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Afrikanische Flüchtlinge
Endstation Libyen

Sklaverei, Vergewaltigung, Mord - das sind reale Gefahren für afrikanische Flüchtlinge, bevor sie auch nur einen Fuß in ein Schlauchboot an der libyschen Küste gesetzt haben. Doch selbst wenn das gelingt - das Risiko, auf See aufgegriffen und in Libyen in einem "DC", einem Gefangenenlager, interniert zu werden, ist groß.

Von Björn Blaschke | 06.05.2017
    Migranten stehen im Auffanglager für Flüchtlinge in Misrata (Libyen) hinter Gittern.
    Migranten stehen im Auffanglager für Flüchtlinge in Misrata (Libyen) hinter Gittern. (pa/dpa/Schwinghammer)
    Der Schließer schiebt den Metallriegel beiseite und zieht die schwere Stahltür auf. Der Geruch nimmt einem den Atem: Ausdünstungen von ungewaschenen Menschen und muffiger Kleidung. Die Luft in dem hohen Raum kann nicht zirkulieren. Die vergitterten Lichtschächte in den nackten Betonwänden sind zu schmal. Auf dem unverputzten Boden - eng auf eng -: Schaumgummimatratzen. Mit billigen Kunstfaserdecken. Der Raum: groß wie eine Turnhalle; Platz für vielleicht 100, 150 Menschen. Insassen. Eine Großraumzelle für Frauen. Unter libyscher Leitung. Die Vereinten Nationen nennen es DC: Detention Center – zu Deutsch: Gefangenen-Zentrum.
    Manche Frauen schlafen, andere starren an die Decke. Wer hier eingesperrt ist, hat die finale Etappe der großen Reise nicht mehr geschafft; ist aus einem der vielen südlicheren afrikanischen Länder aufgebrochen, um über Libyen und das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Wer in einem DC, wie diesem, in der libyschen Hauptstadt Tripolis einsitzt, wurde von Libyern im Land aufgegriffen oder aus der See gefischt. Der Traum von einem besseren Leben: geplatzt. Illegal eingereist; ohne Visum. Letzte Station: DC – Gefangenen-Zentrum.
    "Die Fahrer haben die Tour fortgesetzt, ohne anzuhalten."
    Eine der Insassen in der Großraumzelle ist Rejoyce: Freundliches, rundes Gesicht; große Augen; den Kopf hat sie bedeckt mit der Kapuze ihres blauen Pullis. Die 22 Jährige war bereits in einem Schlauchboot auf dem Weg nach Italien.
    "Plötzlich fiel der Motor aus. Das Boot war leck. Wir haben um Hilfe geschrien. Dann kam ein libysches Rettungsteam und hat uns geholfen. Wir wurden eingesperrt. In einem DC. Mehr als einen Monat lang waren wir da, bevor sie uns in dieses DC brachten."
    Die Geschichte der jungen Frau ähnelt der vieler Menschen, die vor dem Elend flüchten. Rejoyce stammt aus Nigeria; dem bevölkerungsreichsten Land Afrikas, das gezeichnet ist von wirtschaftlichem Niedergang, Korruption und im Norden auch von islamistischem Terrorismus.
    "Ich habe Nigeria im August vergangenen Jahres verlassen – wegen der Krise dort. Wir haben die Wüste durchquert. In einem LKW. Das war hart. Einige Leute sind vom LKW gefallen. Die Reise ist sehr, sehr gefährlich. Viele von uns sind jetzt tot. Wir waren 26, als es losging. Wer auf dem Weg runterfiel, blieb zurück. Die Fahrer haben die Tour fortgesetzt, ohne anzuhalten."
    Die Menschenschmuggler transportierten Rejoyce bis über die Grenze nach Libyen. Einheimische Schlepper übernahmen sie hier und brachten sie in eines der vielen Häuser im Süden des riesigen Landes. Die UN nennen diese Unterkünfte "Menschen-Farmen". Rejoyce wurde versklavt:
    "Sie haben uns zu einer Tomatenplantage gebracht. Da waren wir einen Monat lang. Da gab es Vergewaltigung und Mord. Dann haben sie uns weitergebracht, wir sind auf ein Boot gekommen - und dann fanden wir uns hier wieder."
    Drei-Monats-Spritzen zur Verhütung vor der Flucht
    Im vergangenen August verließ Rejoyce Nigeria. Heute wünscht sie, sie hätte sich nie auf den Weg gemacht. Sie habe ja nicht gewusst, was auf sie zukommen würde. Andere – auch Mitinsassen von Rejoyce - wissen, es: Frauen lassen sich sogenannte Drei-Monats-Spritzen setzen; ein Verhütungsmittel. Sie wissen, dass ihnen auf dem Weg ans Mittelmeer Vergewaltiger auflauern, sie vielleicht prostituiert werden, sie einen Teil ihrer Reise nach Europa nicht als Sklavin auf einer Tomatenplantage abarbeiten müssen, sondern mit erzwungenem Sex. Die Internationale Organisation für Migration, die eng mit den Vereinten Nationen zusammenarbeitet, hat erst kürzlich von Sklavenmärkten in Libyen berichtet. Auf denen verkauften Schlepper Flüchtlinge für 200 bis 500 Dollar. Die Käufer zwängen die Flüchtlinge zu Arbeit oder Sex. Und – so heißt es aus einer verlässlichen Quelle bei den UN – auch in den DCs komme es zu Vergewaltigungen.
    Scharfe Kritik von UN und NGOs an DC-Lagern
    Saleem Ghaleeb ist der Generalinspekteur der DCs in West-Libyen. Im Auftrag der international anerkannten Regierung soll er für Ordnung in insgesamt 17 DCs sorgen. Die Lebensbedingungen in all diesen Lagern haben UN und Menschenrechtsorganisationen wiederholt scharf kritisiert. Saleem Ghaleeb:
    "Ehrlich gesagt, sind die Verhältnisse in wenigen Zentren angemessen, in andern schlecht, da sie keine Sanitäranlagen und keine Toiletten haben. Oder nicht genug. Manche DCs sind überfüllt. Mit 1.000 Leuten, 1.500 oder noch mehr. Statt der 700, die vielleicht hineinpassen. Und manche Gebäude sind baufällig."
    Ghaleeb meint, dass noch mehr Menschen in die DCs kommen werden; wenn sich noch mehr auf den Weg nach Europa machen, aber auch mehr auf dem Weg dahin abgefangen werden – in Libyen oder in libyschen Hoheitsgewässern.
    "Es sind Hunderttausende - wahrscheinlich sogar noch mehr als eine Million, die im Süden Libyens darauf warten, in den Norden zu kommen und dann weiter nach Europa. Wir haben keine Möglichkeiten, sie aufzunehmen. Bei uns herrscht Krieg, und es gibt viele Gebiete außer jeder Kontrolle. Diese Gebiete gelten als sichere Fluchtwege. Sogar aus Marokko kommen sie zu uns und aus Bangladesch, Leute mit Staatsangehörigkeiten, die nicht afrikanisch sind."
    Ölpreisverfall in Libyen aufgrund der Kampfhandlungen
    Schon jetzt sei es schwer, die Menschen in den DCs zu versorgen, so der Generalinspekteur. Libyen ist zwar reich an Öl. Aber: Wegen der ständigen Kämpfe kommt das Land heute nur knapp auf die Hälfte der Fördermenge, die vor dem Sturz von Diktator Muammar al-Gaddafi erreicht worden ist. Da wirkt sich der Ölpreisverfall doppelt schwer aus. Daher brauche Libyen dringend Hilfe.