Remme: Herr Heidel, dieses Problem, ich habe es erwähnt, hat viele Facetten. Welcher Aspekt erscheint Ihnen am dringlichsten?
Heidel: Am dringlichsten ist es natürlich, dass wir uns zunächst einmal mit aller Kraft gegen die schlimmsten Formen von Kinderarbeit wenden. Das sind als größte Gruppe 5,7 Millionen Kinder und Jugendliche, die unter Zwangsarbeit und Schuldnerschaft leiden, die also im Wortsinne versklavt sind. Hier sind vorrangig die Anstrengungen zu bündeln. Betroffen sind hier vor allen Dingen natürlich südasiatische Länder, hier vor allem Dingen auch wieder Indien und Pakistan. Das ist auf der einen Seite sicherlich mit Vorrang durchzuführen. Auf der anderen Seite erscheint es mir aber auch notwendig, dass wir endlich zu einer Differenzierung in der Debatte über Kinderarbeit kommen, weil Kinderarbeit natürlich sehr unterschiedliche Formen und Ursachen hat und es die einfache Form von Kinderarbeit überhaupt nicht gibt. Ich glaube, dass politische Lösungsansätze auf die jeweiligen Situationen sehr maßgeschneidert gemacht werden müssen, damit sie wirklich greifen können.
Remme: Heißt differenzieren auch, dass man sie nicht einfach über den Kamm verdammt, denn wir haben zum Beispiel zu Beginn der Sendung Beispiele über Kinderarbeit in Kenia gehört. Da ging es um die Landwirtschaft und Kinder, die sagen: Ich habe keine Wahl. Ich muss meine Familie ernähren.
Heidel: Richtig. Wenn Sie zum Beispiel anschauen, dass etwas 70 Millionen Kinder zwischen fünf und 14 Jahren zwar das Übereinkommen 138 der Internationalen Arbeitsorganisation über ein Mindestalter verletzten, aber eher in der Art, dass sie zu lange oder zu häufig arbeiten, dann ist es wenig sinnvoll, im Blick auf diese Kinder, über ein Verbot nachzudenken. Dann müsste man nachdenken, wie die Arbeitsbedingungen verbessert werden können. Das gilt auch für die große Gruppe der Kinder und Jugendlichen, die gefährliche Arbeiten verrichten. Auch hier ist im Einzelfall sehr genau zu prüfen, ob es nicht sinnvoller ist, Arbeitsbedingungen zu verbessern. Hinzu kommt noch - und auch das müssten wir stärker berücksichtigen als dies bisher geschieht - dass es in vielen Ländern, angefangen von Lateinamerika, eine Bewegung arbeitender Kinder gibt, dass sich Kinder also selbst organisieren und versuchen, ihre eigenen Arbeitsbedingungen zu verbessern. Sie müssten viel stärker als bisher als Partner in den Blick kommen.
Remme: Es ist dies zwar nun der erste weltweite Aktionstag dieser Art, aber die Bemühungen der ILO sind ja vermutliche viel, viel älter. Hat man bereits erste Erfolge erzielt?
Heidel: Das ist schwer zu sagen. Natürlich sind die Bemühungen der ILO sehr alt. Sie reichen zurück bis in die 70er Jahre. Die Intensivierung begann Anfang der 90er und in ihrem großen Bericht über Kinderarbeit, den die ILO jetzt gerade heute in Genf diskutieren wird, geht sie davon aus, dass die Programme der ILO bereits in einigen Ländern erste Erfolge gezeigt haben. Unbestreitbar ist, dass noch vor zehn Jahren Länder wie etwa Bangladesh, Pakistan oder Indien geleugnet haben, ein Problem mit Kinderarbeit zu haben. Das ist heute vorbei. Das Problem ist in der Öffentlichkeit breit diskutiert, ist Gegenstand politischer Initiativen, und es gibt sicherlich viele Beispiele, wo im kleinräumigen Bereich durchaus beachtenswerte Fortschritte erzielt worden sind.
Remme: Ist Kinderarbeit ausschließlich ein Problem der sogenannten Entwicklungsländer?
