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"Aktion Reinhardt"
Deutschlands widerwillige Erinnerung

Polen plant gemeinsam mit internationalen Opferverbänden ein Museum samt Begegnungsstätte auf dem Gelände des ehemaligen NS-Vernichtungslagers Sobibór. Die Nazi-Verbrechen dort und anderswo in Polen gingen als "Aktion Reinhardt" in die Geschichte ein. Deutsche Unterstützung für den Gedenkstättenbau gibt es keine.

Von Martin Sander | 17.03.2017
    Kerzen brennen am 14.10.2013 vor der Gedenkstätte des ehemaligen Vernichtungslagers Sobibor, um an die Opfer zu erinnern, die dort im Zweiten Weltkrieg umgebracht wurden.
    Die Gedenkstätte des ehemaligen Vernichtungslagers Sobibór, wo SS-Leute ab 1942 250.000 Juden und Roma in die Gaskammern trieben. (AFP / Janek Skarzynski)
    Ein paar Häuser, ein paar Baucontainer und die Bahnstation mit dem alten Schild "Sobibór" – unweit der polnisch-ukrainischen Grenze. Von der Bahnrampe führt der Weg durch ein Waldstück in das ehemalige NS-Vernichtungslager.
    "Diese Diskrepanz zwischen der Monstrosität dessen, was an diesen Orten geschah, und dem Nichts, der Stille, der Ruhe, der fast schon Friedfertigkeit, das ist sehr frappierend", sagt die Zeithistorikerin und Holocaust-Forscherin Katrin Stoll. Sobibór bauten die Nazis nach Ende des Massenmords ab und verwischten noch vor Ankunft der Roten Armee alle Spuren.
    Als "Aktion Reinhardt" ging das Verbrechen in die Geschichte ein
    Erst seit den 60er-Jahren entstand hier ein kleiner Gedenkort. Seit Jahren plant nun Polen gemeinsam mit internationalen Opferverbänden ein großes Museum samt Begegnungsstätte, insgesamt eine komplett neue Gedenkanlage, die Rücksicht nimmt auf neue archäologische Funde. Für dieses Großvorhaben fehlt allerdings Geld. Die internationale Aufmerksamkeit ist hier viel geringer als etwa in Auschwitz, dem weltweiten Symbol des Holocaust. Dabei ermordeten die Nazis in Sobibór, Treblinka und Bełżec im Osten Polens vom Frühjahr 1942 bis zum Herbst 1943 fast zwei Millionen Juden und etwa 5.000 Roma vor allem, aber nicht nur aus Polen. Eine größere Gesamtzahl als in Auschwitz. Sobibór, Bełżec und Treblinka waren dabei, anders als Auschwitz, reine Vernichtungsstätten, ohne politische Häftlinge und fast ohne Zwangsarbeiter.
    Dieses Verbrechen ist unter dem Stichwort "Aktion Reinhardt" in die Geschichte eingegangen. Es begann mit ersten Deportationen polnischer Juden am 17. März 1942, heute vor 75 Jahren. Es sollte das perfekte Verbrechen sein. Genau deshalb baute die SS die Anlagen vor Kriegsende ab und forstete das Gelände auf. Diese Tatsache bestimmt die Erinnerungspolitik der Bundesrepublik bis heute. Weil die "Aktion Reinhardt" im Schatten von Auschwitz liegt, glaubt man, man brauche sich nicht zu engagieren, vor allem nicht finanziell.
    Opferverbände ersuchen um finanzielles Engagement
    "Man hat so ein bisschen den Eindruck, dass es ganz angenehm ist, wenn die Aktion Reinhardt nicht so bekannt ist. Weil dann muss man ja tatsächlich auch nichts ausgeben."
    Stephan Lehnstaedt ist Zeithistoriker am Touro-College in Berlin. Gerade hat er sein Buch über die "Aktion Reinhardt" vorgelegt. Er bezeichnet sie als "Kern des Holocaust". Um den machen deutsche Politiker gern einen Bogen, wenn Opferverbände oder polnische Stellen sie um finanzielles Engagement ersuchen – wie im Falle des Neubaus der Gedenkanlage von Sobibór, die alles in allem einige Millionen kosten dürfte:
    "Man hat uns gesagt, dass man bis jetzt Projekte in Sobibor mit anderen Partnern vorbereitet, also mit den Ländern, die davon betroffen waren, die dort auch Inhaftierte hatte. Da war Deutschland nicht dabei."

    So 2013 die damalige Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Cornelia Pieper. Diese Aussage ist nicht nur an sich abwegig, sondern sie trifft auch nicht zu. In Sobibór gab es Opfer aus Deutschland, ebenso wie in den anderen Lagern der "Aktion Reinhardt". Vor wenigen Wochen hat die polnische Regierung ihr Interesse an einem deutschen Engagement bestätigt. Und dennoch: Mehrfach scheiterten Anträge auf Förderung von Gedenkstätten und Holocaust-Bildungsarbeit im Blick auf die "Aktion Reinhardt" im Bundestag.
    Das Auswärtige Amt hat sich nun doch zur Unterstützung durchgerungen
    Den Forscher und Buchautor Stephan Lehnstaedt wundert das nicht:
    "Ich denke, dass die Deutschen sehr, sehr zufrieden sind mit dem, wie die Vergangenheitsbewältigung gelaufen ist. Das ist etwas, das zum neuen deutschen Nationalstolz gehört. Gern erklärt man das dann auch anderen Ländern, zum Beispiel Polen. Die sollen sich doch mal ein Vorbild nehmen an den Deutschen. Und wenn man dann genauer hinsieht, dann muss man feststellen, dass hier vieles Fassade ist."
    Immerhin: Das Auswärtige Amt hat sich in diesem Jahr des Jubiläums nun doch durchgerungen und will eine wissenschaftliche Tagung zur "Aktion Reinhardt" unterstützen – mit 50.000 Euro. Im Vergleich mit den Millionen, die für den Gedenkstättenbau und ihren Unterhalt benötigt werden, ein Tropfen auf den heißen Stein.