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"Afghanistan war noch nie so unsicher wie jetzt"

Das Mandat für den Abzug der Bundeswehr in Afghanistan wurde in Berlin beschlossen. Die Hauptsicherheitsproblematik in dem Land sind nicht die Taliban, sagt Reinhard Erös von der Kinderhilfe Afghanistan, sondern die dramatisch zunehmende Kriminalität. Der Versuch der NATO Einheimische zum Anti-Terror-Krieg auszubilden, habe zu einer Vernachlässigung der Ausbildung zum Kampf gegen Kriminalität geführt.

Reinhard Erös im Gespräch mit Doris Simon | 28.11.2012
    Doris Simon: Ende 2014 sollen die letzten Kampftruppen der internationalen Schutztruppe Afghanistan verlassen haben. Die Ersten sind schon abgezogen und die Planungen laufen längst. In Afghanistan selber sieht man die Planung mit äußerst gemischten Gefühlen, denn Frieden und Sicherheit herrschen keineswegs im Land. Die Taliban sind in den meisten Gegenden stark und viele Menschen haben Angst vor dem, was nach dem Abzug der ISAF kommt – dann, wenn nur noch wenige internationale Soldaten in Afghanistan bleiben, um die einheimischen Sicherheitskräfte zu trainieren. Heute hat das Bundeskabinett in Berlin das Mandat für den Abzug der Bundeswehr beschlossen.

    Wenn die Kampftruppen der internationalen Schutztruppe bis Ende 2014 Afghanistan verlassen haben, dann wird es ernst für die afghanischen Sicherheitskräfte. Es liegt dann allein an ihnen, den fragilen Frieden und das, was es bis dahin an Sicherheit und an demokratischem Aufbruch in Afghanistan gibt, zu gewährleisten. Ob sie das schaffen können, daran zweifeln viele, vor allem auch in Afghanistan.

    Labil, aber stabil – das sagt Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière zum aktuellen Zustand. Dr. Reinhard Erös ist in dieser Nacht aus Afghanistan zurückgekommen. Er ist Begründer der Kinderhilfe Afghanistan, die vor allem im Südosten des Landes mehr als 40 Schulen, Gesundheitsstationen und andere Projekte finanziert. Weit über 2000 afghanische Mitarbeiter verdienen dort ihren Lebensunterhalt. Reinhard Erös ist jetzt am Telefon. Herr Erös, wie sehen Sie denn die aktuelle Situation in Afghanistan?

    Reinhard Erös: Es gibt keine aktuelle Situation in Afghanistan. Unser Minister, den Sie eben ja als Gesprächspartner hatten, spricht über den Norden Afghanistans, also über das Bundeswehrgebiet. Da liegt er sicher nicht ganz falsch, davon weiß ich nichts, ich arbeite nicht im Norden. Da wo wir arbeiten, also im Osten, Südosten des Landes, also im Gebiet der Amerikaner, ist die Sicherheitslage für die afghanische Bevölkerung so schlimm wie noch nie in den letzten elf Jahren. Die Sicherheitslage für die NATO-Truppen, also bei uns die Amerikaner, hat sich verbessert, aber nicht, weil Frieden dort herrscht oder weil es friedlicher abläuft, sondern weil es kaum mehr Truppen der US-Armee gibt, die ihre Kasernen verlassen.

    Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. Ich bin heute Nacht aus Laghman zurückgekommen und habe mich dort um etwa 40 Kinder gekümmert, Waisenkinder, die vor sechs Wochen, ziemlich genau vor sechs Wochen ihre Mütter verloren haben, weil eine amerikanische Drohne, ein unbemanntes Flugzeug, ihre Mütter, die beim Holzsammeln waren, mit Taliban verwechselt hat und sie mit Bomben zerfetzt hat. Jetzt sind diese Kinder, die vorher sowieso nur noch eine Mutter hatten – die meisten waren Waisenkinder, Halbwaisen, haben ihren Vater verloren -, auch völlig auf sich allein gestellt.

    Die Konsequenz – jetzt komme ich zu Ihrem Punkt – der Amerikaner war: Sie haben aus Laghman, aus dieser Provinz, die ziemlich nahe an der pakistanischen Grenze liegt, sämtliche Außenposten abgezogen, sämtliche "Kampftruppen" abgezogen und nur noch ein kleines Kontingent in der Hauptstadt Mehtarlam von Laghman hoch gesichert zurückgelassen. Also der Abzug der NATO, speziell bei uns der Amerikaner – und die spielen ja die Hauptrolle; die Bundeswehr hat ein relativ kleines Kontingent im Vergleich zu den 70.000 Amerikanern -, der Abzug der NATO findet auf eine ganz andere Art und Weise statt. Es werden Soldatenzahlen reduziert, aber die Kampfhandlungen und die Kampfmöglichkeiten werden forciert.

