Der über 80-jährige Alexander Kluge ist immer noch ein Tausendsassa. Seit er vor mehr als zwanzig Jahren aufgehört hat, Filme fürs Kino zu drehen und nur noch mit Eigenprogrammen im Fernsehen auftritt, hat er sich wieder hauptsächlich der Literatur verschrieben.
Dabei hatte der Kopf des Neuen deutschen Films, der mit preisgekrönten Filmen wie "Abschied von gestern” oder "Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos” international reüssierte, 1962 und 1964 mit seinen "Lebensläufen” und dem Roman "Schlachtbeschreibung” als eigenwilliger Erzähler dokumentarischer Stoffe literarisch debütiert.
Zwar hatte er auch während seiner Zeit als bundesdeutscher Filmregisseur die literarische Produktion nicht vernachlässigt, aber seit der Jahrtausendwende und seinen Siebzigerjahren überraschte er fast jedes Jahr mit einer neuen Folge ebenso filigraner wie rätselhafter, sowohl anekdotischer als auch hintergründiger Geschichten.
Diese 100-seitigen Erzählbände könnte man als Erinnerungskonzentrate deutscher Geschichte bezeichnen. Obwohl Kluges spröde Poesie von Fakten und Fiktionen jedes fabula docet meidet und dramatische Pointen verschmäht, steht seine fruchtbare serielle literarische Produktion in der späten Nachfolge des rheinischen Hausfreundes Johann Peter Hebel.
Nun hat Alexander Kluge erneut ein Erzählbuch vorgelegt. Diesmal ist es ein schmaler Band, der auf 112 Seiten "48 Geschichten für Fritz Bauer” enthält. Sie sind dem 1968 in Frankfurt am Main gestorbenen Hessischen Generalstaatsanwalt gewidmet. Fritz Bauer, der in Kluges "Abschied von gestern” mitwirkte, hat sowohl den ersten Auschwitz-Prozess in Frankfurt initiiert, als auch den Israelis den Aufenthaltsort Adolf Eichmanns verraten, weil er der bundesdeutschen Justiz zurecht nicht über den Weg traute. Kein Wunder, dass der mutige und einsame Ex-Emigrant Bauer, den der langjährige hessische SPD-Ministerpräsident Georg August Zinn berufen hatte, unter seinesgleichen Juristen verhasst war. Bekannt ist Fritz Bauers bittere Bemerkung: "Wenn ich mein Dienstzimmer verlasse, betrete ich feindliches Ausland”.
Was Kluge nach einer einleitenden autobiografische Reminiszenz über Fritz Bauers Beerdigung 48 Mal erzählt, hat weder die Person oder das Leben Bauers zum Gegenstand, noch bezieht es sich auf ihn. Auch spricht nichts dafür, dass der Schriftsteller etwa aus dem Fundus Bauerscher Recherchen geschöpft hat, als er sich nun auf seine Art mit einem Thema beschäftigt, das er bislang weitgehend gemieden hatte: dem Holocaust beziehungsweise nazibürokratisch: "der Endlösung der Judenfrage”.
Die respektvolle Erinnerung an den Humanisten Fritz Bauer ist es, die den Adorno-Schüler Alexander Kluge ermutigt hat, nun als Erzähler in der Beobachtung und Erinnerung des "monströsen Verbrechens” nicht zu erlahmen. Bauer habe einmal befürchtet, es gebe "gespenstische Fernwirkungen” & "nicht-kausale Netze” zwischen Vergangenheit und Gegenwart & den "Attraktoren des Bösen und uns”, schreibt Kluge in einer Nachbemerkung. Sie dürften nicht "wirkmächtiger werden als unsere Erfahrung”.
Unter diesem Widerstandsimperativ sieht Kluge seine fiktionale Bearbeitung von Geschichte und Geschehen in den achtundvierzig Notaten unterschiedlichen Charakters. Meist sind die Geschichten nicht länger als eineinhalb Seiten und berichten von Vorfällen, Ereignissen, Geschehnissen und Anekdoten während des Zweiten Weltkriegs im Machtbereich des Deutschen Reichs.
Nur einmal gibt Kluge einen deutlichen Hinweis auf die Herkunft des Stoffs, an dem sich seine spekulativ-erzählerische Fantasie entzündet hatte, als er unter dem Titel "Ein später Sieg des Spartakus” die gelungene Flucht einer kleinen Gruppe von KZ-Häftlingen aus dem Vernichtungslager Sobibor unter der logistischen Leitung Alexander Petscherskis, des Sohns eines jüdischen sowjetischen Spartakisten, erzählt. Diese optimistische Fantasie über die historische Person Petscherski hat Kluge aus einer Bemerkung des Holocaust-Historikers Saul Friedländer in dessen Studie "Die Jahre der Vernichtung” erzählerisch entwickelt.
In allen anderen Fällen, die meistens tragisch enden, verschweigt Kluge Herkunft und Motivation für seine künstlerischen Beschäftigungen auf dem Gelände dessen, was sein philosophischer Lehrer Theodor W. Adorno mit dem Wort "Zivilisationsbruch” als in- und ahuman stigmatisiert hatte. Bis in den sprachlichen Gestus hinein imitiert Kluges Prosa semantisch-argumentativ die Kälte, Mitleidslosigkeit und Abstraktheit der bürokratischen oder wissenschaftlichen Verfügungsgewalt, die im Holocaust an der Tagesordnung war.
Wer davon als Leser ein Wort einfühlenden Trostes erwartet, hätte in Kluges und Adornos Augen das Prekäre einer Ästhetik nicht verstanden, die ihrem poetischen Gegenstand adäquat zu sein versucht.
Alexander Kluge: "Wer ein Wort des Trostes spricht, ist ein Verräter. 48 Geschichten für Fritz Bauer"
Suhrkamp-Verlag, Berlin 2013. 113 Seiten, 16,95 Euro.
Suhrkamp-Verlag, Berlin 2013. 113 Seiten, 16,95 Euro.