Samstag, 20. April 2024

Archiv

Aktuelle Fantasy-Literatur
Mehr als nur Weltflucht

Waren es früher Märchen, in denen Drachen, Hexen und andere fantastische Wesen zum Leben erwachten, ist das heute häufig die Fantasy-Literatur. Wie vielgestaltig dieses Genre auch im Kinder- und Jugendbuchbereich ist, zeigen wir in diesem Überblick über einige aktuelle Neuerscheinungen.

Von Christoph Ohrem | 18.07.2020
4 Cover aktueller Fantasy-Literatur für Kinder und Jugendliche
Aktuelle Fantasy-Literatur für Kinder und Jugendliche (Cover Verlag Freies Geistesleben, Loewe, Fischer, Hanser)
Was macht Fantasy eigentlich zur Fantasy? Das Metzler Literaturlexikon definiert sie als

"moderne Abart der fantastischen Literatur. Enthält Elemente aller Literaturen, in denen Abenteuer, Übersinnliches und Mythisches eine Rolle spielen: Heldenepos, Aventiure, Ritter- und Räuberromane, Voyages Imaginaires, Gothic Novel, Märchen, Sage, Lügendichtung und andere".

Ursprung für diese Abart, wie es dort so schön heißt, ist Tolkiens "Der Herr der Ringe". Die Geschichte, die vor einigen Jahren im Kino bombastische Erfolge feierte, kam Ende der 60er-Jahre in einer ersten Übersetzung auf den deutschen Markt. "Der Herr der Ringe" wurde ein Klassiker, an dessen Erfolg Verlage bis heute anzuknüpfen versuchen. So sind die Kataloge der Kinder- und Jugendbuchverlage auch dieses Jahr wieder gut gefüllt mit Fantasy-Titeln. Manche Verlage betonen die Zugehörigkeit der Titel zu diesem Genre, haben vielleicht sogar Imprints, die sich darauf spezialisieren. Andere wiederum lassen diese Bücher einfach regulär in ihrem Programm mitlaufen.
Die Genregrenzen sind fließend
Die Genregrenzen sind ohnehin fließend, da besonders Kinder- und Jugendbücher viel Fantasievolles enthalten. Ist Pippi Langstrumpf schon Fantasy? Michael Endes "Unendliche Geschichte" ist es ganz bestimmt. Dabei will dieses vielschichtige Buch gar nicht so recht passen zu dem Klischee der rein handlungsbasierten Schmöker, wie sie etwa Wolfgang Hohlbein seit den 80er-Jahren höchst erfolgreich veröffentlicht. Bücher, die in kaum zwei Monaten entstehen und denen man die Schreibgeschwindigkeit durchaus sprachlich und inhaltlich anmerkt. Die Belletristik-Autorin Katharina Hartwell hat bei ihrem Wechsel ins Fantasy-Jugendbuchfach beobachtet,

"dass es da ganz viele Annahmen gibt, und das ist auch, dass Fantasy in jedem Fall auch immer unpolitisch ist, gesellschaftlich irrelevant und literarisch nicht anspruchsvoll. Ich habe das Gefühl, dass da in Deutschland noch sehr viele dieser Annahmen kursieren. Und ich finde es sehr schwer, dem gegenüberzutreten."

Diese Vorurteile dürften Gründe sein, warum Fantasy im gehobenen Feuilleton oft ignoriert wird. Zu den Klischees gehört auch, dass im Erwachsenenbereich häufig männliche Schriftsteller – oder männliche Pseudonyme – die Verkaufslisten anführen. Wohl nicht zufällig hat sich J. K. Rowling als Autorin von "Harry Potter" - das Buch brauchte ja auch seine Zeit, um zum Bestseller zu werden - zunächst nicht eindeutig als weiblich zu erkennen gegeben. Fantasy als Männersache?

