Spengler: Das heißt, der Bürger muss davon ausgehen, dass die Bundesregierung kein in sich stimmendes Reformkonzept hat?
Bofinger: Ich würde sagen, das gilt eigentlich für alle Bereiche. Es gilt für die Makropolitik, es gilt aber auch für die ganzen Strukturreformen, wo man eben vor allem Aktionismus erkennen kann, aber es fehlt eigentlich klares ordnungspolitisches Denken, es fehlt eine klare Leitlinie, und das verunsichert.
Spengler: Können Sie uns kurz erklären, was Sie mit Makropolitik meinen?
Bofinger: Mit Makropolitik meine ich, dass man eben diagnostiziert, in welcher Lage befinden wir uns, und es verdichten sich die Anzeichen, dass wir jetzt schon in der Rezession sind. Wir haben jetzt das vierte Quartal im letzten Jahr mit einer roten Null, also gleich negativ, dann das erste Quartal negativ, und die Daten deuten darauf hin, dass wir auch das zweite Quartal negativ haben. Das heißt, wir sind im Prinzip in einer Rezession, und eine Rezession erfordert nach allen Regeln der Kunst, dass der Staat antizyklisch mit seiner Fiskalpolitik eingreift. Wenn wir uns aber die Daten anschauen, dann haben wir dieses Jahr eine prozyklische Fiskalpolitik, weil Herr Eichel trotz dieser schlechten Haushaltslage versucht, die Haushaltskonsolidierung voranzutreiben.
Spengler: Das heißt, Sie bezweifeln, dass die Regierung die notwendige Kunst aufbringt?
Bofinger: Ja, es ist einfach eine vollkommen kontraindizierte Makropolitik, und die Ergebnisse sehen wir ja. Ich meine, das war schon im letzten Jahr zu erkennen, dass es dieses Jahr nicht besonders gut läuft. Deswegen war es ein Fehler, die Steuerreform 2003 zu verschieben, deswegen war es ein Fehler, in diesem Jahr die Konsolidierung voranzutreiben, und die Ergebnisse kann man eben jetzt mit Händen greifen.
Spengler: Das heißt, es müsste jetzt die Steuerreform vorgezogen werden, so wie es Herr Poß nun heute ins Gespräch gebracht hat?
Bofinger: Ganz genau. Aber es müssten eben jetzt nicht auf der anderen Seite wieder Ausgaben gekürzt werden, sondern man muss einfach mal versucht, jetzt einen expansiven Impuls zu setzen, hoffen, dass der expansive Impuls dazu führt, dass die Konjunktur anspringt und dass auf diese Art und Weise dann die Konsolidierung kommt. Also wenn man immer nur bei konstantem Defizit das Ganze macht, dann gibt man einfach der Wirtschaft nicht den Impuls, den sie im Augenblick braucht.
Spengler: Das heißt, höhere Neuverschuldung?
Bofinger: Auf jeden Fall, wobei eben wichtig ist zu unterscheiden zwischen den Kurzfrist- und den Mittelfristeffekten. Eine kurzfristig höhere Neuverschuldung kann mittelfristig durchaus dazu führen, dass wir aus unseren Schuldenproblemen rauswachsen, denn das beste Rezept gegen die Verschuldung ist eben Wirtschaftswachstum. Die Länder in Europa, die Wirtschaftswachstum haben, haben keine Probleme mit der Verschuldung, und Länder wie Deutschland, die stagnieren, haben die Verschuldungsprobleme. Deswegen ist es enorm wichtig, dass wir unsere Wirtschaft wieder zum Anspringen bringen, und dann haben wir auch mittelfristig weniger Probleme mit den Defiziten.
Spengler: Wenn ich den Überblick richtig habe, dann ist Ihre Position innerhalb der deutschen Wirtschaftsprofessoren eine Minderheitsmeinung. Können Sie denn für Ihre Position anführen, dass es anderswo, zum Beispiel in Europa genauso gemacht wurde, und zwar mit Erfolg?
Bofinger: Ich würde zunächst mal in die USA schauen, das ist ja immer unser Vorbild. Die amerikanische Wirtschaftspolitik macht ganz klar eine keynesianische Makropolitik. Die Defizite sind jetzt deutlich hochgefahren worden, die Zinsen sind deutlich niedriger, und auf diese Art und Weise ist es bisher durchaus gelungen, die amerikanische Wirtschaft vom Absturz zu bewahren und deutlich höhere Zuwachsraten zu erzielen, als es bei uns der Fall ist. Das heißt, die USA, die bei uns ansonsten als Vorbild gelten, sollten auch in der Makropolitik als Vorbild gelten, und da würde man sehen, antizyklische Fiskalpolitik ist wirksam.
