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Afghanistan-Expertin fordert mehr politisch-zivilen und wirtschaftlichen Aufbau

Einen umfassenden Strategiewechsel kann die Afghanistan-Expertin Citha Maass von der Stiftung Wissenschaft und Politik in den Beschlüssen der London-Konferenz nicht erkennen. Es gehe pragmatisch darum, die Rahmenbedingungen für einen geordneten Truppenabzug bis zum Jahre 2014 vorzubereiten.

Citha Maass im Gespräch mit Sandra Schulz |
    Sandra Schulz: Schon in diesem Jahr soll die Verantwortung für die Sicherheit in afghanische Hände zurückgegeben werden, teilweise, zumindest in einigen Bezirken, zumindest, wenn die Sicherheitslage das dann erlauben sollte. Acht Jahre nach dem Sturz der Taliban kündigt die internationale Staatengemeinschaft auf der Konferenz in London gestern einen Strategiewechsel an, der den zivilen Aufbau stärker in den Fokus rücken soll, der längerfristig auch die Perspektive für einen Abzug der ausländischen Truppen sichern soll. Mit welchem Echo in Berlin?
    Wir wollen die Ergebnisse von gestern noch einmal einordnen. Am Telefon begrüße ich Citha Maass von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Sie beschäftigt sich seit Jahren mit der Situation in Afghanistan. Guten Tag!

    Citha Maass: Guten Tag, Frau Schulz.

    Schulz: Haben Sie verstanden, was an der Strategie neu ist?

    Maass: Für mich ist es kein umfassender Strategiewechsel, sondern pragmatisch wollte man die Rahmenbedingungen für einen geordneten Truppenabzug bis circa im Wesentlichen zum Jahre 2014 vorbereiten. Das Jahr 2014 bezieht sich auf Präsident Karsais Vereidigungsrede im letzten November, die er in London wiederholt hat. Das ist nämlich das Ende seiner fünfjährigen Amtszeit. Man hat also fünf Jahre Zeit, um diesen geordneten Truppenrückzug vorzubereiten.

    Schulz: Und für wie vielversprechend halten Sie diesen Plan?

    Maass: Was den Aufbau der afghanischen Armee anbelangt, bin ich insgesamt optimistisch. Es geht nicht darum, dass quantitativ die Armee weiter ausgebaut wird; darauf dringen die Amerikaner. Ich halte es für sehr viel wichtiger, dass die Führungsqualitäten der afghanischen Offiziere aufgebaut werden. In einem Bericht an den US-Kongress vom Dezember letzten Jahres wurde nämlich explizit darauf hingewiesen, dass es darum geht, die Offiziere auf Bataillons-, auf Brigaden- und auf Korpsebene dazu zu befähigen, dass sie selbstständig Operationen ausführen können, und ich denke, das können wir in fünf Jahren erreichen.

    Schulz: Aber was macht Sie da so zuversichtlich, dass das zu erreichen ist? Es ist ja im Grunde seit acht Jahren das Ziel, die Afghanen in die Lage zu versetzen, selbst für die Sicherheit in ihrem Land sorgen zu können.

    Maass: Ein wesentlicher konzeptioneller Fehler und auch ein gedanklicher Fehler in den letzten Jahren war immer, dass man auf internationaler Seite glaubte, man müsste selbst für Sicherheit sorgen. ISAF ist ein Unterstützungsmandat und man hat zu spät begonnen, eigentlich erst in den letzten eineinhalb Jahren, oder auch nur im letzten Jahr 2009, dass man mehr Operationen gemeinsam mit den afghanischen Offizieren, mit der afghanischen Armee durchgeführt hat.
    Ich möchte Zahlen geben. Die Amerikaner waren schon sehr viel weiter. Im Regionalkommando Ost haben sie im letzten Jahr ungefähr 67 Prozent der Operation gemeinsam mit afghanischen Offizieren geplant und umgesetzt. Im deutsch geführten Regionalkommando Nord lag diese Zahl nur bei etwas über 40 Prozent. Das ist aber auch erst im letzten Jahr deutlich angestiegen. Das heißt, wir müssen erreichen in den nächsten fünf Jahren, dass immer mehr Operationen gemeinsam mit afghanischen Führern geplant und umgesetzt werden, und wir müssen als internationale Militärberater immer weiter zurücktreten, damit dann in fünf Jahren die afghanischen Offiziere solche Operationen selbstständig und nur noch mit indirekter Unterstützung vornehmen können.

    Schulz: Trotzdem passt das auf den ersten Blick nicht zusammen. Die internationale Staatengemeinschaft sagt, wir wollen die zivile Aufbauarbeit stärken, und jetzt schicken wir aber erst mal massiv neue und viel mehr Zehntausende von Soldaten in das Land.

    Maass: Ja. Das ist für mich die Hauptkritik an der Londoner Konferenz. Darum sehe ich sie wirklich als eine Truppenabzugskonferenz. Die Unterstützung für den politisch-zivilen und wirtschaftlichen Aufbau ist für mich nicht ausreichend geleistet worden. Wenn man eine Armee aufbaut, dann muss man auch dafür sorgen in einem politischen System, dass die Kontrolle darüber ausgeübt wird. Die afghanische Regierung ist hoch korrupt, das ist bekannt, sie hat das auch wieder bei der Vereidigung einiger Minister im afghanischen Parlament gezeigt. Wichtige Minister haben nämlich ihre Zustimmung mit Millionensummen an Dollars erkauft.