"Das war schon Thema. Das fand ich ganz interessant."
Katharina Hartwell: "Die Silbermeer-Saga"
Katharina Hartwell hat mit "Der König der Krähen" im Frühjahr den ersten Band ihrer "Silbermeer-Saga" vorgelegt.
"Als das Manuskript angeboten wurde, sagte ein Lektor danach, er fände es sehr schön oder begrüßenswert oder mutig – ich kann mich nicht genau erinnern –, dass auch eine Frau Fantasy schreibt."

Nun gibt es gerade im Jugendbuchbereich inzwischen zahlreiche Autorinnen, die starke Protagonistinnen erschaffen. Die wohl beliebteste noch laufende Serie der letzten Jahre ist "Die Tribute von Panem". Eine Reihe, die bei Jugendlichen und Erwachsenen gleichermaßen beliebt ist und auch im Kino große Erfolge feiert. Beim Prequel-Band "Das Lied von Vogel und Schlange" wurde Monate vor dem Erscheinungstermin am 19. Mai das Cover veröffentlicht. Das sollte die Fans der Reihe animieren, auf allen Kanälen der sozialen Medien darüber zu diskutieren, ob das Cover gelungen war und was es wohl über die Geschichte verrate. Solch eine PR-Aktion erzeugt kostenlose digitale Mund-zu-Mund-Propaganda. Der Roman "König der Krähen" ist der High Fantasy zuzurechnen, das heißt: Die Welt, in der sich die Handlung vollzieht, ist vollständig ausgedacht und mit fantastischen Wesen bevölkert.
Heldin der "Silbermeer-Saga" ist die 16-jährige Edda. Sie lebt mit ihrem Bruder bei ihrem Stiefvater in dem kleinen Dorf Colm an der Küste der Silbersee. Die Männer fahren zur See, die Frauen verarbeiten den Fang. Ein hartes und entbehrungsreiches Leben. Seit einigen Jahren lastet ein Fluch auf Colm. Jedes Jahr verschwindet ein Kind am Ende der Kaltzeit, so heißt in dieser Welt der Winter, spurlos aus dem Dorf. Deshalb ist Edda beunruhigt, als sie und ihr Bruder Tobin von dunklen Träumen geplagt werden.
",Träumst du in letzter Zeit wieder?'
Er nickte. ,Von einem Vogel.'
,Einem Vogel?'
‚Einem Mensch, der eine Krähe ist. Er trägt ein Hemd aus Federn und hat keine Arme, sondern Schwingen. Und keinen Mund, sondern einen schwarzen Schnabel. Aber sprechen kann er. Und singen. Und einen anschauen wie ein Mensch.'
Aber das ist mein Traum, dachte Edda.
‚Was geschieht in dem Traum?'
‚Der Krähenmann bringt mich fort.'"
Reise ins Unbekannte
Eines Tages ist Tobin verschwunden. Eine schwarze Feder, die in seiner Kammer neben dem offenen Fenster liegt, liefert die einzige Spur. Steckt etwa der König der Krähen dahinter, von dem die Dorfhexe gemunkelt hat? Edda packt ihre wenigen Habseligkeiten zusammen und schließt sich schweren Herzens dem zwielichtigen Reisenden Brand an. Mit ihm bricht sie ins Inselreich auf, um nach ihrem Bruder zu suchen. Die Reise ins Unbekannte ist eines der häufigsten Fantasy-Motive.

"Er löste den Knoten, stemmte den Fuß gegen die hölzerne Kante des Stegs und stieß sich ab. Sie glitten, sie trieben fort vom Ufer. Sie sah auf ihre Füße hinab, sah den Boden unter ihren Füßen. Kaum mehr als eine Handbreit Holz trennte sie von der Silbersee, dem stillen Reich, das sich meilentief unter ihr erstreckte, das Farben, Licht, Laute und Luft nicht kannte und für Menschen nichts anderes bereithielt als einen stummen Tod. Das Boot schaukelte, und Edda schaukelte mit ihm. Der Mond hatte eine verschwommen weiße Straße in die dunkle See gezeichnet, doch vom Inselreich selbst war nichts zu sehen. Verborgen wie ein Schatz oder ein Ungeheuer lag es in der Finsternis und wartete auf Edda."

