Alexander Osang: Und ein dritter entscheidender Grund ist, dass ich ein paar Sachen über mein Leben sozusagen erzählen wollte, die ich jetzt nicht in irgendwelchen bekenntnishaften Essays verpacken, sondern über Romanfiguren transportieren wollte. Also, viele dieser Probleme dieses Helden, der aus dem Osten in den Westen geht, kenne ich natürlich am eigenen Leibe: die Zweifel, die Unsicherheiten, all diese Sachen, der, sagen wir einmal, Blick zurück in den Nebel. Und all diese Sachen sind mir nicht ganz unvertraut. Auch die Eigenschaften anderer Charaktere in diesem Buch, die Wut der "Spiegel"-Reporterin, die auch aus dem Osten kommt, auf ihre Landsleute, das kenne ich alles, und die Träume dieses versoffenen Lokalreporters aus Neubrandenburg, endlich die große Geschichte zu schreiben, sind mir auch nicht ganz unvertraut. Diese Sachen wollte ich eben auch mal loswerden.
Alexander Osangs Roman "Die Nachrichten" ist tatsächlich ein schillerndes Gesellschaftspanorama der Spätneunziger Bundesrepublik geworden, eine stürmische Fahrt in ein Biotop politisch-kultureller Wirrungen. Aufgefädelt wird der Plot am Aufstieg und Fall des Nachrichtensprechers Jan Landers, der aus dem Osten stammt und sich für den dauerhaften Erfolg im Allerheiligsten der westdeutschen Medienwirklichkeit eine hemmungslose Anpassungskur verordnet. Absolut treffsichere Beobachtungen gerinnen bei Osang teilweise zu satirischen bis kolportagehaften Episoden, die höchstes Vergnügen bereiten, wie eine Lesung in der Berliner Volksbühne belegt. Osang schildert hier eine schicke Hamburger Party, wo sich die beiden Ostler Jan und Roland begegnen.
Da standen sie nun. "Sonja sagt, du bist auch aus, äh, Berlin", sagte Ronald. "Ja." Sonja dachte wirklich an alles. Sie hatte einen Ostler für ihn aufgetrieben, dachte Landers. Jemanden zum Spielen. Ilona sah ihn spöttisch an, aber er spielte einfach mit. "Und wo kommst Du her?" "Ich bin in Johannisthal geboren." "Ich bin auch aus dem Osten", sagte Landers. "Ich bin 1986 geflohen", sagte der Typ. Auch das noch. Landers fühlte sich unter Druck. Er war nicht abgehauen, was in solchen Momenten irgendwie schuldig wirkte. "Und was machst Du so", fragte Landers. "Ich meine, jetzt?" "Ich schreibe", sagte der Typ. "Und für wen?", fragte Landers. Er kam sich vor, als würde er ein Verhör führen. "Für mich", sagte Ronald und lächelte nachsichtig. Wieso dachten die Westler eigentlich immer, die Ostler würden sich alle verstehen. "Klar", sagte Landers und bat Ronald, seine Fluchtgeschichte zu erzählen, um ein bisschen Ruhe vor ihm zu haben.
Alles könnte so wunderschön im Leben des arrivierten Nachrichtensprechers Jan Landers weitergehen, wenn es da nicht eine "Spiegel"-Anfrage bei der Stasi-Behörde gäbe. Osangs Held kommt ins Schleudern, muss zurück zu dem, was er hinter sich gelassen glaubte – zu seiner Vergangenheit. Nun wird es sehr spannend, der Roman gewinnt Züge eines Krimis. Ohne voneinander zu wissen, zerren grundverschiedene Spielfiguren am eigenen wie am Schicksalsstrang des Jan Landers. Dessen Aufstieg indes erweist sich am Ende als unaufhaltsam. Denn die Stasi-Vorwürfe versanden, die Assimilation kann weitergehen. Der Autor macht unausgesprochen klar, dass die ungeheuer selbstbewusst zur Schau gestellte Anpassung in den von ihm genüsslich ausgebreiteten Milieus als Schmieröl im Karrieregetriebe unverzichtbar ist. Dies hat man zwar schon gewusst, aber so universell noch nicht gelesen. Die nicht mehr existierende Ostberliner "Wochenpost" hat einmal geschrieben, Osang sei ein Mensch, der den Osten hinter sich gelassen habe, ohne im Westen schon richtig angekommen zu sein. Seinen Lesern wäre zu wünschen, dass sich diese Ankunft noch etwas verzögert. Ansonsten würde man möglicherweise auf Gedankenspiele verzichten müssen, die Nachrichtensprecher Jan Landers anstellt, als er den Tod des ostdeutschen Schriftstellers Erwin Strittmatter um 20.13 zum deutschen Fernsehvolk trägt.
"Strittmatter gehörte zu den erfolgreichsten ostdeutschen Schriftstellern", sagte Landers. Er hatte ‘ostdeutsch’ gesagt, laut und deutlich. Ost nicht Sst. Vorhin, als er sich die stramplerfarbenen Blätter aus dem Großraum des Sendeteams Wort geholt hatte, als er getroffen worden war von der Nachricht, die er zum ersten Mal las, hatte er kurz gestutzt, als er dieses ‘ostdeutsch’ gelesen hatte. Das Gefühl des Verlustes, den die anderen hier nicht empfinden würden, hatte ihn aufmüpfig gemacht. Martin Walser war ja auch nur deutsch. Dann hatte er eine kleine Wellenlinie unter die drei Buchstaben gemalt. Ein neues Symbol. Es sollte ihn daran erinnern, das ‘Ost’ unterzubetonen. Er wollte es verschleifen, anschleifen, Ssst-deutsch - eine sinnlose kleine Geste. "Zu seinen bekanntesten Werken zählen die Trilogien ‘Der Laden’ und ‘Der Wundertäter’, in denen er wie kein anderer das Leben auf dem Lande in der ehemaligen DDR beschrieb. Erwin Strittmatter starb am 31. Januar nach schwerer Krankheit. Er wurde einundachtzig Jahre alt", sagte Landers. Ehemalige DDR, das Leben auf dem Lande. Er hat es versaut. Er hatte den Toten zu einem Dorfdeppen aus der Zone gemacht. Wahrscheinlich hielten die Fernsehzuschauer im Westen Strittmatter jetzt für einen schreibenden LPG-Vorsitzenden. Das schwarz-weiße Porträt von Strittmatter rechts oben neben ihm verschwand. Landers war wieder allein. Das Wetter lief.
Jürgen Balitzki über Alexander Osang: Die Nachrichten. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main , 446 Seiten zum Preis von 39,90 DM.