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Akademisierungswahn?
"Nicht drängen in eine Richtung!"

Die Anzahl derjenigen, die in Zukunft akademische Berufe anstreben, werde sich in kurzer Zeit verdreifachen - "Das kann nicht gut gehen", sagte Julian Nida-Rümelin, ehemaliger Kulturstaatsminister, im DLF. Andreas Schleicher, Bildungsexperte bei der OECD, forderte zudem, junge Menschen zu befähigen, sich frei zwischen Studium und Ausbildung zu entscheiden.

10.10.2014
    Zwei Studienabsolventen in Talar und Doktorhut.
    Julian Nida-Rümelin: "Die drei Länder mit der niedrigsten Akademikerquote in den westlichen Ländern, nämlich Deutschland, Österreich und die Schweiz, haben zugleich die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit." (picture alliance / dpa / Alaa Badarneh)
    Kate Maleike: Es waren sicher viele vor einem Jahr recht erstaunt, von einem Philosophieprofessor und ehemaligen Minister zu hören, dass Deutschland einen Akademiker- oder Akademisierungswahn habe. Julian Nida-Rümelin hat seinen Essay nun auch rechtzeitig zur Buchmesse als Buch herausgebracht, und zwar heute vorgestellt. Darin ist von Holz- und Irrwegen die Rede, den die deutsche Bildungspolitik nun beschreite, und auch, dass das duale Ausbildungssystem vor die Hunde gehe, weil nun alles studieren wolle. Akademisierungswahn in Zeiten von ständig steigenden Anforderungen und Herausforderung? Wie geht das zusammen? Das möchte ich jetzt besprechen mit Julian Nida-Rümelin, guten Tag!
    Julian Nida-Rümelin: Guten Tag!
    Maleike: Warum ist es denn für Sie ein Akademisierungswahn? Ist doch eigentlich nichts dagegen einzuwenden, dass junge Leute, wenn sie wissen, dass sie sich bessere Positionen, bessere Gehälter und bessere Existenzen gründen können später, einen Studienabschluss anstreben!
    Nida-Rümelin: Also, zum Wahn gehört zunächst einmal, dass man die Realitäten falsch einschätzt. Absolventen geisteswissenschaftlicher Studiengänge in Deutschland – nehmen wir zum Beispiel meinen Beruf, Hochschullehrer – verdienen im Schnitt 4.064, nach der letzten mir verfügbaren Statistik, in Deutschland, Gymnasiallehrer etwas weniger, Bibliothekare, Archivare, Museumsfachleute 3.200, Maschinenbautechniker 4.300, Bankfachleute 4.300, Elektrofachleute 4.100, Bautechniker und so weiter. Sodass interessanterweise die Absolventen von Studiengängen, also Akademikern – wir reden jetzt hier von Magister- und Masterabsolventen – 200 Euro weniger verdienen im Mittel als die nicht-akademischen Fachkräfte von Maschinenbautechniker bis Physikotechniker und so weiter. Das heißt schon mal, das ist Teil des Akademisierungswahns: Nur wenn ich das Abitur habe, kann ich anständig verdienen. Und ein zweiter Teil, mindestens so wichtig, ist die merkwürdige Vorstellung, man müsse möglichst viele Ausbildungsberufe akademisieren. Und jetzt soll auf einmal gelten, dass diejenigen, die einspringen, die Erziehungsleistung der Eltern übernehmen, die beide berufstätig sind – meine Kinder waren ab dem siebten Monat in der Krippe –, dass die ein Studium absolviert haben müssen, um mit Kindern anständig umgehen zu können. Das leuchtet gar nicht ein. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir da sogar einen Qualitätsverlust erleiden würden. Bei uns sind die Studierenden ganz anders als in den USA – das ist ja die Absurdität dieser internationalen Vergleiche – zu 70 Prozent an Universitäten. Die Lehrkräfte an Universitäten haben sich fast ausschließlich, das kann ich nun wirklich sagen, über Forschung qualifiziert, sie haben keinerlei Praxiserfahrung in der Regel. Und diese sollen nun auf einmal Ausbildungsgänge übernehmen. Das kann nur schiefgehen, das führt zu einer Dequalifizierung nach US-amerikanischem Muster.
    Maleike: Andreas Schleicher hat mitgehört, er ist der Bildungsexperte bei der OECD, der Organisation für Entwicklung und wirtschaftliche Zusammenarbeit. Guten Tag, Herr Schleicher!
    Andreas Schleicher: Guten Tag!
    Maleike: Die OECD hat Deutschland ja immer wieder in den letzten Jahren eine zu schwache Akademikerquote ins Pflichtenheft geschrieben. Was sagen Sie denn jetzt zu den Aussagen von Herrn Nida-Rümelin?
    Schleicher: Zunächst einmal, Deutschland ist in der glücklichen Lage, dass es zwei hervorragende Bildungswege anbietet, ein hervorragendes berufliches Bildungssystem, ein gutes akademisches Bildungssystem. Und ich denke, das Wichtigste ist, dass wir viele junge Menschen befähigen, sich frei zu entscheiden, welchen dieser Wege sie gehen wollen, die beide ihre Stärken und Schwächen haben. Was wir im internationalen Vergleich sehen, ist, dass in Deutschland der relative Gehaltsanteil von Akademikern sehr stark gestiegen ist, das sehen viele junge Menschen. Herr Nida-Rümelin hat ganz recht, das gilt nicht für jeden akademischen Ausbildungsweg, da ist es schon wichtig, dass wir jungen Menschen die Wahrheit sagen, wo die Erfolgsaussichten sind. Das gilt dann natürlich für den Maurerlehrling, da müssen wir auch die Wahrheit sagen. Und ich denke, so viele junge Menschen zu befähigen, den für sie geeigneten Bildungsweg zu beschreiten, das ist, denke ich, unsere These. Wir haben sehr viel zur beruflichen Bildung gearbeitet, wir haben immer wieder darauf hingewiesen, dass tendenziell die Nachfrage nach Akademikern in Deutschland schneller gestiegen ist als das Angebot. Das zeigen diese dramatischen Gehaltssteigerungen. Und vor allen Dingen die Diskrepanz. Diese Schere ist in Deutschland immer weiter auseinander gegangen und ich denke, da hat Deutschland reagiert, das war ganz richtig so. Wie weit man diesen Weg geht, das ist immer eine Frage von Angebot und Nachfrage. Ich glaube nicht, dass wir uns da irgendwo Empfehlungen für die Kinder anderer Leute aussprechen sollten.