Erzählton und Tempo des Romans sind eher ruhig und stärker durch eine mystische Atmosphäre als durch Action und Säbelrasseln bestimmt. Dass sich junge Frauen auf den Weg machen, um Abenteuer zu erleben, ist in der High Fantasy eher selten, bestätigt Katharina Hartwell:

"Gerade in der Fantasy gibt es immer noch eine sehr starke Aufteilung. Ich glaube, dass das auch durch so etwas wie die Romantasy – das war mir eigentlich gar kein Begriff, bis ich selbst angefangen habe, Jugendbuch zu schreiben –, das ist zum Beispiel so ein Gebiet, das vor allen Dingen weiblich konnotiert ist oder für die Leserinnen interessant ist. Die Fantasybücher, die primär für Jungen geschrieben sind, das sind Abenteuergeschichten, in denen Jungen oder junge Männer irgendetwas erleben, und nebenbei verlieben sie sich vielleicht auch noch. Die Fantasygeschichten für Mädchen oder Frauen sind, glaube ich, oft Geschichten, in denen sich Mädchen und junge Frauen verlieben, und wenn sie Glück haben, dann erleben sie zwischendurch oder nebenbei auch noch irgendetwas Unheimliches, Aufregendes. Das finde ich schwierig."
Katharina Hartwell gelingt es, mit dem ersten Band der "Silbermeer"-Saga ein Leseangebot an Jungen wie Mädchen und auch, durch den melancholischen Stil und die detailreiche Ausgestaltung dieses Romans, an Fantasy begeisterte Erwachsene zu machen.
Frances Hardinge: "Schattengeister"
Auch die britische Autorin Frances Hardinge wird mit "Schattengeister" solche Leser gewinnen können. Wobei sie die Handlung, anders als in der High Fantasy, in reale historische Ereignisse und Orte einbettet. "Schattengeister" ist ein fantastischer Historienroman, der im England des 17. Jahrhunderts spielt. Das ist ein konkreteres Setting als bei vielen anderen Fantasy-Romanen, die eher in unbestimmten, an das europäische Mittelalter angelehnten Welten spielen.
Makepeace heißt die junge Heldin, die durch ihre ganz besondere Gabe mitten hineingerät in den Bürgerkrieg zwischen den Royalisten um König Charles I. und den Rebellen, die seine Absetzung fordern. Makepeace kann Geister von Verstorbenen sehen, und wenn sie nicht vorsichtig ist, ergreifen die Geister von ihr Besitz. Ihre Mutter hat ihr beigebracht, sich davor zu schützen. Als diese aber bei einem Scharmützel zwischen Royalisten und Rebellen erschossen wird, ist Makepeace auf sich gestellt. Nach kurzer Zeit wird sie von der adeligen Familie ihrer väterlichen Vorfahren aufgegriffen, auf deren Anwesen gebracht und in ein Turmzimmer gesperrt. Dort bemerkt sie, dass sie nicht mehr allein ist, denn scheinbar ganz ohne ihr Zutun kratzt sie sich die Finger an der Zellenwand blutig.