    Wir haben seit drei Jahren etwa eine Verzwanzigfachung der Drohnenangriffe, sowohl in Ost-Afghanistan sowie in West-Pakistan. Das heißt, die Zahl der Opfer unter der afghanischen Bevölkerung nimmt dramatisch zu. Der Hass der Paschtunen, also der Hauptgruppe in Afghanistan, auf die Besatzer, also auf die Amerikaner, nimmt dramatisch zu. Deshalb setzen die Amerikaner jetzt auch nicht mehr auf Bodentruppen, sondern auf Drohnen und die Bundeswehr anscheinend jetzt auch nicht mehr auf Bodentruppen, sondern auf Kampfhubschrauber. Ich habe heute nach meiner Rückkehr aus Afghanistan erfahren, dass die Bundeswehr demnächst zum ersten Mal Kampfhubschrauber nach Afghanistan setzen wird. Nun hat ein Kampfhubschrauber Tiger der Bundeswehr mindestens die Kampfkraft einer Fallschirmjäger-Kompanie. Also hier wird ein Bild durch das Wort "Abzug", "Rückzug" von Kampftruppen der Bevölkerung in Deutschland vorgegaukelt, das bedeuten würde, die Afghanen haben das weitgehend im Griff, die Kampfhandlungen werden sich reduzieren. Das ist ein völlig falsches Bild!

    Simon: Das heißt aber im Umkehrschluss, die afghanischen Sicherheitskräfte nach Ihrer Erfahrung in der Provinz Laghman auf jeden Fall haben überhaupt nichts im Griff?

    Erös: Noch mal: Sie sind Teil der Bevölkerung. Auch hier muss man wieder sagen, das ist alles sehr kompliziert zu erklären. Die afghanischen Sicherheitskräfte gibt es nicht. Die afghanischen Sicherheitskräfte sind zunächst mal Bürger des Landes. Ihre Feinde sind sehr verschieden. Die Hauptsicherheitsproblematik in Afghanistan sind nicht die Taliban; die Hauptsicherheitsproblematik in Afghanistan ist die dramatisch zunehmende Kriminalität, das heißt Entführungen von Kindern, Vergewaltigungen, Straßenräuber. Ich habe in Afghanistan nie so viel Angst gehabt wie in den letzten eineinhalb, zwei Jahren, aber nicht vor den Taliban, auch nicht natürlich vor der NATO, sondern vor der zunehmenden Kriminalität. Und da tut die Bevölkerung überhaupt nichts, und das ist Gewaltkriminalität. Also dieser Versuch der NATO, speziell der Amerikaner, aber auch der Deutschen, afghanische Soldaten, Polizisten zum Anti-Terror-Krieg auszubilden, hat zu einer dramatischen Vernachlässigung der Ausbildung zum Kampf gegen Kriminalität geführt. Afghanistan war noch nie so unsicher wie jetzt.

    Simon: Was wird sich denn ändern, wenn wirklich kein Kampfsoldat mehr im Lande ist?

    Erös: Nichts! Es wird schlimmer werden!

    Simon: Warum wird es schlimmer werden? Sie haben gerade eben ja die Angriffe mit Drohnen und anderem angesprochen sowie die Verlagerung von Truppen.

    Erös: Für wen? Für die NATO wird es besser werden. Wir werden weniger Verluste haben.

    Simon: Nein, für die Menschen!

    Erös: Für die afghanische Bevölkerung wird es schlimmer werden, völlig klar, weil die Kriminellen und die Aufständischen Oberwasser haben. Sie fühlen sich auf der Siegerstraße, die Kriminellen hauptsächlich. Und dann dürfen Sie – und das ist überhaupt noch nicht angesprochen worden – der Wahnsinnseinfluss gerade der letzten zwei Jahre aus Pakistan nach Afghanistan... Die zwei größten wesentlichen Gruppen, die im Osten und im Süden Afghanistans, teilweise auch im Norden, militärisch Zoff machen, ist das Haqqani-Netzwerk und sind die Truppen von Hekmatyar. Die haben mit den Taliban nur ganz lose Verbindungen. Es wird immer das Wort Taliban angesprochen. Haqqani und Hekmatyar, alte Warlords aus dem Krieg gegen die Russen, haben mit den Taliban fast nichts zu tun, die führen ihren eigenen Krieg, und sie werden es sein, die bei reduzierter, sichtbarer reduzierter Truppenstärke der Ausländer jetzt in Afghanistan die Geschicke bestimmen werden.

    Simon: Was heißt das denn für Sie zum Beispiel ganz konkret, für die Kindernothilfe mit all Ihren Menschen, die Sie betreuen, und mit all den Menschen, die bei Ihnen ihre Arbeit haben?

