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Albert Ostermaier
Neuauflage einer literarischen Figur: "Lenz im Libanon"

In dem Roman "Lenz im Libanon" orientiert sich der Romancier und Lyriker Albert Ostermaier an der literarischen Figur von Georg Büchner. Diese Figur steht für eine umfassende Krisenerfahrung des Menschen. Ostmaier fragt fast 200 Jahre später, inwieweit sich die Literatur den politischen Konflikten der Zeit stellt und mit welcher Sprache.

Von Carola Wiemers | 23.11.2015
    Die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann konstatiert 1960 in ihrer Frankfurter Vorlesung "Das schreibende Ich" eine wichtige Veränderung. Sie beobachtet, dass sich das Ich "nicht mehr in der Geschichte aufhält", sondern "die Geschichte im Ich". Das Ich – also auch das schreibende - sei ortlos geworden – ein "Ich ohne Gewähr".
    Albert Ostermaiers Roman "Lenz im Libanon" scheint an dieser Schnittstelle anzusetzen. Sein Protagonist, ein Schriftsteller in der Krise, verlässt überstürzt Deutschland und begibt sich nach Beirut. Es ist die Stadt seiner "Sehnsüchte", der "Sinnlichkeit", aber auch der Kriege und "Brandwunden". Alles was in ihm wütet, ähnelt dieser Stadt.
    "Hätte er ein Wort für Utopie finden sollen, seine Utopie, ein Wort für die Stadt, die aus seinem Inneren kam, die in ihm tobte, die er beschreiben wollte, die er mit seiner Sprache durchziehen, durchstreifen wollte, er hätte Beirut gesagt. (...) Diese Stadt ist gefährdet wie ich."
    Ostermaiers Lenz treibt - wie seinen Namensvetter aus Georg Büchners berühmter "Lenz"-Novelle - etwas um, das außerhalb des Sagbaren virulent ist. Beide Figuren markieren eine zeitgeschichtliche Zäsur totaler Entwurzelung.
    Doch während bei Büchner das Schicksal des Schriftstellers Jakob Michael Reinhold Lenz zum Sinnbild einer umfassenden Krise des Künstlers als die der menschlichen Kreatur wird, ist sich Ostermaiers Lenz - der als das alter ego des Autors zu verstehen ist - physisch wie seelisch längst abhanden gekommen.
    "Lenz hasste Körperkontakt. Kontakt mit jedem Körper, er hatte keinen Kontakt zu seinem Körper, wie hätte er andere Körper ertragen können, die Kontakt zu ihm suchten. Diese Menschen, die einen andauernd berühren mussten, beklemmten ihn, lösten bei ihm Platzangst aus. Ihm war, als wollten sie unter seine Haut kriechen [...]."
    An der Seite zweier schattenhaft wirkender Libanesen: Dem Kriegsfotografen Samir und Kassir, den er "Cicerone" nennt, hetzt er orientierungslos und wie von Sinnen durch Beiruts Straßen.
    In einem rasanten Zeitrafferprinzip Ostermaierscher Sprachkaskaden wird Lenz aus dunklen Bars mal in ein Flüchtlingslager, mal ins syrische Grenzgebiet katapultiert. Sprachlos sitzt er inmitten aggressiver Wortgefechte über Religion, Gewalt, Freiheit. Als er im Fernsehen den Videomittschnitt einer Hinrichtung sieht und nicht abschalten kann, fühlt er sich wie ein "dreckiger Voyeur", der am Abgrund des Wahnsinns steht.
    "Weil ein Brite einen Amerikaner hinrichtete in der irakischen Wüste, in einem Krieg, den Amerika begonnen hatte, in dem britische Muslime in den Krieg zogen, Amerikaner und Briten, jeden abschlachten wollten, der anders war, anders glaubte, anders lebte, anders dachte."
    Warum, so fragt man sich, verschlägt es diesen Lenz in den "Melting Pot" Beirut. Was für ein Selbstversuch soll hier statuiert werden?
    Hatte er sich nicht schon vor seiner Ankunft im Libanon in jeder Hinsicht aufgegeben.
    "Ich musste von zuhause fliehen, vor mir selbst fliehen, ein Flüchtling, der vier Millionen und erste Flüchtling, ausgewiesen aus seinem Ich."
