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Agenda 2000

Sanders: Guten Morgen, Herr Juncker.

    Juncker: Guten Morgen.

    Sanders: Herr Juncker, es ist zwar immer wieder betont worden, daß auf diesem informellen Treffen keine konkreten Beschlüsse gefaßt werden sollen. Aber hat es denn in Ihren Augen überhaupt – wenn auch nur kleine – Fortschritte über die wesentlichen Punkte der Agenda 2000 gegeben?

    Juncker: Es hat 'Trippelschritte' in Richtung Endlösung gegeben, ja.

    Sanders: Gestern abend ist Bundeskanzler Gerhard Schröder noch einmal zitiert worden. Er hat ein Interview der Welt am Sonntag gegeben, und zwar soll er dort folgendes gesagt haben: 'Jeder unserer EU-Partner darf anscheinend nationale Interessen deutlich vertreten, nur wir Deutschen dürfen das anscheinend nicht.' Nach Schröders Meinung soll das so nicht bleiben, und er führt weiter aus, was das konkret bedeuten könnte – Zitat: 'daß wir zum Beispiel unsere überzogenen Nettozahlerpositionen zurückführen müssen.' Was halten Sie von diesen Äußerungen?

    Juncker: Also, ich habe gestern zu Beginn der Debatte auf dem Petersberg gesagt, es gäbe ein unausgesprochenes Unwort am Tisch, und das wäre das des 'nationalen Interesses'. Nationale Interessen gibt es, das ist legitim, daß Regierungen – das sind ja keine anonymen Vereinigungen – das, was ihre Bürger als sich im nationalen Interesse befindend versuchen, auch in der Europäischen Union durchzusetzen. Aber es gibt auch so etwas wie das europäische Interesse. Und das europäische Interesse, das ist mehr als das einfache Addieren von nationalem Interesse, und bei allem Verständnis für sogenannte nationale Interessen, die es gibt – die haben Deutschland, die haben wir, die haben alle anderen, die müssen wir auch sehen –, das heißt: Neben der Agenda 2000 gibt es auch noch so etwas wie Europa. Und Europa ist eben mehr als Agenda 2000, als europäischer Haushalt und europäische Finanzreform. Europa ist mehr als 1,27 Prozent seines Bruttosozialproduktes. Und wenn wir auf dem Petersberg oder um die Monatsfrist in Berlin tagen, sind wir auch Interessenswahrer unserer Nationalstaaten, aber es ist auch unsere verdammte Pflicht, Europa weiterzubringen, Europa nicht versacken zu lassen. Und irgendwo brauchen wir hier den Kompromiß und die Lösung zwischen nationalen Interessen und europäischen Interessen. Europäisches Interesse geht vor, was nicht heißt, daß auf nationale Interessenvertretung ganz verzichtet werden kann. Alle haben das Recht, nationale Interessen zu vertreten. Die Deutschen übrigens auch – haben die immer getan, tun die zur Zeit, werden die immer tun.

    Sanders: Wie soll denn dieser Spagat gelöst werden? Auf der einen Seite die nationalen Interessen, auf der anderen Seite die Europäische Union. Reicht denn Ihrer Meinung nach noch die Zeit bis zum EU-Gipfel in Berlin, um die Differenzen beilegen zu können?

    Juncker: Also, ich hielt die Sitzung gestern für eine sehr nützliche Veranstaltung, weil eigentlich jeder im kleinen Kreis darlegen konnte, was für ihn geht und was für ihn wirklich nicht geht auf Grund seiner nationalen Befindlichkeit, auf Grund seiner nationalen Haushaltslage, auf Grund seiner internen Wirtschafts- und soziologischen Struktur. Der deutsche Ratsvorsitz weiß jetzt besser, bei wem die Fahnenstange ab wo erreicht ist. Herr Schröder wird sich sehr intensiv in den nächsten Wochen mit den Partnern bilateral weiter beraten, und ich gehe davon aus, daß es uns gelingen wird, am 24./25. März in Berlin abzuschließen.

    Sanders: Die Positionen scheinen aber nichts desto trotz im Moment noch sehr verhärtet zu sein. Besonders die Bauern gehen auf die Barrikaden – ein Großteil der Reformen macht ja die Agrarreform aus und sorgt auch für Wirbel. In dem Zusammenhang ist auch das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich nicht besonders gut geworden, und das deutsch-französische Verhältnis ist ja nun eine wesentliche Stütze der Europäischen Union. Sehen Sie da ein Problem, oder wird auch das sich auflösen?

    Juncker: Also, die Europäische Union kommt ohne die deutsch-französiche Stütze nicht aus. Man muß aber auch wissen – die Deutschen und Franzosen wissen das sehr oft nicht –, daß es nicht reicht, daß sich Frankreich und Deutschland einigen. Wir sind 15, nicht 2. Es wird schwierig auf der Ebene der 15 weiterzukommen, wenn Deutschland und Frankreich sich in den Haaren liegen. Aber wenn Deutschland und Frankreich sich in den Armen liegen und die anderen verstehen die Zärtlichkeit nicht, dann geht das auch nicht weiter. So etwas, wie deutsch-französiche Irritation, war gestern nicht gegeben. Wenn Deutschland und Frankreich nicht auf einer Linie liegen, heißt das noch nicht, daß das Haus brennt.

    Sanders: Wie bewerten Sie denn im allgemeine die Europapolitik der neuen Bundesregierung? Ist das eine Fortsetzung, eine Kontinuität – oder sehen Sie hier einen Bruch?

    Juncker: In Deutschland weiß jeder, unabhängig von seiner parteipolitischen Zugehörigkeit und unabhängig von der politischen Blutgruppe, in der er schwimmt, daß es für Deutschland keinen Sonderweg in Europa geben kann. Es gibt auch keine Sonderwege für andere Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Ich gehe davon aus, daß es zu keinem Bruch in der Europapolitik der Deutschen geben wird. Deutschland weiß sehr wohl – wie die anderen auch –, daß alle Nutznießer sind, die am Tisch der Europäischen Union sitzen. Und es gibt ja auch großes Verständnis dafür, daß die deutschen Nettobeiträge abgesenkt werden müssen. Dies wurde auch schon vor zwei Jahren, vor 18 Monaten, von vielen meiner Kollegen unterstrichen. Und in Deutschland muß man auch wissen, daß Europa – wie ich eben sagte – mehr ist, als der europäische Haushalt. Mich hat sehr beeindruckt gestern und auch im Vorfeld des Petersberger Gipfels in Gesprächen mit südeuropäischen Kollegen, daß sie darauf aufmerksam machen, daß aus den Mitteln des Koisionsfonds her nicht nur die direkt Betroffenen Nutznießerstaaten profitieren, sondern auch viele Firmen aus Deutschland, aus Luxemburg, aus Frankreich: Der Athener Flughafen wird neu gebaut - ein deutsch-französisches Konsortium baut ihn, die U-Bahn wird in Athen gebaut - ein deutsch-französisches Konsortium baut sie. Es gibt ein Riesen-Bauprojekt in Portugal – in Brüssel streiten sich zwei deutsche Firmen darüber, wer den Auftrag erhalten soll. Also, man sollte hier mit Maß sich die Dinge betrachten.

    Sanders: Das war Jean-Claude Juncker, der luxemburgische Regierungschef. Dankeschön für das Gespräch.