus, der Treibstoff wurde knapp. Viele Unternehmer landeten im Gefängnis, andere konnten ihre Unternehmen nicht mehr am Laufen halten. Die Produktion kam fast zum Erliegen.
Dalia Sultan ist stolz auf das, was sie und ihr Mann vor gut zehn Jahren begonnen haben: Den Aufbau von "Gourmet", einem Feinkostgeschäft mit heute acht Filialen in ganz Kairo - einst mit Delikatessen aus aller Welt, heute stammen sie aus überwiegend ägyptischer Produktion: Ausgefallenes Obst und Gemüse, auch aus biologischem Anbau, feine Suppen und Soßen, italienische Pasta und Biscotti, frisches Brot, arabische Vorspeisen, mariniertes Geflügel.
"So this for me, for us, for all of us in Gourmet, really it gives me huge pleasure, honestly, I really love it, and I am so happy to be able to do that."
Das Unternehmen ist für Dalia Sultan weit mehr als nur "business" - sie liebt ihr Land und will es voranbringen. Sie hat Arbeitsplätze geschaffen, in die Fortbildung ihrer Angestellten investiert. Sie hat kleineren Produzenten die Möglichkeit gegeben, in ihren Geschäftsräumen oder auch unter ihrem Logo zu verkaufen, hat durch ein bewusstes Setzen auf Qualität andere Anbieter dazu gebracht, ihren Standard zu heben.
"Nur vier Jahre, mit der richtigen Politik, und das Land stünde ganz woanders! Es wäre nicht zu schlagen! Die richtigen Gesetze, ein gutes Investitionsklima, keine Subventionen, weniger Bevölkerungswachstum. Und das bekommen wir nur, wenn die Menschen merken, dass Leben real teuer ist. Schrittweise. Mit einem gut durchdachten Plan, auf gut durchdachte Weise. Es ist alles so offensichtlich."
Das politische Klima, sagt Mahmoud Hassan, habe sich verändert. Jeder wisse: Wer aufmuckt, bekommt Probleme mit der Polizei. Auf die Straße gehe deshalb keiner mehr. Die Menschen, sagt er, seien heute jedoch auch anders eingestellt:
"Sie wissen, Demonstrationen sind nicht die Lösung. Heute empfinden die Menschen so etwas wie Sicherheit, sie wollen arbeiten, einen Alltag, ein gutes Leben. Sie wollen einen besseren Staat. Und ein strenges Gesetz. Aber eines, das für alle gilt."
"2011 wollten die Menschen Freiheit und soziale Gerechtigkeit. Freiheit, in dem Sinne, dass die Polizei nicht einfach machen kann, was sie will. Und soziale Gerechtigkeit, dass vor dem Gesetz alle gleich sind, jeder ein Dach über dem Kopf haben kann, mit der Hilfe des Staates. Ein besserer Staat also, nicht nur für die, die Geld haben oder Beziehungen oder im Dienste des Staates stehen. Wo aber bleibt der Rest?"
Ziad Bahaa-Eldin war einst stellvertretender Premierminister seines Landes. In seinen Kolumnen, die er in arabischen Zeitungen veröffentlicht, erhebt er immer wieder seine Stimme, von vielen geschätzt: wegen seiner Unaufgeregtheit, wegen seiner kritischen und konstruktiven Meinung.
In seiner letzten Kolumne, die in der Tageszeitung "Ash-Shurouq" erschienen ist, spricht Bahaa-Eldin davon, wie unterschiedlich Wahrnehmung ausfallen kann, wie unterschiedlich die Sichtweisen auf dieselbe Ökonomie sein können. Wenn die Sichtweisen so weit auseinandergingen, schreibt er, sei das ausgesprochen gefährlich:
"In den Jahren vor der Januar-Revolution haben wir versucht, ein schnelles Wirtschaftswachstum herbeizuführen – ohne die Maßnahmen sozial abzufedern, ohne ein offenes politisches Klima zuzulassen. Dürfen wir diese Fehler jetzt noch einmal machen?"