Spengler: Nun klagen auch die Amerikaner inzwischen über eine relativ hohe Arbeitslosigkeit, sechs Prozent. So erfolgreich ist das auch nicht mehr, nicht?
Bofinger: Wir wären aber froh, wenn wir die amerikanischen Wachstumsraten hätten. Die liegen immerhin bei zwei bis drei Prozent, während wir bei Null bis Minus sind. Ich meine, da sind doch schon Welten dazwischen. Deswegen meine ich schon, dass das amerikanische Modell funktioniert.
Spengler: Was heißen Ihre Vorschläge konkret für das, was die Bundesregierung sich vor allen Dinge vorgenommen hat, für die Reformagenda 2010?
Bofinger: Die Agenda 2010 ist ja nun konjunkturpolitisch genau das Gegenteil von dem, was wir benötigen, denn sie enthält ja bei den Maßnahmen, die sofort wirken, zunächst mal die private Finanzierung des Krankengelds. Das bedeutet, die ganzen Zuzahlungen, die noch dazu vorgesehen sind, würden noch weitere Realeinkommensenkungen bedeuten. Das heißt, das schwächt die Nachfrage der Haushalte im nächsten Jahr, und wenn Sie die Maßnahmen ansehen zur Reform des Arbeitslosengeldes, dann ist das ja eine Maßnahme, die Lohnkosten senkend erst ab dem Jahr 2007 wirkt wegen des Vertrauensschutzes und ähnlicher Dinge. Verunsichernd wirkt sie heute, weil die Arbeitnehmer sich natürlich jetzt schon fragen müssen, kann ich, wenn ich so wenig Absicherung im Fall der Arbeitslosigkeit habe, längerfristige Verträge eingehen, kann ich noch ein Auto auf Kredit kaufen, kann ich mir noch eine Eigentumswohnung kaufen? Das heißt, die Verbraucher werden bei solchen längerfristigen Entscheidungen vorsichtiger disponieren und auch das schwächt wieder den privaten Verbrauch.
Spengler: Also Sie stehen im Prinzip auf der Argumentationslinie mit den Gewerkschaften, die sagen, auch lohnmäßig soll ruhig etwas draufgelegt werden?
Bofinger: Ich würde nicht sagen, drauflegen. Ich denke, das Entscheidende ist Stetigkeit. Also wenn man eine Situation hat wie die augenblickliche, die doch von sehr vielen Schocks und Störungen geprägt ist, dann ist es doch wichtig, dass in den zentralen Bereichen Stetigkeit herrscht. Das würde bedeuten, bei den Löhnen gibt es keine Lohnsenkungen sondern Versuche, eine stetige Linie zu fahren, aber natürlich auch keine aggressive Lohnpolitik. Es würde bedeuten bei der öffentlichen Hand, dass man versucht, jetzt die Ausgaben einigermaßen kontinuierlich wachsen zu lassen, also nicht das zu tun, was jetzt die Länder und was der Bund teilweise auch tut, dass man überall versucht, Ausgaben zusammenzustreichen, so gut es geht. Das ist einfach prozyklische Politik, und das verschärft die Probleme, die wir haben.
Spengler: Und wann kann man dann im Interesse der nachfolgenden Generationen an den Schuldenabbau gehen?
Bofinger: Ich würde sagen, für die nachfolgenden Generationen ist das Allerwichtigste, dass wir wieder auf den Wachstumspfad kommen, dass wir wieder Investition haben, denn die nachfolgenden Generationen werden in erster Linie davon leben, was wir heute investieren in die Infrastruktur, in Humankapital, aber auch in Unternehmen, und wir werden für die nachfolgenden Generationen das beste tun, wenn wir es schaffen, wieder eine kräftige Investitionsentwicklung zu bekommen. Wenn wir weiter so vor uns hindümpeln, wie wir das im Augenblick tun, mit rückläufigen Investitionen, dann ist das für die nachfolgenden Generationen das Allerschlechteste. Was den Schuldenbestand angeht - das ist der Punkt, den ich eben angesprochen habe -, die zentrale Dynamik des Wirtschaftsprozesses sorgt ja auch dafür, dass die Verschuldung zurückgeführt wird. Wenn wir es also schaffen, wieder in den Wachstumsprozess zu kommen, dann können wir auch die Konsolidierung vorantreiben, und dann muss uns um die zukünftigen Generationen nicht Bange sein.
Spengler: Vielen Dank für das Gespräch.