    Man sollte vielmehr das afghanische Parlament stärken. Man sollte – und das ist bislang nicht ausreichend geschehen – den politischen Parteien eine offizielle Rolle geben. Das heißt, man sollte die Legislative so stärken, dass sie die Exekutive kontrollieren kann. Das ist ihre ursprüngliche Aufgabe. Und was mir in London auch viel zu wenig geleistet wurde: Man muss den Kräften in der afghanischen Zivilgesellschaft, die dazu inzwischen fähig sind – und wir haben einige dazu befähigt -, die Möglichkeit geben, dass sie politisch mitsprechen, dass sie selbst agieren und dass sie sich auch ökonomisch betätigen.

    So wie im Augenblick die Aufbau-Millionen der afghanischen Regierung zur Verfügung gestellt werden, tragen sie zur Korruption bei, und ich plädiere dafür, dass ein wesentlicher Teil zum Beispiel der deutschen bilateralen Hilfe nicht nach Kabul gegeben wird, sondern direkt in die Provinzen, weil in Kabul zu viel der internationalen Millionen in Taschen versickern, die dann eben korruptiv sind, und, was ich auch bei meinem letzten achtmonatigen Aufenthalt bestätigt bekam, es bestehen keine institutionellen Verbindungen zwischen den Ministerien in Kabul und den entsprechenden Provinz-Departements. Das heißt, die Gelder bleiben in Kabul liegen und fließen nicht in die Provinzen ab.

    Schulz: Vor diesem Hintergrund: Welche Wege gäbe es denn, das Parlament zu stärken, die Legislative?

    Maass: Es sollten in jedem Fall die Parlamentswahlen, die ja ohnehin schon auf Herbst verschoben wurden, erst dann durchgeführt werden, wenn das Wahlrecht geändert ist, wenn also nicht Einzelkandidaten aufgestellt werden, sondern ein gemischtes System, in dem politische Parteien, was vorgesehen ist, ungefähr 80 Sitze reserviert bekommen. Damit würden sie eine offizielle Funktion einnehmen. Da könnte man dann Beratungen für die Parteien anbieten, denn die sind noch in einem sehr schwierigen Zustand, sie sind sehr stark auf die Führer ausgerichtet.

    Gleichzeitig sollte man eine Öffentlichkeitsarbeit in der Bevölkerung darüber durchführen, warum man überhaupt Parlamentswahlen durchführt. Das war ein wesentlicher Kritikpunkt an den Präsidentschaftswahlen im letzten Jahr. Und die Gebergesellschaft hat dafür plädiert, dass viel mehr Breiten-, wir würden sagen Erwachsenenbildung über ein demokratisches System in der Bevölkerung gemacht wird. Das ist im letzten Jahr fast überhaupt nicht geschehen. Das sind alles Mittel, um der Bevölkerung von innen die Möglichkeit zu geben, das System zu reformieren. So etwas ist eine Generationenaufgabe und kann nicht in acht Jahren erfüllt werden.

    Ich habe noch einen wichtigen Punkt, der ist bislang in der ganzen Diskussion vernachlässigt worden. Ich halte die politischen Geheimgespräche mit den Führern der Aufständischen für wichtig, aber wenn sie nur im Hinblick auf eine Berücksichtigung pakistanischer Interessen mit saudischer Vermittlung durchgeführt werden, dann stehen sie unter dem sunnitisch-wahabitischen Gesichtspunkt, und ich kann mir nicht vorstellen, dass der Iran, Zentralasien, Russland, China und Indien damit zufrieden sind. Das heißt, es hängt davon ab, wie diese Gespräche geführt werden, weil sie sonst den Keim für neue Konflikte legen.

    Schulz: Und es hängt auch davon ab, mit wem diese Gespräche geführt werden. Es wird jetzt über diese berühmte Unterscheidung zwischen den gemäßigten Taliban und den fundamentalistischen Hardlinern ja spekuliert. Wie trifft man diese Unterscheidung?

    Maass: Für mich gibt es keine gemäßigten Taliban, für mich gibt es Aufständische, die sich aus unterschiedlichen Motiven den einzelnen Aufständischengruppen angeschlossen haben. Es ist richtig, dass man jetzt politische Gespräche mit den Führern führt, das heißt also mit Beauftragten von Mullah Omar, mit Beauftragten von Gulbuddin Hekmatyar und mit Beauftragten vom Hakani-Clan. Das sollte aber nicht in der Presse geschehen. Man sollte in diese Gespräche eben auch eine regionale Dimension einbeziehen, damit wir, was ich eben schon angedeutet habe, nicht wieder andere, die in den Prozess eingebunden werden müssen, zu Gegnern des Prozesses machen. Wir haben in den letzten Jahren erkannt: Afghanistan lässt sich nur stabilisieren, wenn die Nachbarn und auch die regionalen großen Staaten mit einbezogen werden. Ich denke da ganz speziell an Russland, China und Indien. Wenn die nicht mit einbezogen werden, dann wird es intern und in der Region keine dauerhafte Befriedung geben.

    Schulz: Citha Maass von der Stiftung Wissenschaft und Politik, heute im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Danke schön!

    Maass: Auf Wiederhören.