    Er braucht die Gerüche des Orients, den Brandgeschmack auf der Zunge und die harten Tatsachen der Bilder, um sich wieder spüren zu können.
    "Als er in das Taxi stieg und bei offenem Fenster in die Mündung des MG blickte, spürte er, dass es die Gefahr war, die er gesucht hatte. Eine Gefahr, die hier noch keine war, Vorsichtsmaßnahmen, Routine, Beruhigung, Alltag des Ausnahmezustands."
    Doch die Stadt macht Lenz "einen Strich durch seine Wahrnehmung". In Beirut versagt ihm alles. Ratlos beobachtet er die Menschen, die sich nicht wegbuchstabieren und in plots verwandeln lassen, tauglich für einen Roman oder wenigstens ein Gedicht.
    Beim Versuch, etwas zu schreiben, um zur Ruhe zu kommen,
    "Strich er wieder durch, übersäte das Blatt mit Pfeilen, mit Worten am Rand, mit Hinweisen auf das, was fehlte, was nötig war."
    Das Anliegen des Autors scheint in einem der vier Zitate auf, die dem Roman vorangestellt sind, das aus Büchners Erzählung stammt. Darin ist von der "Gefühlsader" die Rede, die "in fast allen Menschen gleich" sei, man müsse nur "Aug und Ohren dafür haben" – die Sinne für eine Realität schärfen, die nur scheinbar in der Ferne liegt. So schreibt sich der Text in vielen Passagen an Büchners "grässlichen Fatalismus der Geschichte" entlang, zum Beispiel, wenn es heißt:
    "Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt? Was ist das in uns, das twittert, liked, Selfies schießt, das chattet, surft, followt? Was ist das in uns, das hurt, betrügt, verfügt? Was ist das, das wegschaut, das übersieht, das offenen Auges die Augen verschließt? Was ist das in uns, das Schlimmste von allem: gleichgültig."
    Ostermaier überzeugt in jenen Passagen, wo sein Protagonist versucht, im Schreiben der existentiellen Not zu entkommen. Oder wenn er eine Liebesgeschichte aus der arabischen Welt hört und das Staunen über ein Erzählen zurückkehrt, das sein eigenes Unvermögen erkennen lässt. Die wahnsinnig aufgeladene Wort-Raserei wirkt plötzlich gedrosselt und Lenz wird von einer stillen Ruhe erfasst.
    Aber auch in der Überblendung von verschiedenen Text- und Bildwelten gelingt es dem Autor, die Zerreißprobe, in der sich Lenz befindet, spannungsreich einzufangen. So etwa als er von der Geliebten per SMS Abschied nehmen will.
    "Lenz öffnete das nächste Bild, er hatte Panik, Samir könnte es sehen. Sie sandte ihm eine Rasierklinge. Samir lachte laut auf. 'Ihr habt mir meine ganze Konzentration ruiniert mit eurem Gerede.' 'Was willst du denn', brüllte Lenz in sein iPhone und sah darauf sofort Samir an, wiederholte seine Frage, als läge die Antwort auf seine Fragen in der Antwort. 'Auf dem nächsten Bild wirst du die Wunde sehen.'"
    Er entfernt sich allerdings von Büchners erschütternder Klage über die Unfreiheit und Unvollkommenheit des Individuums durch seine mitunter platt wirkenden moralisierenden Kommentare.
    "Lenz dachte sich, ich bin ein luxussüchtiger, dekadenter, verlogener, doppelmoraliner Feigling, ein konsumgeiler Waschlappendeutscher."
    Ostermaiers Figur verliert dabei an Glaubwürdigkeit und verkümmert zum Lenz-Rudiment. Bleibt zu ahnen, dass es dem Autor um das elementare Elend des ohne jegliche Versicherung in der Welt Herumirrenden geht.
    Das fasste Peter Waterhouse bereits 1984 in der Wortschöpfung "Menz": "Man kann / sagen: Mensch." - "Oder es ist zu sagen: Menz. / Lebte hin so er" – und er benannte damit ein zutiefst gegenwärtiges Menschheitsproblem.
    Albert Ostermaier: "Lenz im Libanon", Roman, Suhrkamp Verlag 2015, 190 Seiten, 19,95 Euro.