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Afghanistan
Der Rückzug vom Rückzug der NATO

Die Afghanistan-Mission "Resolute Support" der NATO ist in die Verlängerung gegangen. Die USA haben schon vorher ihren Kurs korrigiert und den Abzug weiterer Soldaten wegen der prekären Sicherheitslage gestoppt. Die Rückkehr zum Kampfeinsatz ist dabei Realität - in 31 von 34 Provinzen wird gekämpft.

Von Sandra Petersmann | 13.08.2016
    Afghanische Sicherheitskräft im Kampf im südafghanischen Helmand
    Afghanische Sicherheitskräft im Kampf im südafghanischen Helmand (dpa / picture-alliance / Watan Yar)
    Shirin Gul hat ihren Bauernhof in den Bergen Nordafghanistans gegen eine schäbige Lehmhütte am äußersten Stadtrand von Kabul eingetauscht. Die resolute Frau ist zwischen 40 und 50 Jahre alt. Wie viele Menschen in Afghanistan war sie nie in der Schule und kennt ihr Alter nicht. Shirin Gul ist im vergangenen Spätherbst mit ihren Kindern und Enkelkindern aus Kunduz geflohen. Aus der Provinz, in der die Bundeswehr zehn Jahre lang stationiert war. An keinem anderen Ort in Afghanistan sind mehr deutsche Soldaten gefallen.
    "Unsere Regierung muss diesen Krieg beenden. Wir haben für einen Tag Frieden, und dann haben wir wieder fünf Tage Krieg und Tod", erzählt Shirin Gul. Sie hat durch die Kämpfe um Kunduz ihren Mann, einen Schwiegersohn und eine Enkeltochter verloren. "Wir gehen erst nach Hause zurück, wenn dort wieder Frieden herrscht", sagt Shirin Gul. Sie und ihre Familie gehört zu den mehr als eine Million Binnenflüchtlingen, die im eigenen Land nach Sicherheit suchen.
    Die Zeichen standen auf Abzug, als Shirin Gul mit ihrer Familie die Flucht ergriff. Der NATO-Kampfeinsatz war seit Dezember 2014 beendet. Die internationalen Truppen, die auf dem Höhepunkt der Mission 2010 mehr als 130.000 Soldaten zählten, waren auf rund 12.000 geschrumpft. Sie sollten bis zum Ende dieses Jahres drastisch weiter schrumpfen, doch dazu wird es nicht mehr kommen. Wegen Kunduz.
    Sayed Ibadullah schaut skeptisch auf die beiden Plastikprothesen, die seine neuen Beine sein sollen. Der 23-Jährige kämpfte im vergangenen Herbst in Kundus, als der ehemalige Bundeswehrstandort für kurze Zeit in die Hände der Taliban fiel.
    "Wir waren in unserem Außenposten tagelang ohne Nachschub eingeschlossen. Als wir uns befreien konnten und Richtung Flughafen gelaufen sind, explodierte die Sprengfalle", sagt Ibadullah. Er verlor beide Beine und die rechte Hand. "Ich kann meinem Land leider nicht mehr dienen, ich war gerne Soldat. Die, die jetzt aus Afghanistan fliehen, verkaufen ihr Land. Ich spreche jeden Tag mit meinen alten Kameraden. Sie haben Gott auf ihrer Seite. Sie haben Kunduz damals zurückerobert und sie würden es wieder tun", glaubt Ibadullah.
    Rückeroberung von Kunduz mit massiver ausländischer Unterstützung
    Was er nicht sagt: Die Rückeroberung gelang deshalb, weil seine Kameraden im vergangenen Herbst massive ausländische Unterstützung erhielten, obwohl der NATO-Kampfeinsatz offiziell als beendet galt. Vor allem die USA griffen aktiv in das Geschehen ein, aus der Luft und am Boden. Einer der amerikanischen Luftangriffe traf am 3. Oktober 2015 auch das Krankenhaus der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen in Kunduz.
    Der Fall der Provinzhauptstadt in Nordafghanistan, die rund zwei Wochen lang in den Händen der Taliban war, führte zu einer Kurskorrektur der NATO. Auf dem Gipfel in Warschau Anfang Juli stoppte das Verteidigungsbündnis seinen Rückzug aus Afghanistan.
    "Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt prekär. Die afghanischen Sicherheitskräfte sind noch nicht so stark wie sie sein müssten", erklärte der scheidende US-Präsident Barack Obama. "Die Taliban bleiben eine Bedrohung. Sie haben einige Gebiete dazugewonnen, sie greifen weiter an und verüben auch in Kabul Selbstmordanschläge", so Obama weiter.
    Die Statistik gibt ihm Recht. In 31 von 34 afghanischen Provinzen wird gekämpft. Auch Al Qaida und der selbst ernannte Islamische Staat sind aktiv. Hinzu kommen Dutzende marodierende Milizen und kriminelle Banden, die Dörfer und Familien ausbeuten.
