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Aktivistin Dalia Severin
Zivile Hilfe für die ukrainische Armee

Dalia Severin hätte ein angenehmes Leben haben können. Stattdessen kündigte die Anfang Dreißigjährige im Juni 2014 ihren gut bezahlten Job als Rechts- und Immobilienexpertin und gründete eine Freiwilligengruppe zur Unterstützung der ukrainischen Armee. Ihre Begründung: "Ich kann kein ruhiges Leben mehr führen, wenn mein Land brennt."

Von Roman Goncharenko | 01.06.2015
    Die ukrainische Aktivistin Dalia Severin
    Die ukrainische Aktivistin Dalia Severin (Roman Goncharenko)
    Ein graues mehrstöckiges Haus in der Stadtmitte von Odessa. Ein Polizist mit einer Kalaschnikow bewacht die Treppe, die in ein Kellergeschoss führt. Hinter der Tür sitzt ein weiterer Polizist auf einem Sofa. Hier, versteckt in einem ehemaligen Café, arbeitet Dalia Severin, eine rundliche Frau Anfang 30. Sie ist die Gründerin und Leiterin einer Gruppe freiwilliger Helfer der ukrainischen Armee. "Dalia Severin und ihre Hundertschaft" nennen sie sich.
    Wie tausende ihrer Landsleute sammelt Dalia Severin Spenden und schickt Hilfspakete für die Soldaten, die im Osten des Landes gegen prorussische Separatisten kämpfen. Doch anders als viele andere braucht sie Polizeischutz. Denn die latent prorussische Stimmung in Odessa, der südukrainischen Hafenstadt am Schwarzen Meer, ist stark. In kaum einer anderen Stadt gab es im vergangenen Jahr so viele Anschläge auf Büros proukrainischer Aktivisten, wie hier. Dalia Severin war eine der ersten Betroffenen.
    "Wenn man nachts angerufen wird und erfährt, dass sein Büro mit Molotowcocktails beworfen wurde, macht es einem Angst. Das erste Mal war im vergangenen Herbst. Ich hatte solche Angst wie noch nie in meinem Leben."
    "Ich kann nicht anders"
    Dalia Severin hatte Glück. Jemand hat die Brandstifter verscheucht, niemand wurde verletzt und es gab keinen großen Schaden. Im Winter folgte ein zweiter Anschlag, mit einer Bombe. Auch diesmal blieb es bei Sachschaden. Doch im Frühjahr wurde der Bruder der Aktivistin, auch ein Volontär, in Odessa von einem Unbekannten in seinem Haus erschossen. Die Ermittlungen dauern noch an. Dalia Severin schließt einen Zusammenhang zwischen diesem Mord und ihrem Einsatz als Volontärin nicht aus. Warum sie trotz Gefahr für das eigene Leben weitermacht? Sie denkt nach.
    "Ich kann nicht anders. Wenn Soldaten anrufen und sagen, sie hätten nichts zu essen, kann ich nicht Nein sagen."
    So schlimm wie es sich anhört, sei es inzwischen nicht mehr, sagt Dalia Severin und lacht. Die größte Not habe die ukrainische Armee überstanden. Bald ist es genau ein Jahr her, dass die junge Frau ihren gut bezahlten Job als Rechts- und Immobilienexpertin aufgegeben hat, um sich freiwillig um die Bedürfnisse der Armee zu kümmern. Sie erinnert sich bis heute an den genauen Tag.
    "Es war in der Nacht zum 24. Juni 2014. Ich habe plötzlich begriffen, dass ich kein eigenes Leben mehr führen kann, wenn mein Land brennt. In jener Nacht habe ich im Internet die blutüberströmten Beine eines Soldaten gesehen. Es war ein ganz normales Bild von der Front."
    Es sei klar gewesen, dass dieser Soldat sofort medizinische Hilfe brauchte und sie offenbar nicht bekam. Da beschloss Dalia Severin, eine Freiwilligengruppe zu gründen, um der Armee zu helfen.
    "Am Anfang waren wir fünf Frauen, die einander nicht kannten. Wir haben eine Sockensammelaktion ausgerufen. Jeder sollte so viele Paar Socken bringen, wie er oder sie kann – zwei, zehn oder 150. In jedes Sockenpaar haben wir einen handgeschriebenen Zettel eingelegt.
    Darauf standen ermutigende Worte, die Überschrift „Hundertschaft von Dalia Severin" und unsere Telefonnummer. Und Soldaten fingen an, uns anzurufen. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass man für gewöhnliche Socken so dankbar sein kann! Danach haben wir T-Shirts, Hygieneartikel, Schokoladentafeln, Kekse und süße Riegel verschickt."
    Wirtschaftskrise erschwert Hilfe
    Ein Jahr später zieht sie stolz Bilanz. Mehr als 700 Frauen aus Odessa machen inzwischen mit. Rund 47.000 Hilfspakete sind an mehr als 10.000 ukrainische Soldaten verschickt worden. Sie alle haben Dalia Severins Telefonnummer und rufen sogar nachts an, um sich zu bedanken. Verschickt wird immer per Post und immer direkt an die Soldaten. Sonst drohe Diebstahl.
    "Einmal ging unsere Sendung verloren. Das war, als wir entschieden hatten, die Armeeführung mit einzubeziehen. 25 Sets Thermounterwäsche nach NATO-Standard sind spurlos verschwunden. Unsere Jungs haben nichts bekommen. Es war das erste und das letzte Mal."
    Außer der Sorge um die eigene Sicherheit und die ihrer Familie trübt nur eins derzeit die Stimmung von Dalia Severin. Die Bereitschaft der Bewohner von Odessa für die Armee zu spenden sei dramatisch gesunken, um bis zu 70 Prozent. Das bestätigen Volontäre in anderen Teilen der Ukraine. Die immer tiefere wirtschaftliche Krise in der Ukraine ist auch bei den freiwilligen Armeehelfern angekommen.