Reichel: Einer der wichtigsten Streitpunkte ist ja die Staatsform, also wie sie genau aussieht. Der Verfassungsentwurf sieht einen starken Präsidenten vor, eine Zentralmacht. Ist das denn realistisch, in einem Land, in dem regionale Fürsten doch sehr auf ihre Macht beharren?
Dadfar-Spanta: Eigentlich ist das derzeitige Präsidialsystem, ausgestattet mit einer Fülle von Mächten, wie sie andere Staatspräsidenten - wie der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika oder von Frankreich – nicht haben, eine Reaktion auf die Existenz der warlords und dezentrale Machthaber in Afghanistan. Ob das in dieser Art eine Lösung und eine rechtlich Antwort auf die warlords in Afghanistan ist, ist sehr umstritten. Auf jeden Fall, man erhofft sich, dass eine starke Persönlichkeit an die Spitze der Exekutive gelangt. Ein Staatspräsident wäre wahrscheinlich in der Lage, die Probleme Afghanistans zu lösen, wohlgemerkt, dass es ein Hauptproblem in bezug auf den Verlauf der Debatte dieser Versammlung ist.
Reichel: Aber eine Zentralmacht heißt ja auch, Kabul hat die militärische Macht. Ich meine, nun sind ja auch die Vertreter der regionalen Herrscher dort in der Loja Dschirga. Was soll sie bewegen ihre Macht abzugeben, auch vielleicht ihre militärische Macht abzugeben?
Dadfar-Spanta: Zwischen Anspruch und Realität gibt es immer eine Diskrepanz und Widersprüche und diese Widersprüche sind in Afghanistan sehr heftig. In den letzten zwei Jahren haben wir beobachten können, dass die warlords im Lande nicht an Bedeutung verloren, sondern an Bedeutung gewonnen haben. Das Hauptproblem im heutigen Afghanistan in erster Linie ist die Frage der Sicherheit, in erster Linie im Süden, wo Reste der Taliban sich reorganisiert haben. Aber vor allem warlords, die in der Regierung auch ihre Vertretungen haben, wurden jetzt stärker. Ob man per Gesetz und Empfehlung und Ernennung eines Staatspräsidenten in die Lage versetzt wird, dezentrale Macht zu entmachten, das bezweifele ich. Entwaffnung der warlords muss in Afghanistan mit anderen Mitteln, nämlich mit massiver internationaler Intervention geschehen.
Reichel: Verstehe ich Sie dann richtig, dass diese Verfassung erst mal ein Richtwert darstellt?
Dadfar-Spanta: Auf jeden Fall ist es die Verrechtlichung die Grundlage des Staates Afghanistans. Obwohl, diese Verfassung ist in den Formulierungen sehr widersprüchlich, denn sie wechselt zwischen Islam und liberalen Prinzipien hin und her: einerseits wurden Teile des internationalen Rechtes anerkannt, anderseits bestehen die Prinzipien des Islam fort. Wie man diesen Widersprüchlichkeiten in Afghanistan in der Zukunft begegnen kann, da sehe ich Probleme. Aber wie sie schon erwähnt haben, momentan geht es in erster Linie darum, die Prinzipien zu verrechtlichen, beziehungsweise festzuschreiben und durch die Loja Dschirga zu legitimieren.
Reichel: Aber glauben Sie denn, bezüglich der Frage: "wie islamistisch soll Afghanistan bleiben?", dass die Loja Dschirga sich da einigen kann? Sie waren ja sehr optimistisch.
Dadfar-Spanta: Sie müssen sich einigen, weil der internationale Druck so stark ist. Aber die Lager haben sich verhärtet. Es sind Diskussionen ausgebrochen zwischen denjenigen, die die Vereinbarkeit der Prinzipien der Menschenrechte und der internationalen Konventionen mit dem Islam in Frage stellen und den anderen, die im Prinzip eine modernere Verfassung favorisieren. Aber ich gehe davon aus, dass Afghanistan eine Republik bleibt, eine Republik, in der die Gesetze nicht den Grundprinzipien der Menschrechte und der internationalen Konventionen widersprechen dürfen, denn der Druck der Vereinigten Staaten von Amerika ist enorm.
Reichel: Das heißt, auch die Gleichberechtigung der Frauen, wird dann, ihrer Erwartung nach, in der Verfassung durchgesetzt?