"Aufhören!, rief sie sich selbst zu. Aufhören! Was mache ich denn da?
Und da traf sie die Wahrheit wie eine Sternschnuppe.
O Gott. O Gott im Himmel. Ich bin ja so dumm.
Natürlich konnte der Bär nach Grizehayes gelangen. Natürlich ist er hier.
Er ist in mir.
Ein blinder, wütender, verzweifelter Geist war in ihrem Innern. Ihre schlimmste Angst war Realität geworden. Und jetzt würde Bär in ihr herumstolpern und ihren eigenen Geist in Stücke schlagen. Er würde sie verletzen und ihren Körper zerschmettern in seinem irrsinnigen Verlangen, aus dem Turmzimmer zu entkommen. Hör auf!"
Bär als Mitbewohner
Makepeace hatte den Geist des Bären eigentlich erlösen und nicht in sich einlassen wollen. Sie schafft es, das wilde Tier zu beruhigen und freundet sich sogar mit ihrem neuen Mitbewohner an. Soweit man sich mit einem Bären eben anfreunden kann. Bisweilen kann sie seine Wut und seine tierischen Instinkte sogar sehr gut brauchen, um ihre Abenteuer zu bestehen.
Der reale historische Hintergrund, vor dem Hardinge ihre Geschichte ablaufen lässt, vermittelt ein Gefühl für die Lebenswelt des 17. Jahrhunderts. Zudem werden der Religionskonflikt zwischen Protestanten und Katholiken und die politische Auseinandersetzung zwischen Charles I., der absolutistisch herrschen möchte, und dem Parlament angedeutet. Die originelle Geschichte und die Einbettung in diesen historischen Kontext machen "Schattengeister", nicht zuletzt durch die sehr gelungene Übersetzung von Alexandra Ernst, zu einem außergewöhnlichen Fantasy-Roman für junge Erwachsene. Niveauvolle Spannungsliteratur, die auch historisches Interesse wecken kann.
Ali Sparkes: "Die Nachtflüsterer"
An deutlich jüngere Leserinnen und Leser richtet sich die Reihe "Die Nachtflüsterer" der britischen Autorin Ali Sparkes. Mit "Die Verschwörung", Leseempfehlung ab zehn Jahren, erschien in diesem Frühjahr der dritte Band. Wie auch in den beiden Bänden zuvor erleben Elena, Matt und Tima nachts spannende Abenteuer. Da diese aus wechselnden Perspektiven geschildert werden, aus der jeweils ganz eigenen Sicht der drei Helden, können sich sowohl Jungen wie Mädchen mit der Geschichte identifizieren. Timas Mutter findet, dass ihre Tochter zu ernst sei.

",Du solltest wirklich einfach elf Jahre alt sein', fuhr Mum fort. ,Hab Spaß! Nimm das Leben nicht so ernst!'
,Ich habe doch Spaß', entgegnete Tima. ,Es ist nur so, dass ich hin und wieder den Planeten retten muss.'
Ihre Mutter lachte. Auch Tima lachte, obwohl es nichts als die reine Wahrheit war. In den letzten Monaten hatten sie Elena und Matt gemeinsam mit ihren Insekten und Spinnentierfreunden die Stadt Thornley und sehr wahrscheinlich sogar den gesamten Planeten Erde gerettet. Und das gleich zweimal. Manchmal fiel es ihr extrem schwer, Mum nichts von all dem zu erzählen."

