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Alexander Pechmann: "Im Jahr des schwarzen Regens"
Bericht aus einer osmanischen Schlangengrube

In seinem Roman „Im Jahr des schwarzen Regens“ feiert Alexander Pechmann den klassischen Abenteuerroman. Historisch fundiert erzählt er über Liebe, Lüge und Korruption in der einstigen Handelsmetropole Smyrna im Osmanischen Reich.

Von Cornelius Wüllenkemper | 17.11.2021
Ein Portrait des Schriftstellers Alexander Pechmann und das Cover des Roman " Im Jahr des schwarzen Regens"
1816 erreichte Jane Austen die Nachricht über den Untergang der Fregatte ihres Bruders Captain Charles Austen vor Smyrna. Den Sturm vor der Handelsmetropole des Osmanischen Reichs hatten Austen und seine Mannschaft zwar überlebt, mussten aber im Reich des Sultans auf ein Ersatzschiff warten. In Smyrna trafen damals nicht nur Moslems, Juden und Christen, sondern auch die Machtinteressen des osmanischen Sultans und der europäischen Handelsmächte aufeinander. Alexander Pechmann hat aus diesem Stoff einen fiktiven Abenteuerbericht von Charles Austen an seine Schwester Jane verfasst.
„Verzeih, liebe Schwester, einem alten Seemann seinen Hang zur Übertreibung und seinen Mangel an Zartgefühl! Ich will in den nächsten Tagen und Wochen versuchen, alles so aufzuschreiben und zu erzählen, als würden wir des Abends zu Hause am Kamin sitzen, in der Hand eine Tasse Tee oder besser noch heißen Grog, gewürzt mit Zimt und Nelken. Harriet und Cassy werden es für ein Märchen halten, was es im Grunde auch ist, denn es handelt von einer verzauberten Stadt, in der es nicht mit rechten Dingen zugeht, und von einem Unhold, der die Schätze derjenigen Menschen vermehrt, die ihm ein gottloses Opfer darbringen.“

Viel historisches Kolorit

„Mit rechten Dingen“ geht es im Folgenden wahrlich nicht zu. Mit viel historischem Kolorit erzählt Pechmann in einem eng an Mary Shelley, Lord Byron und Sir Walter Scott angelehnten Stil eine Geschichte über politische Intrigen, wirkmächtige Volksmythen und rücksichtsloses Machtstreben. Der „Unhold“ der Geschichte ist Smyrnas Gouverneur Katipzade Mehmet Bey. Er räumt den europäischen Handelsmächten Vorteile und Freiheiten ein - für bestimmte Gegenleistungen und machterhaltende Unterstützung.
„Was wäre der Gouverneur ohne die Janitscharen, die er bezahlt, ohne die Richter, die er besticht, ohne die Beamten, die er erpresst, ohne die Handelsfirmen, denen er Vorteile verschafft – eine Spinne ohne Netz. Und was wären sie ohne ihn – ein Netz ohne Spinne.“
Diese Worte legt Pechmann dem deutsch-baltischen Forschungsreisenden Otto Friedrich von Richter in den Mund, der 1816 tatsächlich in Smyrna weilte. Im Roman erläutert Richter allerlei Wissenswertes zu Geschichte und Gegenwart der multikulturellen Handelsmetropole, in der die religiösen und nationalistischen Konflikte des 20. Jahrhunderts bereits gären. Kapitän Austen bahnt sich derweil als hemdsärmeliger Ehrenmann der britischen Marine unerschrocken und aufrecht seinen Weg durch die Schlangengrube.

Wunderliche Geschichten und lokale Potentaten

Von hochkorrupten Beamten will er möglichst bald die Erlaubnis für die Evakuierung seiner Mannschaft erwirken. Windige Geschäftsleute, eine jüdische Witwe, die Smyrnas Gouverneur des Mordes an ihrem Mann und ihrer Tochter beschuldigt, eine Sängerin und Volksheldin, die sich in ihren Liedern öffentlich über die bigotten Machthaber mokiert - Kapitän Austen trifft auf allerhand wunderliche Geschichten, volkstümliche Figuren und lokale Potentaten.
Erst gestern traf ich einen türkischen Goldschmied, der seinen Reichtum verschenkte, um bei einem Sufi-Meister in die Lehre zu gehen. Ich sprach außerdem mit einem Griechen, dessen Eltern von einem türkischen Mob ermordet wurden und der sich dennoch weigert, die Türken zu hassen. Ein Rabbi empfing mich so herzlich, als gehörte ich zu seiner Familie, obwohl ich ihn nie zuvor gesehen habe und seinen Glauben nicht teile.“
Richtig Fahrt nimmt die gemächlich plätschernde Geschichte erst nach einem missglückten Attentat auf den Gouverneur von Smyrna auf. Ein Annexionsversuch der Briten, ein Unabhängigkeitsputsch der griechischen Minderheit, oder eine Revolte von den eigenen Leuten? Fragen nach der Wahrheit verlaufen sich stets in Gerüchten, die von irgendwem gestreut und begierig weitergesponnen werden - kleine Geschichten auf der Bühne der großen Geschichte.

Unterhaltsam für Liebhaber des Genres

„Im Jahr des schwarzen Regens“, betitelt nach der Eruption des indonesischen Tambora-Vulkans 1815, ist ein bis ins Detail stilgetreuer historischer Abenteuer-Roman, der so auch vor 150 Jahren hätte erscheinen können. Pechmann erzählt seine Geschichte aus der Zeit des europäischen Handelsimperialismus und der Minderheitenverfolgung im Osmanischen Reich als Bericht aus einer exotischen Wunderwelt. Das wirkt in der Ära der kritischen Vergangenheitsaufarbeitung zuweilen befremdlich aus der Zeit gefallen. Dem Autor deswegen einen Mangel an Geschichtsbewusstsein zu unterstellen, wäre dennoch überzogen. Denn er erzählt eine Geschichte voller Mythen und Wunder, die den zeit-historischen Kontext nur als Bühne nutzt, auf der er uns geheimnisvolle Gestalten und unerklärliche Begebenheiten vorführt. Für Liebhaber des Genres zumindest ist dieses sehr stimmungsvolle und etwas nostalgische Märchen über die historische Wirklichkeit eine unterhaltsame Lektüre.
Alexander Pechmann: „Im Jahr des schwarzen Regens“
Steidl Verlag, Göttingen, 272 Seiten, 24 Euro.