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Afghanischer Machthaber in Verruf

Im Norden Afghanistans wirft die Bevölkerung ihrem Provinzgouverneur, Atta Mohammed, systematische Morde und "ethnische Säuberungen" vor. Die dort stationierte Bundeswehr kooperiert mit dem Politiker.

Von Marc Thörner | 20.06.2009
    Alam Khail, eine paschtunische Gemeinde, nur 30 Kilometer vom Bundeswehrstützpunkt Mazar-e Sharif entfernt. In einem der Gästehäuser, wie sie in dieser Gegend alle Großfamilien unterhalten, treffen sich Dorfälteste. Nachdem sie sich vergewissert haben, dass Fenster und Türen fest verschlossen sind, liest ein Mann eine Liste mit 15 Namen vor.

    Alle diese Menschen stammten aus der Gegend. Sie alle sollen gezielt getötet worden sein; und zwar, so sind die Anwesenden überzeugt, auf Geheiß von Atta Mohammed, dem Gouverneur dieser Provinz.

    In Kabul ist das "Institute for War and Peace Reporting" den Fällen nachgegangen. Das Institut ist eine internationale Nachrichtenagentur mit Hauptsitz in London. Abaceen Nasimi, einer der Rechercheure:

    "Es gab in der Balkh-Provinz eine Reihe von Morden, hauptsächlich an Stammesführern und an einflussreichen Persönlichkeiten der Paschtunen. Nach dem, was unsere Mitarbeiter vor Ort berichten, steht Gouverneur Atta hinter diesem gezielten Vorgehen gegen die paschtunische Bevölkerung in Nordafghanistan. Das Ganze ist eine hochsensible Sache, weil Attas Geheimdienst in und um Mazar-e Sharif allgegenwärtig ist - und weil er in der gesamten Bevölkerung eine Atmosphäre der Angst erzeugt, sodass es niemand wagt, etwas über diese Vorfälle zu sagen."

    Darauf angesprochen reagiert Nord-Governeur Atta empört. Den Urheber solcher Anschuldigungen sieht er in einem Rivalen aus der Zeit des afghanischen Bürgerkrieges: in Juma Khan Hamdard, dem Gouverneur der Provinz von Paktia im Osten. So wie die Ermordeten, gehöre auch Hamdard zur Hizb Islami - der Partei, mit der Atta im Bürgerkrieg verfeindet war.

    "Gouverneur Hamdard möchte am liebsten selbst Gouverneur dieser Provinz werden und möglichst viele Leute aus dieser Gegend hinter sich bringen. Deshalb macht er schon seit Jahren Propaganda gegen mich. Ihm geht es darum, die Hizb Islami, also seine Partei, in dieser Provinz aufzubauen. Aber wir denken, dass die Hizb Islami eine Partei ist, die sich gegen Afghanistan richtet."

    Weder bei der europäischen Polizeimission Eupol, noch bei der ISAF weiß man etwas von den Morden, die - so die Dorfältesten und das Institut aus Kabul - von Gouverneur Atta in Auftrag gegeben wurden. Insbesondere der Bundeswehr gilt Atta Mohammed Nur als verlässlicher Partner. Thomas Kossendey, Staatssekretär im Verteidigungsministerium:

    "Im Norden wäre insgesamt die vergleichbar ruhige Situation nicht möglich, wenn wir nicht mit dem Gouverneur und mit den administrativen Spitzen gut zusammenarbeiten könnten. Das konnten wir nur gemeinsam schaffen. Das konnte ISAF gar nicht alleine schaffen."

    General Bertolini, der Stabschef der ISAF, räumt ein, dass Nord-Gouverneur Atta immer wieder mit Menschenrechtsverletzungen in Verbindung gebracht wird, aber, so Bertolini:

    "Was könnten wir denn tun? Könnten wir den Afghanen unsere eigenen Gouverneure aufzwingen? Nein. Die müssen sie schon selber wählen. Natürlich passieren Fehler bei der Auswahl der Gouverneure. Aber das ist nun mal das Risiko der Demokratie. Manchmal wählt man die falschen Kandidaten. So etwas kommt vor."