Damit wären wir im Bereich der Tierfantasy, die sich zunehmender Beliebtheit erfreut. Den größten Erfolg hat in den letzten Jahren wohl die Buchreihe "Die Wildhexe" gefeiert, die auch verfilmt worden ist. In "Die Nachtflüsterer" ist der Anteil an klassischer Hexerei geringer, die Reihe ist eher eine Mischung aus Tierfantasy und Abenteuerroman. Tima ist mit Insekten und Spinnen befreundet, Elena steht eine Füchsin treu zur Seite, und Matt hat ein besonderes Verhältnis zu Vögeln. Jede Nacht treffen sie sich in ihrem geheimen Baumhaus. Ali Sparkes dritter "Nachtflüsterer"-Band überzeugt wie die Vorgänger durch eine stimmige und lebensnahe Zeichnung der Charaktere und weist trotz eines eher langsamen Erzähltempos durchaus Spannungselemente auf. Die multiperspektivische Erzählweise sorgt dafür, dass für alle kindlichen Leser eine Identifikationsfigur dabei sein müsste.
Tierfantasy kann auch bedeuten, dass Tiere die Hauptfiguren der Handlung bilden und Menschen gar nicht vorkommen. Etwa bei den Geschichten aus dem magischen Dschungel "Caldera" von Eliot Schrefer. Hier sind Panther, Frösche oder Ameisen die Handelnden der magischen Abenteuer – diese Anthropomorphisierungen sind ja auch im nicht-Fantasy-Kinderbuch beliebt.
Stefanie Gerstenberger: "Die Wunderfabrik"
Magie ist das Stichwort, das zu einem weiteren wichtigen Bereich der Fantasy führt, den Hexengeschichten. Mit Stefanie Gerstenbergers "Die Wunderfabrik" ist eine neue Kinderbuch-Reihe gestartet. Hier wird Hexerei einmal auf ungewöhnlich süßliche Art und Weise aufgegriffen, und das ganz ohne märchenhaften Zauberwald oder schwarze Katzen. Alles beginnt wie in einem ganz gewöhnlichen Ferienroman. Die zwölfjährige Winnie soll zusammen mit ihrer älteren, pubertierenden Schwester Cecilia und ihrem kleinen Bruder Henry drei Wochen bei den Großeltern, ihres Zeichens Lakritzfabrikanten, in einem Landhaus an der Küste verbringen. Doch sind die Großeltern zunächst ziemlich bärbeißig, als die Eltern die Geschwister dort lassen, um sich botanischen Studien im brasilianischen Regenwald zu widmen.

",Kinder sollten nicht flüstern', sagte Grandma und nahm sie mit ihren Katzenaugen ins Visier. ‚Und in den zweiten Stock sollten Kinder auch nicht, da ist alles abgesperrt.'
‚Warum?' Mums Augenbrauen zogen sich alarmiert nach oben.
‚Wegen…' Die Blicke ihrer Großeltern trafen sich.
‚… wegen der Einbruchgefahr!' Grandpa nickte.
‚Ihr habt Einbrecher hier?'
‚Nein, nein. Die Böden, weißt du?' Er schaute an die Decke, als ob dort jeden Moment jemand hindurchbrechen könnte."

Verbote über Verbote. Und eines sinnloser als das andere. Was hat es bloß mit diesem zweiten Stock auf sich? Und warum sind die Großeltern so streng? Zu allem Überfluss müssen die drei jetzt auch noch ihrem Großvater dabei helfen, Lakritz zu machen. Allerdings keine Leckereien, sondern nur eklig schmeckendes gesundes Lakritz. Als der Großvater sie einmal in dem Schuppen alleinlässt, in dem er die Masse anrührt, beginnt Winnie, das Rezept kreativ zu erweitern. Mit erstaunlichen Folgen. Alle, die von diesen Lakritz naschen, empfinden plötzlich genau die Gefühle, die Winnie beim Zubereiten hatte. Glück, Hoffnung, Liebe oder eine der vielen anderen Emotionen, die ein Mensch haben kann.
Ein emotionales Kinderbuch
"Die Wunderfabrik" ist ein erfrischend emotionales Kinderbuch. Es geht darum, sich mit seinen Empfindungen auseinanderzusetzen. Auch wenn Winnie sich erst auf der Schwelle zur Pubertät befindet, klopfen die übermächtig erscheinenden Stimmungsschwankungen bereits bei ihr an.

"Neuerdings hatte sie manchmal zu viele Gefühle in sich, die alle zu unpassender Zeit aus ihr herauswollten. Die plötzliche Traurigkeit, wenn alle lustig waren, die riesige Wut, wenn sie in Ruhe etwas basteln wollte und es nicht hinbekam. Das tiefe Mitleid, wenn sie Kinder im Fernsehen sah, die zwischen Trümmern ihrer Häuser saßen und ganz starr vor Angst waren. Drei Tage später beim Frühstück musste Winnie manchmal darüber weinen, und niemand wusste dann, warum."