Dadfar-Spanta: Wissen Sie, das kommt darauf an, wie man interpretiert. Wenn man akzeptiert, dass die Staatsbürger Afghanistans gleiche Rechte und Pflichten haben, wie es jetzt formuliert wurde in der Verfassung, dann ist das eine positive Entscheidung. Aber wenn man andererseits sagt, im Privatleben gelten die Gesetze der Scharia und dann noch sowohl Schiiten als auch Sunniten wiederum ihre eigenen Interpretationen haben - wie kann man in diesem Spannungsfeld einigermaßen funktionierende Gesetze, die auf der Basis der Demokratie funktionieren, installieren? Das wird ein riesiges Problem für die Gesellschaft Afghanistans in der Zukunft geben.
Reichel: Die Demokratie erscheint uns ja immer als die einzig sinnvolle, oder als die beste Staatsform, könnte man sagen. Nun gibt es aber auch Staaten, wie zum Beispiel Russland, wo viele Bürger auch bereit sind, autoritäre Politikstile zu akzeptieren. Die Parteien, die Präsident Putins gelenktes Demokratiemodell unterstützen, haben ja nun mal die Wahl am vergangenen Sonntag auch gewonnen. Muss man solche Abstriche auch in Afghanistan hinnehmen, weil einfach die demokratische Tradition nicht so präsent ist?
Dadfar-Spanta: Auf jeden Fall existiert die demokratische Tradition, wie sie in Europa verstanden wird und sich seit dem 18. Jahrhundert entwickelt hat, nicht in Afghanistan. Barrieren sind in Afghanistan gesellschaftliche Strukturen, wie die Dezentralisierung oder eine schwache Staatstradition, die es schwer erlauben, dass man eine starke Zentralregierung in diesem Land zustande bringt. Aber das bedeutet nicht Demokratisierung sondern Dezentralisierung, beziehungsweise zum Teil auch Entstaatlichung. Das sehe ich im heutigen Afghanistan als eine Gefahr an. Wichtig wäre, dass wir die Demokratie als einen Prozess betrachten und versuchen langsam diesen Prozess in Afghanistan zu entwickeln und als eine Vorraussetzung für diesen Prozess betrachte ich dann die Herstellung der Sicherheit in Afghanistan, die Widerherstellung der Funktionsfähigkeit des Staates, damit man in diesem historischen Prozess in der Lage ist, Demokratie zu stabilisieren.
Reichel: Jetzt tagt erst mal die Loja Dschirga, aber es ist auch schon eine erneute Konferenz auf dem Petersberg bei Bonn geplant. Halten Sie solche Beratungen über die Zukunft Afghanistans im Ausland noch für nötig?
Dadfar-Spanta: In Afghanistan ist der ausländische Faktor, die internationale Politik, sehr wichtig. Die internationale Gemeinschaft agiert in Afghanistan in unterschiedlichen Formen. Einerseits internationale Friedenstruppen andererseits die Anti-Terror-Allianz, die gegen El Kaida, Rest El Kaida und Taliban kämpfen und dann natürlich der gesamte Wiederaufbauprozess, der durch ausländische finanzielle und personelle Mittel realisiert wird. So gesehen ist die Rolle des Auslandes im heutigen Afghanistan sehr, sehr entscheidend. Der Prozess, der von der Petersbergkonferenz hervorgegangen ist, ist in Zügen gescheitert und um die jetzigen Probleme zu bewältigen, denke ich, ist eine zweite Petersbergkonferenz, wie auch der Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen in Afghanistan gesagt hat, sehr, sehr dringend und man sollte das ins Leben zurückrufen, die Lehren aus der ersten Petersbergkonferenz ziehen und die Probleme Afghanistans jetzt angesichts der neuen Entwicklungen zu lösen versuchen.
Reichel: Aber warum muss eine solche Konferenz im Ausland stattfinden? Ist das nur der Sicherheitsaspekt?
Dadfar-Spanta: Der Sicherheitsaspekt ist auf jeden Fall sehr wichtig. Sie wissen, ein Drittel des afghanischen Territoriums befindet sich in militärischen Auseinandersetzungen mit der Taliban, im Norden des Landes bekämpfen sich warlords, die Taliban können auch die Hauptstadt Kabul attackieren. Auf der anderen Seite sehe ich die Fortsetzung der Tradition des Prozesses, der in Peterberg in Gang gesetzt wurde. Die jetzige Regierung und auch die heutige Loja Dschirga wurde als Ergebnis der Entscheidungen in Petersberg 1 ins Leben gerufen. Es ist besser, dass man wieder eine Beratung macht, die Lehren zieht und die Kontrahenten wieder nach Bonn einlädt und versucht, diese Tradition fortzusetzen.