    Aus Sicht des "Institute for War and Peace Reporting" handelt es sich jedoch nicht um Kavaliersdelikte. Gouverneur Atta, so Abaceen Nasimi, gehe planmäßig gegen die paschtunische Bevölkerung vor, und zwar mit wachsender Brutalität. Allein im Februar 2009 seien auf sein Geheiß 34 ihrer Stammes- und Gemeindechefs getötet worden. Im Bürgerkrieg kämpfte Gouverneur Atta als Warlord gegen mehrheitlich paschtunische Gegner. Heute, so der Mitarbeiter des "Institute for War and Peace Reporting", versuche Atta offensichtlich, Nord-Afghanistan "paschtunenrein" zu machen.

    "Die Techniken der Vertreibung sind unterschiedlich. Einige Paschtunen im Norden werden schlicht und einfach aus ihren Häusern rausgeworfen und angewiesen, die Gegend zu verlassen. Ihre Felder und ihre landwirtschaftlichen Parzellen wurden enteignet. Je näher die betreffenden paschtunischen Gemeinden sich jedoch an Mazar-e Sharif befinden, desto mehr wird gemordet. Man tötet etwa Lehrer und andere einflussreiche Mitglieder der Gemeinschaft. Vor einigen Monaten zum Beispiel wurde ein Schuldirektor umgebracht."

    Da auch die meisten Taliban Paschtunen sind, dürfte eine solche Politik, die auf Mord und Vertreibung setzt, den Aufständischen in Nordafghanistan einen idealen Nährboden bereiten.

    Kann die ISAF etwas dagegen tun? Nein, sagt Ruprecht Polenz, Vorsitzender des Auswärtigen Bundestagsausschusses:

    "ISAF hat hier keine Exekutivbefugnisse. Wir können nicht anstelle der Afghanen handeln. Auch Eupol hat kein Exekutivmandat, sondern ein Ausbildungsmandat, aber die afghanische Polizei, die durch Eupol ertüchtigt worden ist und weiter ertüchtigt wird, die wäre natürlich zu den Ermittlungen aufgerufen unter der Regie der afghanischen Behörden."

    Dass ausgerechnet die von Atta eingesetzten Polizeichefs der Provinz Untersuchungen gegen ihren Chef anstellen könnten, ist eine mehr als idealistische Vorstellung. Auch die Behörden in Kabul dürften sich hüten, angesichts des Einflusses, den Gouverneur Atta auf Präsident Karzai ausübt.

    Was aber, wenn Morde an Minderheiten, die sich als "ethnische Säuberungen" bezeichnen lassen, von der afghanischen Regierung nicht gestoppt würden? Was, wenn die ISAF einen Teil von Gouverneur Attas Sicherheitskräften ausbildet, während er einen anderen Teil für Morde und Vertreibungen einsetzt? Ist die internationale Schutztruppe ISAF und somit auch die Bundeswehr zur Hilfe verdammt? Oder müsste sie dann den Aufbau und den Schutz nicht einstellen? Ruprecht Polenz denkt lange nach, ehe er antwortet:

    "Das ist... Also sie müsste ihn nicht einstellen. Sondern der Auftrag ist ja, weiterhin für Sicherheit und Stabilität zu sorgen. Afghanistan ist kein westliches Protektorat, sondern es wird von einer eigenen afghanischen Regierung regiert - und die hat auch die Verantwortung."

    Argumente, auf die kritische Stimmen in Afghanistan zusehends verbittert reagieren. Für Sayed Yaqub Ibrahimi, im afghanischen Norden einer der prominentesten Journalisten, zeigen sie, dass es der westlichen Staatengemeinschaft in Afghanistan letztlich um Hegemonie geht.

    "Deutschland und die anderen Länder sind nach Afghanistan gegangen, weil sie eine Mission hatten: den Terrorismus und die Drogen zu bekämpfen und eine demokratische Gesellschaft aufzubauen. Daher sagten sie ihren Steuerzahlern: Gebt uns Geld für diese Mission. Heute aber tun die Regierungen der ISAF-Staaten nichts dergleichen und sie belügen ihre Bevölkerung."