    Es ist kein Zufall, dass die Kämpfe in den großen Drogen-Anbaugebieten besonders heftig sind. Die Vereinten Nationen befürchten, dass es in diesem Jahr in Afghanistan noch mehr tote und verletzte Zivilisten geben wird als im Vorjahr. Im vergangenen Jahr waren es mehr als 11.000 Opfer. Ein neuer Höchststand.
    Generalmajor Jalandar Shah Behnam, Kommandeur der Nationalen Verteidigungs-Universität in Kabul
    Generalmajor Jalandar Shah Behnam, Kommandeur der Nationalen Verteidigungs-Universität in Kabul (Deutschlandradio/ Sandra Petersmann)
    "Die meisten Kämpfer da draußen wissen nicht, für was sie kämpfen. Denen geht es nicht um die Taliban oder um den IS oder um ideologische Terrorziele. Denen geht es nur ums Geld", erklärt Generalmajor Jalandar Shah Behnam. Er ist der Kommandeur der nationalen Führungsakademie der afghanischen Armee in Kabul.
    "Unserem Land fehlen Bildung und Arbeitsplätze. Da draußen kämpfen Tausende unverantwortliche Männer mit Waffen für kriminelle Zwecke", klagt Kommandeur Jalandar – und spricht dann lange über die Drogen- und Menschenschmuggler, die verhindern wollten, dass sich Afghanistan stabilisiere, weil das ihr Geschäft kaputtmachen würde.
    "Eins unserer größten Probleme ist, dass unsere Feinde sich unter die Bevölkerung mischen. Sie kleiden sich Zivil. Sie begegnen uns mit Freundlichkeit, um uns zu töten. Das ist unser großer Schwachpunkt", schließt Jalandar seinen Vortrag und blickt aus dem Fenster. Sein Büro liegt auf einem Hügel. Von hier oben hat er einen unverstellten Blick auf das weitläufige Trainingsgelände für die zukünftigen Führungskräfte der afghanischen Armee.
    Korruption in der afghanischen Armee
    Unten nimmt Offiziersanwärter Mohammed Qaiz an Strategiespielen teil. Er verteilt blaue und gelbe Plastiksoldaten im Sand. Die Gelben sind seine Jungs, die blauen sind die Taliban. "Wir sind Offiziere, wir müssen unsere Soldaten disziplinieren, wir bringen sie in Gefechtsstellung für unsere geplante Operation, wir klären sie auf und dann greifen wir an", erklärt Qaiz. Die NATO-Staaten investieren Milliarden in den Aufbau der afghanischen Armee und Polizei. Doch die Verlustraten sind hoch. Allein im vergangenen Jahr verloren die Afghanen mehr Soldaten und Polizisten als alle NATO-Staaten in den vergangenen 15 Jahren. Korruption behindert den Nachschub und die Auszahlung der Gehälter. Kämpfende Soldaten hungern und haben zu wenig Munition. Die Zahl der Deserteure ist hoch – während jedes Gefecht und jeder Selbstmordattentäter das Vertrauen der Bevölkerung in ihren Staat weiter zerstören.
    Afghanische Soldaten hocken vor Plastikspielzeug im Sand.
    Strategiespiel im Sand - ein Besuch bei den Offiziersanwärtern der afghanischen Armee. (Deutschlandradio/ Sandra Petersmann)
    "An unserer engen Mission wird sich nichts ändern. Wir werden weiter die afghanischen Einheiten unterstützen und Terroristen verfolgen", betont Präsident Barack Obama. Auch nach seinem Ausscheiden aus dem Amt werden noch mehr als 8.000 amerikanische Soldaten in Afghanistan stationiert sein. Sie sind Teil der NATO-Truppen, aber sie haben unter einem zusätzlichen Anti-Terror-Mandat auch die Erlaubnis, ihre afghanischen Partner aktiv im Kampf zu unterstützen. Die US-Luftangriffe in Afghanistan haben deutlich zugenommen.
    Für die anderen NATO-Partner wie Deutschland geht es darum, auf dem komplizierten afghanischen Schlachtfeld die richtige Balance zu finden. Die NATO-Mission "Resolute Support" ist auf dem Papier eine Trainingsmission. Aber wo und wann hört trainieren und unterstützen auf?
    Es zeichnet sich keine politische Lösung in Afghanistan ab. Für die bräuchte es auch die Hilfe des Nachbarlandes Pakistan und der Regionalmächte Iran, Saudi-Arabien und Indien. Auch russische und chinesische Interessen sind im Spiel.
    Der afghanische Staat, der nach dem US-geführten Einmarsch vor 15 Jahren entstanden ist, kämpft um sein politisches Überleben. Die NATO-Staaten ringen mit sich. Die letzten 15 Jahre sollen nicht umsonst gewesen sein.