    Maleike: Sie haben ja vorhin den Maurer angesprochen, ich spreche jetzt mal die Bäcker an, die Handwerker. Wir haben zum Teil einen Abbruch von jedem fünften Lehrvertrag, der nicht zu Ende geführt wird. Ich will damit sagen: Die Attraktivität des beruflichen Ausbildungssystems hat ja stark gelitten. Insofern ist ja auch die Frage, wer bedingt jetzt eigentlich was? Entdecken wir gerade die, sagen wir mal, Gleichwertigkeit wieder von beruflicher und akademischer Ausbildung, Herr Nida-Rümelin?
    Hohe Akademikerquote nicht unbedingt gut für Beschäftigungslage
    Nida-Rümelin: Ich begrüße sehr, dass nicht nur die OECD – aber da ist es besonders auffällig – unterdessen die Attraktivität des dualen Systems entdeckt. Und trotzdem, die Dinge müssen kohärent sein. Und das sind sie nicht. Auf der einen Seite haben wir dieses, das will man ja auch nicht völlig leugnen und abwerten; auf der anderen Seite sollen wir uns an den internationalen Standards der Akademikerquoten orientieren. Und diese beiden Dinge kann man kohärent nicht zusammen vertreten. Aber dann werfen wir mal einen kurzen Blick auf Vergleiche: Wenn es so wäre, dass diese Orientierung auf berufliche Bildung mit der Folge einer relativ niedrigen Akademikerquote schädlich ist für die wirtschaftliche Entwicklung und die Entwicklungschancen der jungen Menschen, dann wäre es völlig unerklärlich, wie die Daten de facto sind. Deutschland hat eine Akademikerquote, die ist niedrig im internationalen Vergleich. Sie hat jetzt eine sehr angewachsene Studienanfängerquote, aber immer noch eine niedrige Akademikerquote über alle Jahrgänge hinweg, also der jetzt Berufstätigen, von rund 16 Prozent. Großbritannien, das gelobte Großbritannien hat die doppelte Akademikerquote, auch wieder über alle Jahrgänge hinweg. Aber Großbritannien hat die doppelte Jugendarbeitslosigkeit wie Deutschland. Die drei Länder mit der niedrigsten Akademikerquote in den westlichen Ländern, nämlich Deutschland, Österreich und die Schweiz, haben zugleich die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit. Also, wenn das Bildungssystem was Vernünftiges leisten soll, dann doch vor allem auch das, dass Jugendliche nicht in das Berufsleben mit der frustrierenden Erfahrung starten, dass sie nicht gebraucht werden. Man darf sich hier nicht in die Tasche lügen. Ich habe nichts gegen eine gewisse Anhebung der Akademikerquote, wir haben jetzt 16 Prozent Studienanfängerquote, 46, 47, 48 Prozent, 57 Prozent hochschulzugangsberechtigt, steigende Tendenz. Wenn das anhält, sozusagen britisches Muster, dann heißt das, dass wir den Anteil derjenigen, die akademische Berufe suchen, innerhalb relativ kurzer Frist verdreifachen. Das kann nicht gut gehen.
    Maleike: Herr Schleicher, darauf müssen Sie reagieren!
    Schleicher: Ich sage noch einmal, wir haben in Deutschland das Glück, dass es ein hervorragendes Fachhochschulsystem gibt. Das ist ein guter Bildungsweg ...
    Nida-Rümelin: 30 Prozent!
    Schleicher: Gute Universitäten, gute Berufsausbildung und ich denke, wir sollten die jungen Menschen befähigen, möglichst viele junge Menschen in eine Lage bringen, dass sie sich selber frei entscheiden können.
    Nida-Rümelin: Ja, klar!
    Schleicher: Wir sollten auch Brücken bauen ...
    Nida-Rümelin: Aber frei entscheiden, nicht drängen in eine Richtung!
    Schleicher: Absolut sich frei entscheiden! Deswegen geben wir den jungen Menschen so viele Informationen, wie wir können. Ich denke auch, es ist wichtig, dass wir bessere Brücken bauen. Es ist eigentlich absurd im Zeitalter, in dem wir leben, dass sich heute ein junger Mensch im Alter von 16, 17, 18 Jahren entscheiden muss, entweder mache ich eine kurze praktische Ausbildung oder eine lange akademische Ausbildung. Wir müssen Brücken bauen, diese starre Trennung zwischen dualer und beruflicher Ausbildung ... Die jungen Menschen sollten sich an den Arbeitsmarktaussichten richten, an den Einkommensaussichten, an ihren Interessen orientieren, und das ist für das Land das Beste und das ist für die Menschen das Beste. Nicht an von Akademikern festgelegten Quoten für Nicht-Akademiker.
    Maleike: Andreas Schleicher war das, Bildungsexperte von der OECD, und Julian Nida-Rümelin. Über sein Buch "Der Akademisierungswahn" haben wir gesprochen vor der Sendung. Und das Buch ist bei der edition Körber-Stiftung erschienen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.