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'Akzente', 4/2002: 'Tradition'

"Wir sind, um in einem Worte das ganze Elend auszusprechen, Epigonen, und tragen an der Last, die jeder Erb- und Nachgeborenschaft anzukleben pflegt. Die große Bewegung im Reiche des Geistes, welche unsre Väter ...unternahmen, hat uns eine Menge von Schätzen zugeführt, welche nun auf allen Markttischen ausliegen."

Michael Braun | 26.09.2002
    Diese folgenschweren Sätze stammen von Karl Immermann, einem heute vergessenen Schriftsteller der Goethezeit. Mit seinem Roman "Die Epigonen" bürdete Immermann 1836 seinen Zeitgenossen und der literarischen Nachwelt ein entsetzliches Schicksal auf. Denn seither quälen sich die Dichter mit dem Bewusstsein, die "große Bewegung im Reich des Geistes" verpasst zu haben und auf ihrem ureigenen Terrain immer nur Epigonen zu sein, literarische Nachzügler und Spätlinge, die zwangsläufig hinter den großen Lichtgestalten der Tradition zurückbleiben. Alle Jahre wieder wird dieses Leiden am Epigonentum mehr oder weniger kokett vorgetragen. So auch im aktuellen August-Heft der Literaturzeitschrift Akzente, das einen aufschlussreichen Paradigmenwechsel in der Gegenwartsliteratur markiert.

    Helmut Krausser würzt hier sein Epigonen-Evangelium mit sehr viel Selbstbewusstsein, gilt es hier doch, sich in eine literarische Traditionslinie mit den ganz Großen der Zunft - in diesem Fall Sandor Marai und Ernst Jünger - einzuschreiben. War man soeben noch von Pop-Schriftstellern umzingelt, die sich an der narzisstischen Affirmation gegenwärtiger Lebenswelt begeisterten, so folgt nun die Gegenbewegung, das emphatische Bekenntnis zur literarischen Tradition. Man liest das nicht ohne eine gewisse Verwunderung, wird dieses Bekenntnis doch auch von Autoren vorgetragen, die sich bislang eher für das Abräumen von Traditionen zuständig erklärt hatten. Die Aktivierung des literarischen Gedächtnisses, wie sie hier in den Beiträgen von Helmut Krausser, Michael Lentz oder Norbert Niemann eingefordert wird, führt zu höchst unterschiedlichen Resultaten.

    Wenn etwa Michael Lentz an einem literarischen Antipoden kratzt, dem überlebensgroßen Thomas Mann, dann schwankt der Text zwischen Trotz, grimmiger Selbstbehauptung und ehrfürchtiger Reminiszenz. Nicht ohne selbstironische autobiographische Seitenblicke begründet Georg M. Oswald sein fortdauerndes Interesse an Jean Paul Sartre und dessen Kategorie des "Engagements". In den siebziger und frühen achtziger Jahren hatte man den Begriff "Engagement" ja bis zur Unbrauchbarkeit vulgarisiert - nun bemüht sich Oswald um erste vorsichtige Ansätze zur Rehabilitierung dieser Kategorie. In einem Essay über den Liebesroman entwickelt Norbert Kron die interessante These, dass es nach der Epoche schrankenloser sexueller Liberalisierung für den modernen Schriftsteller nur noch ein Tabu gibt: "die Idee der Selbstaufopferung". Das entfesselte Begehren habe alle literarischen Grenzen gesprengt - dieser Welt des schrankenlosen Konsumismus, so Kron, ist nichts fremder als der Gedanke des Verzichts.

    Der mit Abstand selbstbewussteste und bildungsstolzeste Beitrag des "Akzente"-Heftes stammt von Gustav Seibt, der hier seinen privaten Bildungsroman schreibt. Schon der fünfzehnjährige Abkömmling eines protestantischen Elternhauses studierte große Geschichtswerke über das Mittealter, las nur wenige Jahre später die komplette fünfzehnbändige Goethe-Ausgabe, während seine Altersgenossen an das Fernsehen verloren gingen. Zu Seibts feierlicher Abhandlung über das stille Glück des Lesens passt wiederum eine Sentenz von Sartre: "Wenn die Literatur nicht alles ist, ist sie nicht der Mühe wert."