Literarisch überzeugt "Die Wunderfabrik" neben der einfühlsamen Beschreibung Winnies durch grafisch abgehobene Einschübe, in denen man zum Beispiel die Großeltern bei verschwörerischen Unterhaltungen belauscht, die natürlich nur dazu dienen, die Kinder vor Bösem zu bewahren. Das Übernatürliche bricht in diese Welt ein, und Winnie entdeckt, dass sie über ganz besondere Fähigkeiten verfügt. Sie ist auserwählt, außergewöhnliche Abenteuer zu bestehen. Dies ist ein in allen Fantasygenres sehr verbreitetes Motiv.
Benjamin Lebert: "Im Zeichen der Acht"
Bei Weitem nicht so harmlos wie die bislang vorgestellten Geschichten geht es bei "Im Zeichen der Acht" zu. Dieses Buch wendet sich an deutlich ältere Leserinnen und Leser. Benjamin Lebert, vielen noch bekannt durch sein Debüt "Crazy" und die dazugehörige Verfilmung, hat sich 20 Jahre nach diesem Erfolg wieder dem Jugendbuch zugewandt. Er hat "Im Zeichen der Acht" mit so viel Fantastik und Spannung gewürzt, dass er zum Fantasy-Genre gezählt werden darf.
Im Mittelpunkt der Geschichte stehen Tristan Nachtweih und Martha von Falkenstein. Die beiden erlebten den letzten Kreuzzug und erwachen nun in unserer Zeit erneut zum Leben, um in der Kulisse von Freiburg ein Team von acht Kämpferinnen und Kämpfern um sich zu sammeln, die teilhaben werden an der entscheidenden Schlacht um das Schicksal der Erde. Tristan Nachtweih ist aus den Tiefen eines Sees emporgestiegen. Um seine Stärke wiederzuerlangen, wird er zum Kannibalen. Er nährt sich von einem Liebespaar, das sich an den See zurückgezogen hatte, um intim zu werden.

"Eine Nacht und ein halber Tag waren nun hier am See verstrichen. Das Blut und Fleisch der beiden jungen Menschen hatte ihn genährt. Er spürte, wie seine Kraft zurückkehrte. Lebenskraft. Wie innere Ströme entstanden, die ihn versorgten. Wie sich Sehnen und Nerven verbanden, in diesem Körper, in dem ein zorniger Wille herrschte, der auf ein einziges unauslöschliches Ziel ausgerichtet war. Und aus dem Inneren des Körpers drang der Name hervor auf seine Zunge. Der Name, der über so viele Jahre versunken gewesen war. Ein Name der Dunkelheit: Nachtweih. Tristan Nachtweih.
[…] Tristan wusste, dass auch sie bereits zurückgekehrt war. [...] Er würde sie bald finden. Er kannte seine Aufgabe."
Unheimliche Begegnungen im Wald
Tristan Nachtweih steht für das Prinzip des Bösen. Seine Gegenspielerin Martha von Falkenstein, die er bereits spürt, ohne dass es schon zum Showdown käme, steht für das Gute. In kurzen Kapiteln mit vielen Perspektivwechseln, Vorausdeutungen und Cliffhangern erzeugt Benjamin Lebert ein rasantes Erzähltempo, bei dem er selten entschleunigt. Atmosphärisch dicht schildert er unheimliche Begegnungen im Wald, und in einer teils sehr poetischen Sprache lässt er die Leser an der Gefühlswelt der Protagonisten teilhaben. Neben den beiden Kontrahenten führt Lebert ein Ensemble aus jugendlichen Figuren ein, die sich aus ihrem zumeist problematischen Alltag losreißen und entscheiden müssen, welcher der beiden Seiten sie sich zuwenden. So etwa Daniel, den Martha von Falkenstein für ihr Team auserkoren hat:
",Martha von Falkenstein – die Frau, die ich einst gewesen bin – war lange tot, aber sie ist zurückgekehrt. Ich bin wieder Mensch geworden. Mit allen Mängeln. Aller Verwundbarkeit. Ich kann aufs Neue sterben. Sterben ganz genauso wie du. Dafür besitze ich einige besondere Fähigkeiten. Eine Art sechster Sinn, wenn du so willst. Zum Beispiel kann ich fühlen, dass du gerade kurz davon bist, dir vor Angst in die Hosen zu machen.'
‚Dafür braucht's gar keinen sechsten Sinn', sagte Daniel. Zaghaft erwiderte er ihr Lächeln.
‚Aber ich nehme noch etwas anderes in dir wahr', sagte Martha. ‚Die Kraft, die in dir steckt. Mit der du dich tapfer gegen all die Angst zur Wehr setzt.'"