    Erös: Unsere Arbeit in Afghanistan seit 2002 – Sie haben die Zahlen ja eben angesprochen – hat sich, was die Sicherheitslage angeht, nicht verschlechtert, eher ist sie stabil geblieben. Wir haben bisher noch keinen einzigen Verlust bei unseren 2000 Mitarbeitern zu beklagen. Alle unsere Einrichtungen wurden bisher weder angegriffen, noch bedroht – und zwar deshalb: nicht weil wir NATO-Soldaten um unsere Einrichtungen als Schutzschilde aufgestellt hätten, sondern im Gegenteil, weil wir den NATO-Soldaten, also bei uns den Amerikanern, untersagt haben, sich unseren Einrichtungen zu nähern, weil es keinerlei Zusammenarbeit mit ausländischen Soldaten gibt, sondern weil wir unsere Zusammenarbeit ausschließlich mit der Bevölkerung, mit den Dorfältesten, mit den Stammesältesten, auch mit den religiösen Führern, wo es natürlich Verbindungen gibt zu den Aufständischen, garantiert haben. Das ist unsere Sicherheitsgarantie, die meiner 2000 Mitarbeiter, und die wird sich auch in Zukunft hoffentlich nicht im negativen Sinne verändern.

    Simon: Gehen Sie davon aus, dass Sie weiterhin so operieren können, auch 2015, 2016, wie Sie es jetzt tun?

    Erös: Ich gehe davon aus. Wir bauen zurzeit die erste Universität mitten im Talibangebiet, die erste private Universität, finanziert von privaten deutschen Spendern, für Frauen. Ich habe den Baufortschritt jetzt gesehen. Wir werden vermutlich im nächsten November diese Universität oder die erste Fakultät eröffnen können. Dort werden dann Frauen zum ersten Mal in der Geschichte Ost-Afghanistans im Fach Journalismus ausgebildet, auch im Fach deutsche Sprache. Wir werden dort auch die deutsche Sprache unterrichten. Und diese Einrichtungen, wo jeder dort weiß, das wird eine Universität werden für Frauen, ist bisher ungestört abgelaufen, das wird auch weiter so bleiben.

    Simon: Herr Erös, Sie sprechen es an: eine Universität für Frauen im Talibangebiet. Im neuen Bericht der Bundesregierung werden ja auch Verhandlungen mit den Taliban angeregt. Sind Sie auch dafür?

    Erös: Das mache ich von Anfang an!

    Simon: Nein, auch auf Regierungsebene.

    Erös: Das sind alles solche Erkenntnisse, da kommt mir fast ein Lächeln von den Lippen. Dass man mit den Mächtigen im Land auf beiden Seiten, in Pakistan und Afghanistan, also im Grenzgebiet, dass man mit denen sprechen muss, dass man mit denen zu Deals kommen muss, dass man mit denen Verhandlungen führen muss im weitesten Sinn des Wortes, ist doch klar. Nur das müssen die Einheimischen machen, und die unterstützen wir dabei, indem wir den Aufständischen oder den Taliban zeigen, wir meinen es gut mit euch, wir tun nichts gegen den Willen oder gegen die Perspektiven eurer Brüder, eurer Väter im Land Afghanistan selber, bei den Paschtunen.

    Simon: Das heißt aber nicht, dass Sie wieder zu den Zuständen zurückkommen wollen, die vor 2001 geherrscht haben unter den Taliban?

    Erös: Diese sechs Jahre oder knapp sechs Jahre Talibanregime – da müssen wir jetzt auch wieder aufpassen -, die haben ja nur deshalb funktioniert, weil der Westen es so wollte. Die Saudi-Araber haben die Taliban geschaffen, die Pakistani haben sie politisch geschaffen, die Amerikaner haben sie am Anfang unterstützt, nur deshalb sind die so mächtig geworden.

    Simon: Aber da wollen Sie sicher nicht wieder hin?

    Erös: Um Gottes Willen nicht! Wir sind ja auch auf gutem Weg. Noch einmal: Wir haben jetzt 60.000, davon sind etwa 40.000 Mädchen, zur Schule gebracht. Die machen inzwischen bei uns Abitur, die können demnächst auch studieren. Wir haben die Krankenstationen überall, alles mitten im Talibangebiet in Absprache mit der Bevölkerung. Ein Zurück zu einem Taliban-Steinzeit-Islam-Regime wird es in Afghanistan nicht geben. Aber was ich befürchte: Es wird entweder ein hoch krimineller Drogenstaat werden – noch nie wurde in Afghanistan so viel Heroin produziert wie im letzten Jahr, 580 Tonnen Heroin, das ist Weltrekord überhaupt, das war noch nie so hoch, zur Zeit der Taliban lagen wir bei 200 Tonnen – und die vorhin angesprochene mafiöse Kriminalität, Banküberfälle, Straßenräuberei, Vergewaltigung, Kindesentführungen. Das befürchte ich eher. Und dafür ist die afghanische Polizei, dafür sind die afghanischen Behörden, Staatsanwaltschaft, Richterschaft und so weiter, überhaupt nicht ausgebildet. Im Gegenteil: Sie stecken mit denen oft unter einer Decke.

    Simon: Reinhard Erös war das, der Begründer der Kinderhilfe Afghanistan. Vielen Dank, Herr Erös, für das Gespräch.

    Erös: Ich bedanke mich.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.