Heidel: Es hängt davon ab, was sie unter Kinderarbeit verstehen: Wenn Sie den Begriff breit meinen, dann haben Sie natürlich auch in den Industrieländern Kinderarbeit, teilweise auch illegale Kinderarbeit. In Deutschland etwa arbeiten Kinder länger als sie gesetzlich dürfen. Das können Sie aber natürlich in keiner Weise vergleichen mit einem sechsjährigen Jungen zum Beispiel, der versklavt in Ziegeleien in Indien arbeitet. Wir haben schlimmere Formen von Kinderarbeit, teilweise in Südeuropa, in Portugal, aber die portugiesische Regierung ist hier sehr engagiert. Wir haben sie in Süditalien. Hier ist die Regierung wesentlich weniger engagiert. Und wir haben sie als neues, schweres Problem in osteuropäischen Staaten und in den Staaten der früheren Sowjetunion. Dort vor allen Dingen in der Form von Sklaven, in Form von Straßenkindern, die teilweise unter schon sehr gefährlichen Bedingungen leben.
Remme: Herr Heidel, was tut die deutsche Politik, um diesen schlimmsten Ausformungen von Kinderarbeit zu begegnen?
Heidel: Zunächst muss man betonen, dass Deutschland 1992 das internationale Programm der Internationalen Arbeitsorganisation gegen Kinderarbeit erstmals finanzierte und damit anregte. Und es gibt sicher im Programmbereich eine Menge Initiativen, die von der Bundesregierung durchgeführt werden. Die deutschen Nichtregierungsorganisationen sind aber der Meinung, dass dies nicht reicht. Wir meinen, dass wir mit Blick auf die Bekämpfung schlimmster Formen von Kinderarbeit eine Umkehr in der Entwicklungszusammenarbeit brauchen. Wir brauchen mehr Geld für Projekte als dies bisher der Fall ist. Wir brauchen vor allen Dingen eine kohärente Politik der Armutsbekämpfung, die stärker als bisher die Belange von Kindern und Jugendlichen berücksichtigt. Was wir auch bräuchten wäre eine Initiative zur Reform der Internationalen Arbeitsorganisation, denn sie ist bisher sehr stark auf die formelle Ökonomie, auf die formelle Wirtschaft, konzentriert. Kinderarbeit in ihren schlimmsten Formen findet sich aber in der informellen Wirtschaft.
Remme: Soweit die Forderungen an die Politik. Was kann denn jeder Einzelne von uns tun, also der Konsument, um Kinderarbeiten zu begegnen?
Heidel: Es ist natürlich so, dass ein ganz kleiner Teil der Kinderarbeit - man schätzt etwa fünf Prozent - mit der Exportproduktion zusammenhängt. Diese Kinderarbeit hat also unmittelbar mit Waren, die bei uns in die Geschäfte kommen, zu tun. Bekannt ist das Beispiel der Teppiche oder der Orangensaft oder die Fußbälle. Hier wäre es schon sinnvoll, wenn die Verbraucherinnen und Verbraucher entsprechende Produkte, die ja mittlerweile entsprechende Warenzeichen tragen, nachfragen.
Remme: Aber es ist ein kleiner Teil, sagen Sie, das heißt, wir sind relativ machtlos?
Heidel: Richtig. Deswegen denke ich, ist es auch ganz wichtig, dass wir als Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeiten nutzen, die wir jetzt im Wahlkampf haben, von der Politik eine Unterstützung von Armutsbekämpfung zu fordern. Wir beobachten mit Sorge, dass, auch angesichts knapper Kassen der öffentlichen Haushalte, die Mittel für Entwicklungszusammenarbeit immer weiter zusammengestrichen werden. Wenn sie ernsthaft gegen dieses Problem vorgehen, brauchen Sie eine neue Mobilisierung, und das wird nur dann gehen, wenn die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land auch deutlich sagen: Ja, wir wollen, dass etwas gegen die Ausbeutung von Kindern getan wird.
Remme: Vielen Dank. Das war Klaus Heidel vom Forum Kinderarbeit zum ersten weltweiten Aktionstag gegen die Kinderarbeit.
Link: Interview als RealAudio