Die Jugendlichen werden mit dem metaphysischen Kampf zwischen Gut und Böse konfrontiert. Ihre Realität wird durchbrochen, und eine andere Realität, etwas Fantastisches, hält Einzug. Urban Fantasy nennt sich diese Spielart, in der übernatürliche Wesen in eine nicht-fiktive städtische Welt einbrechen. Auch wenn Freiburg sicherlich eine eher beschauliche Stadt ist. In der Urban Fantasy hängen sonst gern auch einmal Vampire mit anderen Fantasiewesen in Film Noir Manier in geheimen Großstadtbars ab. Denn die Normalpersonen wissen meist nichts von dem Übernatürlichen. So auch hier. Die Kämpferinnen und Kämpfer müssen erst eingeweiht werden.
Drastische Schilderungen
Benjamin Lebert wählt in "Im Zeichen der Acht" für die häufigen Kampfszenen durchaus drastische Schilderungen. So spritzt nicht selten Blut, da wird auch einmal ein Kopf oder anderes Körperteil abgetrennt.

"Ich habe dieses Mittel genutzt, um auch die Dunkelheit, die in den Teenagern selbst liegt, darzustellen, in Form von dieser Brutalität, die da stattfindet. Es soll etwas über die Teenager in unserer Zeit aussagen mit den Mitteln der Märchenwelten, dem tiefen, tiefen Wald, wo das Böse lauert, aber gleichzeitig auch das Befreiende,"

…sagt Benjamin Lebert. Bei den Kampfszenen wird bisweilen auch eine Anime-Tradition aufgerufen, die sich aus der japanischen Comic-Tradition stammend in die Fantasystilmittel eingereiht hat. Die Kombattanten tragen stylische Anzüge und durchlaufen eine magische Transformation. Auch Bücher für ganz junge Leser versuchen etwa durch Ninja-Geschichten Leser zu finden, den Transfer vom Bildschirm oder Comicheft zum Buch zu leisten.
"Im Zeichen der Acht" ist durch die explizite Darstellung von Gewalt und einen bisweilen fast lyrischen Schreibstil kein Roman für zartbesaitete oder ganz junge oder unerfahrene Leser. Ein Buch, das nicht direkt auf eine Zielgruppe hin geschrieben worden ist. Trotz dieser Offenheit und der Brutalität sieht es Benjamin Lebert selbst als Jugendbuch an:

"Ich finde es immer ein bisschen merkwürdig, dass die Jugendbücher, die momentan zu finden sind, die machen für mich ein wenig den Eindruck, als wären sie sonderbar bieder und als würde man die Jugendlichen bevormunden, indem man sagt: Dieses oder jenes moralische Empfinden möchte ich ihnen angedeihen lassen, und ich möchte sie beschützen vor Gewalt. Das möchte ich nicht tun. Jugend ist vor allem geprägt von Zorn."
"Im Zeichen der Acht" besticht durch eine wertungsfreie und ungeschönte Darstellung des Innenlebens der Figuren bei ihrem Kampf um das Schicksal der Welt. Ein wenig mehr Raum hätten die inneren Konflikte neben der Actionhandlung allerdings haben dürfen.
Verschiedenartige und lebendige Literatur
Die gesamte Bandbreite der Fantasy auch nur näherungsweise in einer Sendung abzubilden, ist eine herkulische Aufgabe, an der man nur scheitern kann. Dieser kleine, aktuelle Überblick zeigt aber, dass die Fantasy im Kinder- und Jugendbuchbereich sehr verschiedenartig und lebendig ist und sich eben nicht nur im schnell hingetippten Schmöker erschöpft. Für Benjamin Lebert ist der Weltfluchtcharakter gerade der Fantasyliteratur kein Manko:

"Natürlich ist Fantasyliteratur auch immens spannend. Es ist schöner, sich mit Drachen auseinanderzusetzen als mit einem blöden Kerl, der einen hänselt, oder dem Chef in der Redaktion, der irgendwie will, dass man schnell ein Radiofeature macht. Ich glaube, dass die Hoffnung und der Gedanke an Flucht vieles aushalten lässt im Leben."

Fantasyliteratur im Kinder- und Jugendbuchbereich ist weit mehr als bloße Spannungsliteratur. Auch in der Genreliteratur lassen sich große Themen und einfühlsame Figurenentwicklungen finden. Sich mit den Heldinnen und Helden zu identifizieren, die sich in extremen Abenteuersituationen behaupten, ist eine sehr positive Leseerfahrung und kann Trost spenden oder Hoffnung vermitteln. Dabei noch ganze Welten mit seiner Fantasie zum Leben zu erwecken, ist mehr als reine Weltflucht – auch wenn diese natürlich eine wichtige Rolle spielt. Hier können junge Leserinnen und Leser selbstbestimmt mit ihrer Vorstellungskraft spielen. Auch wenn sich die fantastischen, märchenhaften Elemente nur auf Teilbereiche der Geschichte erstrecken, das Fantastische also in die reale Welt einbricht, kann sich die junge Leserschaft Anregungen dafür holen, dass sich die Welt nicht im Rationalen erschöpft, dass es Dinge gibt, die darüber hinausweisen.
Katharina Hartwell: "Die Silbermeer Saga - Der König der Krähen"
Loewe Verlag, Bindlach. 616 Seiten, 19,95 Euro, ab 14 Jahren.
Katharina Hartwell: "Die Silbermeer Saga - Der König der Krähen"
Gelesen von Lena Münchow
audible GmbH, Berlin. 1089 Minuten, Abo für 9,95 Euro pro Monat, ab 14 Jahren.
Stefanie Gerstenberger: "Die Wunderfabrik – Keiner darf es wissen!"
Mit Illustrationen von Cornelia Haas
Fischer KJB, Frankfurt a.M. 245 Seiten, 15 Euro, ab 10 Jahren.
Stefanie Gerstenberger: "Die Wunderfabrik – Keiner darf es wissen!"
Gelesen von Carolin Sophie Göbel
Argon Verlag, Berlin. 502 Minuten, 16,95 Euro, ab 10 Jahren.
Ali Sparkes: "Die Nachtflüsterer - Die Verschwörung"
Aus dem Englischen von Manuela Knetsch
Hanser Verlag, München. 272 Seiten, 15 Euro, ab 10 Jahren.
Ali Sparkes: "Die Nachtflüsterer - Die Verschwörung"
Aus dem Englischen von Manuela Knetsch
Gelesen von Oliver Rohrbeck
Der Hörverlag, München. 297 Minuten, 10,95 Euro, ab 10 Jahren.
Frances Hardinge: "Schattengeister"
Aus dem Englischen von Alexandra Ernst
Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart. 476 Seiten, 22 Euro, ab 14 Jahren.
Benjamin Lebert: "Im Zeichen der Acht"
Arctis Verlag, Zürich. 324 Seiten, 19 Euro, ab 14 Jahren.
Benjamin Lebert: "Im Zeichen der Acht"
Gelesen von Laura Maire
Arctis Verlag, Zürich. 420 Minuten, 19 Euro, ab 14 Jahren.